Landung im Regenwald
VIA LONDON
NACH
AUSTRALIEN
31. August 1998, Montag
Die Reise nach Australien hat begonnen! Noch habe ich keine Einstellung zu dieser Tour – ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich zum Barriere Riff unterwegs bin. Das kann doch gar nicht wahr sein, es ist eine Fata Morgana, ein Traum. Wie soll ich DDR-Mensch jemals im Leben in der Lage sein, um die halbe Welt, bis an das grösste Korallenriff der Erde zu reisen? Wie bekomme ich eine Ausreise, woher das viele (West-) Geld, wie komme ich als kleines Würstchen an eine solche Reise ran, wo doch alles streng kontingentiert und reglementiert ist !? Tausend Fragezeichen aus der Sicht eines DDR-Bürgers und überhaupt kein Problem in der Marktwirtschaft. Ist die Finanzierung eine solche Reise gesichert, ist alles weitere so einfach, dass man es kaum begreifen kann, wenn man in diesem Wirtschaftssystem nicht aufgewachsen ist: Gleich nach der Frage des Geldes kommt allerdings noch die Frage nach der freien Zeit: Wann kann ich mich wie lange von meinem Job verabschieden? Sind diese beiden Fragen geklärt, kann man reisen, wohin und solange man will. Man entscheidet sich für ein Reiseziel, informiert sich über das Internet, was so ein Flug auf dem ‚grauen Markt‘ höchstens kostet. Mit dieser Information geht man ins Reisebüro um die Ecke und sagt: ‚Ich bin bereit, bei Ihnen 100 DM mehr zu bezahlen, aber ich kann mir das Ticket ja auch über das Internet besorgen ...‘ So habe ich meinen Flug nach Australien gebucht. Natürlich braucht man heute in Deutschland auch kein Ausreisevisum mehr, dafür aber braucht man einen Reisepass und ein Einreisevisum. Man muss sich auch nicht um eine kontingentierte Reise bemühen. So ein Gedanke ist schon neun Jahre nach der Wende überhaupt nicht mehr vorstellbar! Natürlich kann man eine voll organisierte Reise mit Hotel, Ausflügen, Besichtigungen, Attraktionen und 24 Stunden Animation buchen. Aber man kann auch das Gegenteil machen: Man fliegt (wie ich) einfach mit Rucksack und Zelt los und entscheidet sich am Morgen, was man mit diesem schönen Tag anfangen will und am Abend sucht man sich eine Unterkunft oder schlägt sein Zelt auf. Sicher ist es ganz angenehm und nützlich, in Australien ein Auto zu haben, also bucht man eins, in das man schon am Flughafen einsteigen kann, sobald man gelandet ist. Sooo einfach ist das alles. Wenn man Geld und Zeit hat, muss man sich nur noch entscheiden, wohin man reisen will.
Ich habe mich für Australia entschieden. Conny hat so viel von Australien geredet (er will dort in ein paar Jahren studieren ...), dass ich mich vor ein paar Wochen gefragt habe, warum fliege ich denn eigentlich nicht mal als Quartiermacher für Conny und ganz einfach aus Spass nach Australien?! Für den Sommer 1998 hatte ich noch nichts vor. Den UL-Flugschein hatte ich mir verkniffen (... in meinem Alter nur ein Gag, aber keine sinnvolle Investition mehr ...). Mit Borneo hatte ich schon geliebäugelt, aber dort brannte monatelang der Regenwald. Also was mache ich mit der schönen Zeit bis zum Semesterbeginn? Das Barriere Riff war für mich ein absolut unerreichbares Traumziel, seit ich auf der Oberschule 1952 oder 1953 (bei Beranek ?) das erste Mal davon gehört hatte. So eine irre Landschaft zwischen Land und Meer, menschenleere Natur, Regenwald, endloser Strand, blauer, wolkenloser Himmel über Korallenriffen und klarem Wasser, tropische Inseln, der Anfang der legendären Südsee – gibt es eine schönere Gegend auf dieser Erde?
Anfang Juni dachte ich das erste Mal über eine solche Reise nach, 14 Tage später besorgte ich mir ein Flugticket (1900 DM hin und zurück) und ein Auto (Typ C, Klimaanlage, Automatik, 1350 DM für drei Wochen). In der vergangenen Woche verabschiedete ich mich bis Oktober vom Medienzentrum in Halle und am Wochenende von Conny und Peter. Heute morgen stieg ich um 8:30 Uhr in Stadtmitte in die U-Bahn nach Tegel ... und plötzlich ist es 20 Uhr und ich finde mich in London Heathrow wieder. Ich sitze im Terminal 4 vor einem grossen Fenster und alle 20 bis 40 Sekunden (!) startet vor mir eine grosse Maschine, kommt schräg auf mein Fenster zu, hebt ab, zieht über das Gebäude weg und steigt in den ruhigen Abendhimmel. Es wird dunkel, die Sonne ist schon untergegangen, hellblauer Himmel links, in Richtung des Sonnenuntergangs. Die Wolken malen schwarze Schatten in das helle Blau und Gelb. Auf der rechten Seite eine dunkle Wolkenwand. Die Nacht beginnt.
Um 12 Uhr Ortszeit bin ich von Berlin-Tegel kommend hier auf dem Terminal 1 gelandet. Ich habe extra viel Zeit für das Umsteigen in London eingeplant (natürlich kann man auch das selber festlegen), weil ich es hasse, bei solchen Anschlüssen keine Reservezeit zu haben. Das ist für mich Stress, dem man aus dem Wege gehen kann. Ausserdem wollte ich gerne noch in London einen Spaziergang machen, wenn ich nun zufällig schon mal hier bin. Zuletzt war ich mit Helga in London. Ist das drei, vier oder schon fünf Jahre her? Ich weiss es nicht.
In Tegel wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich am Terminal 1 lande, aber am Terminal 4 weiter fliegen werde. Dort hat man mir schon die Bordkarten bis Singapore ausgehändigt. Ich folge also dem Leitsystem, das wird mich schon zum Terminal 4 bringen. Ich weiss auch, dass man mit dem Bus fahren muss, man kann nicht laufen, es ist zu weit. Ich gehe durch einen Sicherheitscheck: ‚Bitte den Rucksack in den Röntgenapparat! Und Ihre Gürteltasche auch!!‘ Das gefällt mir gar nicht: Da sind alle Dokumente und das ganze Geld drin. Aber natürlich muss man sich hier fügen. Die Durchleuchtung bringt nichts und der mannshohe Rahmen, den ich passieren muss, schlägt auch nicht Alarm. Ich hole mein grosses Taschenmesser (110 mm feststehende Klinge ...) aus der Hosentasche und frage die Sicherheitsbeamten: ‚Meine Gürteltasche ist für Sie ein Problem, aber mein Messer nicht?!‘ Begeisterung bei den Aufpassern! Natürlich ist das ein Problem. Das Messer soll konfisziert und mir in Cairns wieder ausgehändigt werden. Bei dem Gespräch aber stellt sich heraus: Hier geht es überhaupt nicht zum Terminal 4 (obwohl das Leitsystem das anzeigt). Ich muss ‚ausreisen‘, mit dem Bus fahren und im Terminal 4 wieder ‚einreisen‘. Ich bekomme das schöne Messer zurück, dieses Sicherheitsproblem ist vertagt. Ich stecke das Messer jetzt und bei jedem künftigen Sicherheitscheck in meinen kleinen Rucksack neben den Fotoapparat: Nicht einmal ist es den Kontrolleuren später an den Monitoren aufgefallen ...
Ich fahre zum Terminal 4. Herrliches Wetter, schöne Wolken, Sonne, warm. Ich lasse meinen kleinen Rucksack in der Gepäckaufbewahrung (in Memoriam Stefan: Bangkok 1996) und fahre mit der Underground in die City. Das Tagesticket, mit dem ich 24 Stunden U-Bahn fahren kann, kostet 4.30 Pfund, fast genau 12 DM. Der ‚Heathrow Express‘ (wahrscheinlich ein Schnellbus) kostet 10 Pfund hin und wieder 10 Pfund zurück ... Die U-Bahn kannte ich noch: Schnell, unkompliziert, klare Linienführung, man weiss immer, wo man ist. Eine schöne Computergrafik zeigt ‚Above Underground‘: Was ist wo über der U-Bahnstrecke. Sehr geschickt. Ich steige in der Knightsbridge-Station aus, als ich die Reklame von Harrods sehe und gehe durch dieses riesige Kaufhaus, eine Institution in London. Der Union Jack auf dem Dach des Hauses auf Halbmast. Heute vor einem Jahr ist die Princess of Wales, Lady Diana, mit ihrem Freund Dodi in Paris verunglückt (seinem Vater, einem Ägypter, gehört heute das Kaufhaus zum Entsetzen des alten Adels ...). Halbmast auch auf allen öffentlichen Gebäuden. Mehr aber nicht. Keine Trauer- und Blumenorgien, wie vor einem Jahr. Ich will hier nichts bestimmtes kaufen, ich suche nichts, höchstens einen ganz leichten Seidenschal für meinen zugempfindlichen Hals. Aber mir sticht nichts ins Auge. Das ganze Kaufhaus hier ist britisches Understatement: Hohe und höchste Qualität, gediegen, zurückhaltend, teuer. Und es hat Stil, das Haus und das Personal. Da fehlt noch viel, bevor das KDW in Berlin kommt. Ein Seidenschal soll 89,90 Pfund kosten. Den Schal, den ich jetzt in der Tasche stecken habe, ist aus Polyester und aus der DDR. Vielleicht habe ich ihn mal zu einem EVP (Einzelhandelspreis) von 3,60 M gekauft. Ich würde den Seidenschal hier auch für 250 DM nehmen, wenn er mir gefallen würde. Das tut er aber (Gott sei Dank) nicht.
Ich verlasse Harrods, gehe in der Gegend etwas spazieren und steige dann wieder in die U-Bahn und fahre zum Piccadilly Circus. Von dort laufe ich in Richtung Big Ben und finde mich unverhofft im St. James Park wieder. Grosse, alte Bäume, Wiesen voller Menschen, ein See mit schwarzen Schwänen, Eichhörnchen fressen aus der Hand. Ich esse ein Sandwich, Kuchen und Kaffee (5,50 Pfund). Sehr gut. Den Kuchen schaffe ich nicht mehr, ich nehme ihn mit und habe ihn vor einer Stunde hier im Terminal 4 als Abendbrot verspeist. Gegen 15:30 Uhr komme ich an der Downingstreet Nr. 10 vorbei – Tony Blaire verzichtet auf meine Beratung. Sehr gut, denn das hätte meinen Zeitplan gesprengt. Dann Big Ben und die Themse. Ich laufe über die Brücke bei Big Ben, biege dahinter nach links ab, der Thames Path. Eine schöne Promenade, am Montag bei Sonntagswetter voller Menschen. Ich laufe in Richtung Tower Bridge. Sonne, angenehme Temperaturen, ein Spaziergang ohne jedes Gepäck: Herrlich ist das Leben! Hier bin ich mal allein bis zur Tower Bridge gelaufen, Helga hatte keine Lust. Ich entdecke bei der Bankside das nachgebaute Shakespeare-Theatre: Interessant! Durch einen Türspalt kann ich eine Probe beobachten. Ich laufe über die Southwark Bridge wieder auf die andere Seite der Themse. Von dieser Brücke kann man gut die Tower Bridge sehen, aber gerade nicht mehr Big Ben, die Themse macht einen zu grossen Bogen. Cannon Street, Fleet Street. Warum ist hier alles zu, warum sind hier keine Menschen auf der Strasse, es ist doch erst 16:20 Uhr? Ich laufe durch die bekanntesten Strassen von London, jetzt sind sie menschenleer. Bei der St. Pauls Cathedral, einem imposanten Bau, wechsle ich die Strassenseite, gehe in die Kathedrale. Um 17 Uhr beginnt der Gottesdienst. Mit Leselampen über dem Chorgestühl, einem Knabenchor, der im Sitzen singt und ohne Orgel. Die Kirche wurde 1945 von deutschen Bomben schwer zerstört. Die Orgel fehlt immer noch, ein Harmonium kann sie nicht ersetzen. Aber diese Knabenstimmen !!! Phantastisch. Ich höre mir das 20 Minuten an. Wirklich beeindruckend, aber ich muss gehen, ich habe keine richtige Ruhe. Vorbei am Trafalgar Square, so viele Menschen hier wieder! Und so ein schöner Platz mit Brunnen in der Abendsonne. Dann bin ich wieder beim Piccadilly Circus. Ich laufe einmal um den Platz herum. Hier finde ich den Schal, der mir gefällt und er kostet nur 12.99 Pfund ... aber er ist auch aus Polyester, diesmal aber Made in India.
Um 18 Uhr sitze ich wieder in der Underground und fahre zurück zum Airport Heathrow, Terminal 4. Heute ist in London Feiertag, ich habe mich erkundigt. Nein, mit Lady Di hat er nichts zu tun. Was es aber für ein Feiertag ist, habe ich nicht verstanden.
In Heathrow bekomme ich für 2,50 Pfund meinen Rucksack wieder. Ich suche mir diesen schönen Fensterplatz hier, esse etwas und schreibe. Englisches Geld habe ich nicht mehr: 50 DM, ungefähr 14 Pfund sind schnell weg und den Schal habe ich schon mit der Kreditkarte gekauft. So einfach und schnell kann man sich auch teurere Dinge kaufen (z.B. eine digitale Breitling für 1100 Pfund ...), wenn man es sich leisten kann. Plastikgeld ist überall willkommen und es gibt sich so leicht aus ...
Wo ist das Gate für den Flug nach Singapore? Langsam wird es Zeit, dass ich mich auf den Weg mache.
London Heathrow, 21:10 Uhr
IM FLUGZEUG
NACH
SINGAPORE
01. September 1998, Dienstag
Meine Uhr zeigt an, dass heute Dienstag, der erste September ist und 14:50 Uhr. Das ist Singapore-Time. Aber wo wir jetzt sind und wie spät es hier wirklich ist, kann ich nicht sagen: Das Zeitproblem bei Langstreckenflügen. In Berlin gibt es jetzt Frühstück, dort es ist kurz vor 8 Uhr. Bei uns gab es auch schon Frühstück, es wurde gerade abgeräumt. Aber weil wir gegen die Zeit fliegen, vergehen die Minuten und Stunden im Zeitraffertempo und bald wird wieder Abend sein.
Als ich in London in meinem Sitz Platz nehme und aus dem Fenster sehe – eine Überraschung: Neben uns steht eine Concorde, das französische Überschallflugzeug. Sie fliegt zwischen London, Paris und den USA. Wie klein diese Maschine ist! Sie sieht aus wie ein grösseres Militärflugzeug. Davon gibt es auch ein Foto.
Beim Start habe ich meine Uhr gleich auf die Singapore-Time umgestellt: 5:38 Uhr, London 22:38 Uhr. Wir heben bei 360 km/h ab, die Boing 747-400 kommt nur langsam auf Touren. Erst nach 15 bis 20 Minuten, wir sind schon über Rotterdam, hat sie die Reisegeschwindigkeit von rund 950 km/h in einer Höhe von 30.000 feet gleich 10.000 Metern erreicht. Wir haben eine Flugstrecke von 10.900 Kilometern vor uns. Die Flugzeit wird ungefähr 12 Stunden betragen.
Ich schlafe erst mal eine Stunde. Dann gibt es Abendbrot. Ich wähle Pasta statt Chicken – das Essen bei Qantas ist sehr mässig. So eng wie hier habe ich auch noch nicht gesessen. Aber die Kiste fliegt und sie fliegt sehr ruhig. Und bei diesen niedrigen Flugpreisen kann man nicht meckern. Ich sitze in der Reihe 37, Fensterplatz rechts, es ist ganz gut auszuhalten. Das sieht man daran, dass ich nach dem Lunch ohne Pause von ca. 6 bis 13:30 Uhr geschlafen habe. Der Flieger ist abgedunkelt, alle Fenster sind geschlossen. Ruhe. Erst gegen 14 Uhr wird das erste, schwache Innenlicht angeschaltet. Eine halbe Stunde später gibt es Frühstück. Danach gehe ich zur Katzenwäsche auf die Toilette und mache eine halbe Stunde einen Spaziergang auf der Stelle. Das tut gut. Beim Schlafen waren mir zeitweise auch die Beine eingeschlafen, denn man kann sie nur mit Mühe ausstrecken. Es sind noch zweieinhalb Stunden bis Singapore, schätze ich. Informationen über den Flug gibt es nicht. Auf dem Monitor läuft ein ‚Lustspiel‘, was sich Peter nicht ansehen würde: Amerikanische TV-Kultur ist haarsträubend! Trotzdem starren viele Leute mit Kopfhörern gebannt auf den Bildschirm. Unbegreiflich.
Jetzt gibt es doch Informationen, denn der Film ist zuende: Geschwindigkeit 888 km/h, wir sind über dem Golf von Bengalen (das hatte ich auch geschätzt), Aussentemperatur –49°, Höhe 37.000 feet, 7.500 Kilometer haben wir schon geschafft. Noch mindestens 3 Stunden bis Singapore.
So ein Flug ist eigenartig. Man wird in eine Röhre gezwängt, sitzt hauteng mit wildfremden Menschen zusammen, auf den meisten Sitzplätzen sieht man nichts von der Aussenwelt (eine Reihe = 10 Sitzplätze), man isst konfektionierte Nahrungsmittel und ist völlig einer Technik ausgeliefert, die man selber absolut nicht beeinflussen kann. Es gibt immer wieder spektakuläre Unfälle mit hunderten von Toten. Die verdrängt man als Passagier: ‚Mir kann so etwas nicht passieren!‘ Es kann sehr wohl passieren. Aber ich denke, das ist (von den letzten Minuten abgesehen) ein schöner, schneller Tod. Auf einem Höhepunkt des Lebens ist es plötzlich und unerwartet aus. Ich kann mir das Ende viel schlimmer vorstellen! MJ (Prof. Dr. phil. habil. Johannes Müller, Systematische Heuristik) hat in einem seiner letzten Briefe den schönen Satz geschrieben: ‚Der Tod ist ja nicht so schlimm, aber gesund möchte man doch dabei sein ...‘ Im Zeitalter des Massentourismus gehört das Flugzeug so selbstverständlich zum Leben, wie früher (und heute) das Fahrrad. Erst das Flugzeug macht es ja möglich, dass man ohne grosse Probleme und schnell, global jedes Ziel erreichen kann. Da muss man die Unfälle als ‚unerwünschte Nebenwirkungen‘ einfach in Kauf nehmen. Keine Technik ohne Risiko.
Der Flug war in den erste 4 bis 5 Stunden ganz ruhig. Über Indien wurde es unruhig, offensichtlich gibt es in den Tropen Turbulenzen und bis in die Höhe unseres Flugzeuges reichen dicke Wolkenbänke. Wenn das Flugzeug die Wolken durchfliegt, flattern buchstäblich die Flügel. Der Flügel, den ich von meinem Fenster aus sehe, ist ganz deutlich nach oben gebogen. Das äussere Triebwerk wackelt daran, wenn es durch die Wolken geht. Ganz erstaunlich, wie elastisch diese Konstruktion ist. Und wenn man etwas von Dynamik versteht sieht man, dass es sich hier um eine ‚tiefe Abstimmung‘ handelt, weil man die steife Variante mit Aluminium viel schwieriger (oder gar nicht) beherrscht. Wenn ich das richtig sehe, hat man aber beim Airbus die steife Version realisiert, also die ‚hohe Abstimmung‘.
Die Wolken sind immer wieder faszinierend. Ich beneide die Piloten, die jedesmal durch eine andere ‚Wolkengegend‘ fliegen. Jetzt, über dem Golf, ist es relativ ruhig. Es gibt nur ganz dünne Wolken und sie liegen sehr weit unten. Auf dem Weg von Berlin nach London (Scharno würde sagen): Das typische Tiefdruckgebiet: Kleine Wolkenhäufchen in Formation und zwar in (Zahn-) Streifenformation. Immer werde ich bei solchen Gelegenheiten an die Zahnstreifenprobleme bei Druckmaschinen (1963/67) erinnert: Der Mechanismus, der Farbstreifen auf einer glatten Folie (eingespannt als Druckplatte) bei Offsetmaschinen entstehen lässt, ist dem Mechanismus der Wolkenbildung ähnlich. Irre, waaah!?!
Als ich über die hoch komplexen Strukturen der Wolken und über ihre Bildungsmechanismen nachdenke, fällt mir folgendes auf: Es gibt nur ganz wenige, aber fundamentale Spielregeln, denen die gesamte, uns bekannte Materie unterworfen ist:
Das sind die Spielregeln der Natur. Es ist im höchsten Grade faszinierend, dass diese wenigen Regeln die unendlich komplexen anorganischen, aber vor allen Dingen auch alle lebenden Strukturen auf dieser Erde hervorgebracht haben. Die Wolken sind dafür ein sehr schönes Beispiel, aber das gleiche gilt auch für Wasseroberflächen, Sanddünen, rauschende Blätter, Flechten, Amöben, Ameisen und Menschen. Das ist schon mächtig erstaunlich !!
Gott hat in diesen Regeln keinen Platz. Wenn überhaupt, dann kann er nur in höheren Schichten wirken. Z.B. dadurch, dass er die Naturgesetze ‚setzt‘. Es braucht nur einer oder etwas zu kommen (und die Macht haben) und das Hebelgesetz anders zu definieren und das Gravitationsgesetz ganz zu streichen – schon haben wir eine völlig andere Welt !!
Erstaunlich, welche Rolle trotzdem die Religionen im Leben der Menschen spielen. Es ist doch völlig klar und einsichtig, dass für Jesus, Allah und Buddah kein Platz innerhalb der Naturgesetze ist. Ganz leicht sind mit wenigen einfachen Fragen die theologischen Gebäude aller Religionen zum Einsturz zu bringen: Wo war Jesus in der Eiszeit? Warum gab es Wunder nur früher und jetzt nicht mehr? Kann Allah auch nur ein Atom dazu bringen, sich nicht entsprechend den Naturgesetzen zu verhalten? Diese Frage ist schon viel zu kompliziert. Besser noch so eine einfache: Wo ist der Himmel des Himmlischen Vaters?
(Es ist 15:44 und die ersten Inseln vor der Westküste Malaysias tauchen auf.)
Alle Menschen, die an solche Götter, an Himmel und Hölle oder an Wiedergeburt glauben, überschätzen sich selbst, nehmen sich viel zu wichtig. Ein einzelner Mensch ist genau so wichtig oder unwichtig wie ein Kieselstein, ein Blatt, eine Termite, ein Kontinent, ein Planet, eine Galaxis: Diese Dinge haben objektiv keinen Wert. Das, was wir mit unseren (technisch aufgerüsteten) Sinnen wahrnehmen und mit unserem Wissen erklären können, ist nicht das Ganze, es lässt auch nicht den Schluss auf das Ganze zu. Klar ist nur eines: Das ‚Ganze‘ ist für uns unfassbar, es ist unendlich gross und komplex und es verfügt über unendlich viel Zeit. Das ist alles, was wir je davon wissen werden. Die ganze Menschheit und erst recht jeder einzelne Mensch ist gegenüber diesem ’Ganzen‘ wirklich und buchstäblich ein ‚Nichts‘. Wer zum Beispiel sollte warum ein Interesse daran haben, für das ‚Nichts‘ Himmel und Hölle zu organisieren und in Betrieb zu halten ?!?
Die Tatsache aber, dass der Mensch in der Lage ist, über ‚das Ganze‘ zu reflektieren, das ist absolut faszinierend!! Mir würde es schon reichen wenn ich wenigstens wüsste, was dieses menschliche Bewusstsein eigentlich ist. Ist es mehr als das ‚Betriebssystem‘ des Menschen? Affen haben auch ein solches ‚Betriebssystem‘, Bäume, Würmer und Korallen auch. Haben andere Lebewesen wirklich kein ICH, kein Bewusstsein ihrer selbst? Können wir wirklich sicher sein, dass nur wir den Baum mit den phantastischen Brettwurzeln beobachten und er uns nicht zusieht? Was macht uns da so schrecklich sicher, dass es so ist? Was macht den entscheidenden Unterschied, das ICH, aus?? Was ist das, das uns erlaubt, mehr als über elementare Körpervorgänge zu reflektieren? Ist es ein Versuch eines Verfahrensingenieurs, der ein neues Steuer- und Regelungsverfahren ausprobiert? Will er testen, ob die Steuerung ausschliesslich über Emotionen zu verbessern ist? Welchen Sinn hat das Selbstbewusstsein des Menschen für ihn selbst und für die Evolution?
Nichts hat einen für uns erkennbaren Sinn. Also auch nicht unser Bewusstsein. Also doch eine Testversion, ein Update für ein Betriebssystem?! Bananensoftware, so wie wir es gewohnt sind, mit vielen Bugs? Solche Fragen kann man zwar stellen, sie werden aber für immer unbeantwortet bleiben.
16:00 Uhr, über Malaysia,hohe Wolken, kaum Sicht, aber Sonne !
Fast genau vor zwei Stunden sind wir hier in Singapore gelandet. Aussteigen, Informieren: Ja, es geht hier vom Terminal 1 um 22:35 Uhr weiter. Aber es gibt eine Überraschung: Wir fliegen nicht direkt nach Cairns, sondern dazwischen liegt noch eine Landung in Darwin. Ich bekomme nicht nur viele Stunden geschenkt, sondern auch noch eine Zwischenlandung in Darwin.
Nachdem ich weiss, wie es weitergeht, suche ich mir eine ruhige Toilette. Sie ist leer und so sauber, wie es sich mit dem Cleancheck an der Tür in Singapore gehört. Ich rasiere mich genüsslich, wasche mich und auch die Entleerung klappt hervorragend und vollständig. So aufgebaut mache ich einen Rundgang durch den grossen Airport Changi. Als erstes versuche ich rauszukriegen, ob man von hier aus eine E-Mail abschicken kann. Hier geht es nicht, aber auf dem Terminal 2 soll es möglich sein. Ein Fax könnte ich sofort abschicken, das kostet ca. 2,50 S$ = 2,50 DM pro Minute, aber wie langsam oder schnell das Gerät eine Seite verarbeitet, ist unklar. Wenn ich das nächste Mal wieder hier bin, wird die Kommunikation mit Europa vielleicht einfacher und billiger sein. Dann kaufe ich mir nach einigen erfolglosen Versuchen doch die Pelikan-Tintenpatronen für meinen Füller, die ich in Berlin vergessen habe. Auch eine Ersatzbatterie für meinen Fotoapparat ist hier billig zu erstehen: Sie kostet hier ca. 8 DM und zu Hause mindestens das Doppelte. Dann suche ich mir einen bequemen Sitzplatz in der Transit Lounge. CNN läuft, aber der Monitor ist weit genug weg. Jetzt habe ich noch gut zwei Stunden Zeit. Das liebe ich. Hektik, die vermeidbar ist, sollte man auch vermeiden.
Der Anflug auf Singapore war interessant. Um 16:10 Uhr waren wir über der schönen Stadt Penang. Man konnte sie nicht sehen. Aber sie ist mir in bester Erinnerung, auch da muss ich noch mal hin. Zwanzig Minuten später wurde Kuala Lumpur überflogen. Sehr interessante, hohe Wolken. Sie reichen bis in Höhen von 15.000 Meter und sie sind nicht kompakt, sondern in vielen Etagen ganz unterschiedlich geschichtet. Und in diesen unterschiedlich hohen Stockwerken fliegt das Flugzeug und es tastet sich langsam nach unten. Das zu sehen ist einfach phantastisch. Ich mache ein paar Bilder, aber diesen Eindruck bekommt man nicht auf den Film, das geht nur life und in 3D. Das Interessanteste für mich ist, beim Fliegen aus dem Fenster zu sehen. Nur so kann man die extrem kurze Zeit, die man im Leben fliegt, richtig nutzen: Ich möchte möglichst viel davon sehen, wie ich fliege! Um so erstaunlicher, dass während des Fluges solche entsetzlichen Filme auf den Monitoren laufen. Aber die vielen Menschen, die keinen Fensterplatz haben, müssen ja abgelenkt und ruhig gestellt werden.
Die Wolken sind für mich ein exemplarisches Beispiel für die enorme Komplexität dieser Welt. Man wird ruhig, zufrieden und bescheiden, wenn man diese Wolkenformationen sieht. So eine dünne Schicht, die sich lückenlos um den ganzen Globus legt. Und obwohl im Vergleich zum Erdradius sehr dünn, ist diese Schicht extrem komplex: Solche vielfältigen, phantasievollen Strukturen, ständig in Bewegung, trotzdem in Ruhe und im augenblicklichen Gleichgewicht. Es ist einfach beruhigend, aus dem Fenster eines Flugzeugs zu sehen. Offensichtlich ist auch der Mensch ständig um Ausgleich und Stabilität bemüht. Warum? Nur, weil er den gleichen Spielregeln wie die Wolken unterworfen ist?
In zwei Stunden starten wir und dann geht es wirklich nach Australien! Leute, ich bin kurz davor, tatsächlich in Australien zu landen!! Es ist nicht zu fassen, was ich immerzu für ein Schwein habe! Auch wenn wir in Darwin nicht landen, sondern in einem der dort so häufigen Gewitter abschmieren, dann werde ich kurz vorher zu mir sagen können: Mein Freund, Du hast das Maximum aus Deinem Leben gemacht !! Es gibt wenig, was offen bleibt und was noch zu tun wäre. Warum hat das bei mir alles immer gleich beim ersten Anlauf geklappt? Glück ? Vielleicht. Ich denke, entscheidender als auf Glück zu hoffen ist, selber aktiv zu werden. Wer selber nichts versucht, wagt und bewegt, dem wird von anderen vorgeschrieben, was er zu tun und zu lassen hat. Das wichtigste im Leben scheint zu sein: Bewege Dich !!! Warte nicht auf Hilfe oder Anstösse von anderen !! Offensichtlich aber bin ich mit dieser Überzeugung nicht der durchschnittliche, normale, mitteleuropäische Mensch. Das ist mir allerdings erst nach 1989 aufgefallen.
20:30 Uhr, Changi Airport, Singapore
LANDUNG
IN AUSTRALIEN
02. September 1998, Mittwoch
Um 4:08 Uhr Ortszeit berührt die Maschine australischen Boden: Wir sind von Singapore kommend in Darwin gelandet. Es ist also wirklich wahr: AL in Australien!! Leider ist von Australien nicht viel zu spüren und sehen: Es ist noch dunkle Nacht und alles hier ist klimatisiert und von Neonröhren grell beleuchtet. Nur unmittelbar an der Flugzeugtür war beim Aussteigen zu merken, dass es draussen tropisch warm und schwül ist, um die 30°. Aber der Teppichboden ist Australien: Im ganzen Transitbereich ein Teppich im Aboriginal-Style. Ein Duty-free-Shop, in dem ich meine ersten australischen Dollars ausgeben könnte, aber es gibt nichts, was sich zu kaufen lohnt. Ich trinke mit Lia einen Morgenkaffee, der kostet die ersten 1 ½ australischen Dollar. Der Transitraum ist voller verschlafener Leute die nur darauf warten, dass es weiter nach Cairns geht.
Wir sind mit einer Boing pünktlich um 22:35 Uhr in Singapore gestartet. Die Uhren wurden um weitere 90 Minuten vor gestellt: Darwin-Time. Inzwischen habe ich also 9,5 Stunden Vorsprung vor Europa‚ ‚erflogen‘. Ich hatte mir wieder einen Fensterplatz besorgt: Reihe 27, Sitz A, also auf der linken Seite. Als einer der ersten steige ich in das Flugzeug ein. Nach einer Weile kommt eine junge Dame und setzt sich neben mich: ‚Hey, I’m Lia !!‘ Sie fängt sofort an, mit mir zu reden und es stellt sich heraus, das muntere, hübsche Mädchen ist aus England. Eine Rucksacktouristen auf dem Weg nach Cairns. Sie hat dort, wie ich auch, kein festes Reiseprogramm. Allerdings hat sie ein paar andere Vorstellungen von ihrem Urlaubstrip als ich: Sie kann nur mit dem Geld Urlaub machen, was sie vorher in Australien verdient hat. Sie hat mit diesem Verfahren schon einmal fünf Monate lang ihren Aufenthalt in Australien finanziert. Jetzt kommt sie aus Thailand und Malaysia. In Deutschland war sie noch nicht. Wir unterhalten uns eine ganze Weile sehr angeregt, bis der Lunch serviert wird. Dann gehen die Lichter aus und die kurze Nacht beginnt.
Aber ich kann nicht schlafen. Ich überlege mir: Jetzt brauchte ich nur zu wollen und sofort wäre ich nicht mehr alleine auf Reisen – so schnell kann das gehen! Sie ist wirklich nett, aber nicht älter als 25 Jahre. Meine blühenden Phantasien lassen mich neben diesem vor Jugend und Gesundheit strotzenden Mädchen, das so dicht neben mir friedlich schläft, nicht zur Ruhe kommen. Aber mein nebenbei doch noch arbeitender Verstand holt mich in die Wirklichkeit zurück: Natürlich will ich keine solche Reisebegleitung und ich werde in diese Richtung keine Anstalten machen. Und diese nette Lady hat sicher alles andere im Sinn, als sich neben einen alten Mann ins Auto zu setzen. Aber es ist hoch interessant, so eine Situation einfach mal durchzuspielen. Der (voraussichtliche) Ablauf der gesamte Tour und meine emotionale Befindlichkeit würde sich mit diesem Mädchen unversehens und abrupt verändern. Vor allen Dingen wäre meine herrliche Ruhe und mein innerer Seelenfrieden mit einem Schlage dahin. Plötzlich wäre meine Freiheit nur halb so viel wert und jede Bewegung und jede Entscheidung würde eine Abstimmung voraussetzen. Ach wie ist es angenehm, ein mobiler Single zu sein! Schön, das bei dieser Gelegenheit so punktgenau bestätigt zu bekommen. Ich bin ja wirklich für Dynamik, Bewegung und spontane Entschlüsse (jetzt) immer zu haben. Aber hier wird deutlich, wo die Grenzen liegen.
Der Blick aus dem Fenster auf den makellosen Sternenhimmel bestätigt meine Überzeugung: Herrlich ist diese unbegreifliche Welt! ... Aber was ist das für ein Sternbild, was ich da klar und deutlich um 2:30 Uhr, Darwin-Time, in nördlicher Richtung 10° über dem Horizont sehe? Ist es die Cassiopeia, kann das sein? Es sind fünf ähnliche Sterne. Aber ob das stimmt, werde ich erst nach der Rückkehr in Berlin mit meinem Computer feststellen. (Ja, es ist die Cassiopeia gewesen, exakt im Norden und 15 Grad über dem Horizont. Dass darüber Jupiter und Saturn nahe beieinander standen, habe ich nicht gesehen. Sie stehen fast im Zenit und aus der kleinen Luke hat man bis dahin keine Sicht. AL/090399)
4:50 Uhr, Darwin Airport
Jetzt habe ich wieder Schwierigkeiten mit der Uhrzeit, dem Wochentag und dem Datum! Die einzige Rettung ist die Reiseliste: Mein Kopf ist z.Z. out of order because the Jet-lag. Meine Uhr zeigt an, dass es 23:50 Uhr am Mittwoch, dem 03. September ist. Nach meiner Reiseliste aber ist der 02. September ein Mittwoch. Langsam dämmert mir, dass die Uhr um Mitternacht nicht richtig funktioniert, weil das Datum nicht innerhalb von Sekunden, sondern im Verlauf von ein bis zwei Stunden umgestellt wird. Das Datum stimmt schon, der Wochentag noch nicht: In 10 Minuten beginnt der 03. September und das ist ein Donnerstag. Gerade habe ich von 21 bis 23:30 Uhr hervorragend geschlafen. Dann war es aus und ich war wach. Mein Körper hatte nicht den Eindruck, dass es jetzt Mitternacht ist. Er ist noch auf die Zeit in Deutschland geeicht. Dort passiert alles genau 10 Stunden später, also ist es jetzt erst 14 Uhr. Da kann man doch nicht sechs oder acht Stunden schlafen! Das sind die Probleme bei Langstreckenflügen.
Seit der Landung in Darwin ist viel passiert. Ich bin nicht in Cairns, sonder hier in Port Douglas. Dort drüben in dem zweiten Bett des Zimmers Nr. 1 im Motel ‚Port Central‘ schläft nicht Lia, da liegt nur mein kleiner Rucksack ... aber schön der Reihe nach:
Wir starten in Darwin wieder um 5:37 Uhr Darwin-Time. Der Kapitän teilt uns per Lautsprecher mit, dass es in Cairns jetzt 6:15 Uhr ist und dass wir dort in zwei Stunden landen werden. Ich stelle das vorerst letzte Mal meine Uhr vor und bekommen wieder eine halbe Stunde geschenkt, das macht insgesamt 10 Stunden: Queensland-Time. Der Flug ist sehr interessant, denn wenige Minuten nach dem Start ist schon der erste rote Streifen vom Sonnenaufgang am Horizont zu sehen. Ich sitze links und wir fliegen nach Osten mit einer kleinen Abweichung in die südliche Richtung. Für den Sonnenaufgang habe ich genau den richtigen Fensterplatz. Der Streifen über dem Horizont wird schnell breiter und das Rot wird intensiver. Was ist das für ein heller Punkt, ganz tief am Horizont, aber über dem roten Streifen ?! Zuerst habe ich das für die Scheinwerfer eines anderen Flugzeugs gehalten, aber es muss ein Planet sein! Ich hole meine Sternkarten raus (Natürlich habe ich sie immer griffbereit in meinem Daypack, aber es sind nur die Karten für 5 Uhr früh und 21 Uhr am Abend ...): Das ist kein anderes Flugzeug, das ist der Mars, der schnell nach oben steigt !! Der helle Streifen am Horizont wird immer breiter, holt den Mars ein und verfärbt sich vom ganz tiefen (australischen!) Rot zu Gelb – so ein tolles Schauspiel !! (Erst heute merke ich am Computer: Es war die Venus !! s. Sternenkarte AL/19.03.1999)
Ich hole Lia, die sich auf mehreren Sitzen in der Mitte der Reihe zum Schlafen hingelegt hat. Dieses Naturschauspiel muss man gesehen haben. Gebannt und begeistert gucken wir beide aus dem Fenster. Wir haben uns in Darwin beim Kaffee noch zusammen nett unterhalten. Sie will auch unbedingt in der Coral Sea schnorcheln gehen. Sie ist gross und hat die Figur einer Schwimmerin und ist nach eigenen Worten auch eine ‚water cat‘. Aber sie ist keine professionelle Sportlerin, sondern studiert in London, wo ich gerade noch spazieren gegangen bin, Medizin. Es fragt sich nur wann. Sie macht keine Anstalten, sich mit mir in Cairns noch einmal zu verabreden, ich auch nicht. Wir verabschieden uns am Kofferband in Cairns. Es war, was es tatsächlich war: Eine nette Reisebekanntschaft. Alles andere war Phantasie.
Aber noch sind wir nicht am Kofferband. Um 7:50 Uhr erreicht der erste Sonnenstrahl die Maschine. Sofort ist im Gegenlicht kaum noch etwas von unten zu sehen. Eine Viertelstunde später steht die Sonne aber schon deutlich über dem Horizont: Wir sind in den Tropen und fliegen der Sonne entgegen, da geht das schnell. Ach ja, auf der Südhalbkugel sind wir ja auch schon, denn zwischen Singapore und Darwin hat das Flugzeug den Äquator überquert. Keiner hat ihn gesehen ...
Mit dem Sonnenaufgang ändert sich die Sicht. Erst völliges Gegenlicht, dann aber werden die Formationen kleiner Wolkenhäufchen einseitig beleuchtet, das sieht ganz seltsam aus. Jetzt ist auch zu erkennen, dass wir die Ostküste des Gulf of Carpentaria überfliegen. Ist das Holzeinschlag oder ein Tagebau, eine Mine? Auf alle Fälle sind da unten (wenige) Schäden an der Natur zu sehen, die nur der Mensch angerichtet haben kann. Dann fliegen wir über Land, senkrecht zum Fenster, im Norden, liegt Cape York: Endloser australischer Outback: Braun, trockene Flussläufe, flach, lebensfeindlich und wenige schmale, schnurgerade Buschpisten in Richtung Nord/Süd. Wir fliegen sehr hoch: 11.200 Meter wird gerade angezeigt.
Da unten das Land sieht aus wie eine braune, abgestorbene Flechte auf einem Stein in Norwegen ... darüber schimmert eine halbdurchlässige Wolkenschicht im glasigen Dunst. Es könnte auch Wasser sein, eine Pfütze mit etwas trübem Wasser, man kann nicht ganz bis auf den Grund sehen. Und in dieser Pfütze leben Moskitolarven, Geisseltierchen, Amöben und Bakterien ... die Amöben glauben an Jesus, die Moskitolarven glauben an Buddha und die Geisseltierchen geisseln sich täglich zu Ehren Allahs, des Grössten und des Einzigen. Wie ist doch alles relativ ...
Eine kleine Pause und wieder zurück in mein Motel: Es ist 0:40 Uhr und ich koche mir einen Tee. Das geht ganz einfach, denn zur spartanischen Ausstattung des Zimmers gehören Wasserkocher, Tee- und Kaffeebeutel. Zum Tee esse ich ‚handmade flapjack RASPBERRY‘, den schönen Kuchen aus dem St. James Park in London, von dem immer noch etwas übrig war. Das ist ja richtig stilecht, nur dass es jetzt kurz nach Mitternacht und absolut nicht Tea Time ist.
Wie vom Flugkapitän angekündigt, landen wir um 8:15 in Cairns. ‚The weather is fine ...‘, Wolken, Sonne, Temperaturen um 26°. Ich bekomme nach langem Anstehen ohne Schwierigkeiten mit meiner elektronischen Visa-Vorbestellung ein Visum in meinen Pass gestempelt und dann warte ich mit Lia am Förderband auf meinen Rucksack, den ich zuletzt in Berlin gesehen habe. Ein Kontrolleur in Zivil checkt noch einmal alle meine Papiere und ist zu Herrn Professor sehr höflich und korrekt. Auf einem dieser Zettel musste ich meinen Beruf angeben (Lia weiss davon nichts). Drogenhunde, die so richtig knuddelig und süss und so gar nicht nach Polizei aussehen, suchen vergeblich nach Stoff. Ich winke Lia ein letztes Mal (?) zu und verlasse den Sicherheitsbereich. Keiner will meinen Gepäckschein sehen (in Memoriam: Scharno in Hanoi) und Zoll will auch keiner kassieren.
Dann stehe ich in der menschenleeren, lichtdurchfluteten Ankunftshalle des International Airports von Cairns. Keine Agenten, die mir ein Zimmer vermitteln wollen, keine Taxifahrer umschwirren mich, keiner will mich hier abholen. Hier ist nichts als Ruhe. Eine saubere Toilette, sogar duschen kann man hier, ohne Geld und ohne Cleancheck. Wo ist HERTZ ?! Die Halle ist hoch, aber nicht sehr gross, wenige Büros, Hertz ist leicht zu finden: Anstellen. Dann präsentiere ich meinen Voucher, ein Griff in einen bereitstehenden Kasten und der für mich reservierte Schlüssel liegt auf dem Tresen. Wenige Formalitäten, 100 $ Kaution, eine Unterschrift und mehrere Paraphen, dass ich die Erhöhung der Versicherung wirklich nicht wünsche. Dann sagt die ältere, sehr dienstlich wirkende Dame: ‚Der Wagen steht in Box 16. Gute Fahrt !‘
Es ist kurz nach halb zehn, da sind alle Formalitäten erledigt und ich stehe mit einem Gepäckkarren vor dem schönen Auto:
Ford Falcon
6 Zylinder, 4 Liter, 157 KW (mein
lieber Schwan !!)
Klima, Automatik, Kilometerstand:
2996 km
Kennzeichen: 087 EPL
Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, fällt der erste Regen. Es folgen tropische Regenschauer aus interessanten Wolken bis in den Nachmittag. Ich beeile mich, mein Gepäck einzuladen und dann gehe ich erst noch mal auf die schöne Toilette. Jetzt ist es auch schon 10 Uhr und ich gucke noch mal bei Hertz vorbei: Man kann ja nicht wissen und bei Frauen, die zum Elchtest bereit sind, muss man mit Überraschungen rechnen. Aber die Frau aus Berlin, die den Elchtest machen wollte und die ich eingeladen hatte, sich hier mit mir zu treffen, ist nicht da.
Damit hatte ich gerechnet, alles andere wäre wirklich eine irre Überraschung gewesen. Schade, dass es keine Frauen gibt, die sich auf so ein (völlig ungefährliches) Abenteuer einlassen. (Schon nach 10 Minuten habe ich den Elchtest für die nächsten acht Wochen vergessen und ahne nicht, dass er mich später in Berlin noch einmal einholen wird.)
Ich gehe zurück zu meinem neuen Auto, setze mich hinter das Steuer und ... lese erst mal in der Bedienungsanleitung. Dann lasse ich den Motor an (von den 157 KW weiss ich da noch nichts...), fahre in der Box hin und her, dann um das Gebäude herum und schliesslich auf die Strasse raus. Ich fahre aber nicht nach links in die Stadt, ich biege rechts ab und fahre in Richtung Mossman. Erst will ich mich an diese Maschine hier gewöhnen, bevor ich nach Cairns hinein fahre. Schwierigkeiten gibt es mit dem Blinker, der ist rechts und damit auf der falschen Seite. Auch mit der Dosierung der Bremse habe ich Probleme, sie will nur sehr leicht angetippt werden, sonst gibt es gleich eine Vollbremsung. Mit dem Linksverkehr komme ich von Anfang an gut zurecht, die vielen Kreisel machen das Abbiegen sehr einfach. Vor 30 Jahren habe ich mir angewöhnt, fast immer mit dem Bremsen auch auszukuppeln. Dieses Auskuppeln ist auch im Rechtsverkehr Unsinn, aber dafür habe ich Reflexe entwickelt. Hier aber führt dieser Unsinn zu Vollbremsungen, denn statt der Kupplung gibt es hier nur die ganz straff eingestellte Bremse. Mit dem Kopf weiss ich genau, was zu tun ist, aber die Reflexe ... Nach den ersten 10 Kilometern aber fühle ich mich schon recht sicher. Hier hilft nur fahren, fahren, fahren und zwar langsam und ohne Emotionen. Ich muss mit diesem Auto trainieren und es ist klar, dass sich die neuen Reflexe nicht so schnell ausbilden, wenn überhaupt. Aber nachdem ich schon eine Weile fahre weiss ich jetzt, wie rasend dieses Geschoss hier schaltet und beschleunigt, wenn man auf das Gas tritt und was das für Bremsen sind: Vorsicht!! Und ich fahre vorsichtig und höchstens mal 80 km/h, wie es sich für einen älteren Herrn gehört.
Ich fahre in Richtung Mossman und überlege, warum muss ich eigentlich meine Australien-Reise in Cairns starten ? Ich wollte doch zuerst sowieso nach Norden in den Regenwald, also warum nicht jetzt und gleich? Kuranda liegt auf dem Weg, ist nach den Prospekten und Reiseführern ein Muss für jeden Touristen, also warum nicht nach Kuranda? Auch hier sind wir in einem freien Land und ich kann mit diesem tollen Auto hinfahren, wohin ich will. Schöne, sehr schmale Serpentinen hoch nach Kuranda. Enge Kurven, diese Strasse erinnert mich lebhaft an Norwegen. Die ideale Trainingsstrecke. Der Wagen fährt sich herrlich. Am einfachsten kann der mit ihm fahren, der kein Ingenieur ist, der nichts vom Automatikgetriebe weiss, der nicht an die richtige Wahl der Gänge denkt und der auch nicht überlegt, wie sich ein Automatikgetriebe bei solchen Steigungen verhält ... Für Tante Erna gibt es nur zwei Zustände bei der Benutzung eines solchen Autos: Fahren und Bremsen. Dafür gibt es zwei verschiedene Pedalen: Fahren rechts, Bremsen links. Auf diese Pedalen tritt man je nach Bedarf (und nicht gleichzeitig !): Mehr muss man weder wissen noch machen ... Wenn da nicht die Reflexe und die Fragen des Herrn Ingenieurs nach dem Getriebe wären ... !
Kuranda ist doof. Ich besuche einen Wildlife-Park. Die armen Koalas, die armen Krokodile, die armen Schlangen und vor allen Dingen: Die armen Aborigines, die hier als besonders interessante Tiere zu besichtigen sind. Nein, sie sind nicht nur zu besichtigen, sie führen sich auch noch selber vor. Das ist der grosse Unterschied zu den Krokodilen. Hier kann man unter Anleitung der Aborigines mit dem Bumerang werfen und mit dem Didgeridoo spielen. Das erste Mal höre ich hier ein Didgeridoo life. Ich rede mit dem angemalten Mann, bekomme selber sogar ein paar Töne aus dem ausgehöhlten Baumstamm heraus. Aber wir einigen uns schnell: Er ist der Spezialist für Didgeridoo, ich für Computer. Man kann nicht in drei Minuten lernen, wofür der andere ein Leben lang gebraucht hat.
Dieser Wildlife-Park liegt vor Kuranda, es hält mich dort nicht lange. Ich fahre nach Kuranda, aber dort ist es noch schlimmer: Kuranda ist Tourismus pur: Der ‚unberührte‘ Dschungel zum Anfassen für Herrn Jedermann. Bei vielen Gelegenheiten denke ich heute an Tenggol: Was haben wir nur für ein Schwein gehabt, mein lieber Stefan, dass wir diese unberührte Insel gesehen haben!
Es regnet, die Sonne scheint, es nieselt, es ist neblig. Alles hier in Kuranda und alles nacheinander innerhalb einer knappen Stunde. Die Wolken hängen tief, denn Kuranda liegt ca. 300 Meter höher als Cairns. Schon ist hier ein ganz anderes Wetter. Das sah man auch vom Flugzeug. Die braune Einöde ging erst vom flachen Land zu bergigem Gelände ohne erkennbare Bewaldung über. Dann wurden die Täler zaghaft grün und ein paar Kilometer vor der Küste bedeckte undurchdringlicher Dschungel die Berge: Der Regenwald. Die Wolken treiben von der See auf die Berge zu. Sie bringen das Wasser, was den Dschungel zum Regenwald macht. Aber Regenwald wächst nur auf einem sehr schmalen Streifen vor der Küste. Auf der Strasse nach Mareeba kann man das deutlich beobachten: Erst fährt man durch dichten Dschungel, der lichtet sich aber schon nach ca. 20 Kilometern, aus Dschungel wird Grasland und die ersten Termitenbauten sind zu sehen, direkt an der Strasse. Der Regenwald geht in das Outback über. Aber in den Bergen um Cairns und Mossman ist der Rainforest dicht und über weite Strecken (hoffentlich) unberührt. Die verschiedensten Bäume und Pflanzen wachsen in ihm, vorerst erkenne ich nur Palmen und Eukalyptusbäume.
Es reicht mir in Kuranda, ich will weg, obwohl es erst 13 Uhr ist. Hier reiht sich Markt an Markt und ein Geschäft an das andere. Hat man einmal das Souvenirangebot gesehen, kennt man alle Angebote. Touristen werden hier in Bussen und in Massen hergekarrt. Kuranda scheint DER Tagesausflug von Cairns aus zu sein. Das ist nichts für mich, aber wie komme ich hier wieder raus? Schlechte Beschilderung. Nach Kuranda findet jeder, aber dort ist der Ausgang nicht beschildert. Aber nach mehreren Versuchen klappt es dann doch.
Ich fahre in Richtung Mareeba und gehe davon aus, dass das die gleiche Richtung wie Mossman ist. Nach 20 Kilometern, die Landschaft hat sich schon deutlich in Richtung Outback verändert, gucke ich doch mal auf die Karte. Nein, landeinwärts nach Mareeba will ich heute noch nicht, erst muss ich die Coral Sea sehen. Also zurück! Das geht schnell, denn hier auf dieser Strasse ist kaum Verkehr. Gut für das Fahrtraining, für Beschleunigungs- und Bremsversuche. Hier probiere ich das Auto aus und staune, was für eine Rakete aus einem Auto wird, wenn ein 4-Liter-Motor unter der Haube steckt. Bald aber bin ich wieder unten auf der Strasse Cairns/Mossman. An einer beträchtlichen Kreuzung liegt Smithfield. Hier gibt es ein grosses Einkaufszentrum. Ich stelle den Wagen ab und gucke mir das erste Mal ein australisches Einkaufsparadies an: Unzählige Shops für Discounter. Leute mit grossen Autos kaufen ihre Wochen- oder Monatsration mit riesigen Einkaufswagen ein. Es gibt alles. Die Preise sind mit denen in Deutschland durchaus vergleichbar. Es erweist sich als sehr praktisch, dass ein australischer Dollar etwas mehr wert ist, als eine Deutsche Mark. Wenn man immer 10 % dazu rechnet, liegt man auf der sicheren Seite. Ich kaufe Mineralwasser, Juice, zwei Wäschekörbe, damit ich im Kofferraum Ordnung halten kann, Zucker, Gemüse und eine spezielle Sorte von Knäckebrot. Mit Brot wird es schwierig werden, es gibt nur weisses, aufgeblasenes Brot, das nicht nach Brot schmeckt.
Anschliessend fahre ich wirklich in die richtige Richtung, alle Schilder weisen nach Mossman. Dann ist es soweit, ca. 20 km nach Smithfield sehe ich das erste Mal die Coral Sea: Ich fahren den Wagen bei Ellis Beach unter schattige Bäume, steige aus, gehe an den breiten Strand: Wind, Sonne, weisser Sand, Palmen, blauer Himmel und kein Mensch ist zu sehen! Das also ist die Coral Sea! Unter den grossen Bäumen kann man sein Auto auf unbefestigten Parkplätzen abstellen. Aber nur wenige Autos stehen hier. Ein Schild: NO CAMPING. Aber wer kontrolliert das schon? Den ersten Campingplatz gucke ich mir hier bei Ellis Beach vom Auto aus an: Hier kann man eine Hütte mieten, Kochgelegenheit, WC und Duschen separat. Der Campingplatz ist klein und schmal, eingezwängt zwischen Strasse und Strand. Auf der Strasse ziemlicher Verkehr. Soll ich hier mein Zelt aufschlagen? Muss das sein?
Die Frage kann ich nicht beantworten, ich habe noch keine konkrete Vorstellung, was ich heute und in den folgenden fünf Wochen eigentlich hier in Australien anstellen will. Ich habe nur ein paar sehr grobe Ziele und will:
Was ich wo und wie mache, das will ich vor Ort entscheiden. Aus den Büchern (Loose ist wieder mit von der Partie) weiss ich, dass im Prinzip alles geht, abhängig von der Menge des Geldes, das man investieren will. Jetzt muss ich erst mal sehen, wie die Gegend und die Möglichkeiten, hier etwas zu unternehmen, in der Realität aussehen. Lesen, Angebote vergleichen, Akklimatisieren. Das ist das Programm der nächsten Tage. Dazu brauche ich als erstes ein richtiges Bett.
Camping will ich nicht gleich machen. Dagegen sprechen zwei Gründe. Erstens muss ich den Jet-lag überwinden. Die erste Voraussetzung dafür ist ein gutes Bett, ein ruhiges Zimmer und eine Dusche. Denn inzwischen merke ich, wie warm es hier ist und dass ich müde werde. Zweitens ist meine Zeltausrüstung noch nicht komplett, ich brauche noch einen Stuhl, einen Kocher und Lebensmittel. Dazu brauche ich Zeit und Einkaufsmöglichkeiten. Damit entscheide ich mich jetzt hier bei Ellis Beach: Mindestens für die nächsten zwei Nächte brauche ich ein Bett mit Dusche. Wo ist der nächste Ort? Port Douglas ist nicht weit und liegt im Gegensatz zu Mossman an der See. In Port Douglas wollte ich sowieso mal gewesen sein. Also auf geht’s, ich fahre nach Port Douglas !!
Bald bin ich dort, ein ruhiger, kleiner Ort. Touristen, Geschäfte, Restaurants in einer Hauptstrasse. Aber das hier ist mehr verschlafene Ferienidylle als Touristenrummel. Loose empfiehlt das Accom-Tour-Centre. Nach einem Rundgang durch die Mains Street stehe ich gerade davor. Ich frage nach einer Budget-Accommodation. Man bietet mir ein Motel an und eine billigere Variante hat auch Loose nicht zu bieten. Motels gibt es mehrere, ich entscheide mich für das billigste. Es ist ganz in der Nähe und an der Hauptstrasse: 59 $ die Nacht. Billig ist das nicht. Ein Einzelzimmer mit Frühstück und Dusche – man hätte Schwierigkeiten, das in Mecklenburg für 65 DM zu bekommen. Ich sage zu: Zwei Nächte im ‚Port Central‘. Die VISA-Karte wird akzeptiert, AMEX wäre nicht gegangen. Es gibt leichte Verständigungsschwierigkeiten durch das australische English – aaaaooohh kkaaaiiiijj – Schwamm drüber.
Ich laufe in das Motel. An der Rezeption ist keiner da. Ich hole schon mal das Auto her, fahre es im Hof in den Schatten eines Parkdaches. Immer noch ist keiner an der Rezeption. Drei junge Mädchen kommen und klären den Opa auf: Telefon, Hörer abnehmen, Nummer der Kreditkarte ansagen. Durch das Telefon bekommt man einen Code gesagt, den tippt man in eine Tastatur ein, eine Schlüsselbox öffnet sich und man hat seinen Zimmerschlüssel. Das war der Check-In hier in diesem Motel. Einfacher und sparsamer geht es nicht. Ich beglückwünsche die Hotelmanagerin am Telefon zu diesem ‚far management‘. Ob das wirklich ‚Fernsteuerung‘ heisst, was ich eigentlich meine, weiss ich nicht. ‚Remote control‘ fällt mir nicht ein. Aber sie versteht den Sinn und ich höre ein breites Lachen im Telefon und eine unverständliche, australische Rede, die mich offensichtlich sehr freundlich in diesem Hause hier willkommen heisst.
Ich ziehe ein, transportiere die wenige Sachen nach oben, gehe unter die wunderbare Dusche und stelle fest, dass es inzwischen 17 Uhr geworden ist. Ich bin so entsetzlich müde, dass ich aus der Dusche sofort ins Bett falle und absolut nicht weiss, wann und ob ich jemals wieder aufwachen werde.
2:30 Uhr, Port Central, erst mal Schluss ...
AUTOMATIK MOTEL
IN
PORT DOUGLAS
03. September 1998, Donnerstag
Ich habe von 2:30 bis 6:30 Uhr sehr gut geschlafen, aber dann ist es wieder aus. Frühstück gibt es um diese Zeit hier sicher noch nicht: Ich koche mir einen Tee und esse Kiwis mit Brötchen. Dann setze ich mich wie gestern auf den Teppich: Im Rücken das Bett, auf den Knien das Tagebuch. So muss man hier schreiben, es gibt keinen Tisch und nur einen völlig unbequemen Stuhl aus Armierungsstahl und Peddingrohr. Das Zimmer ist sauber und freundlich, aber spartanisch eingerichtet: Kein Schrank, kein Tisch, kein Bild, kein Telefon, aber Dusche, WC, AC, TV. Es ist relativ ruhig, weil die Fenster zur Seite raus und nicht auf die Strasse gehen. Man hört vor allen Dingen seltsame Geräusche von Vögeln, das sind wahrscheinlich Papageien oder Kakadus. Aber auch Autos (ohne Hupe) sind zu hören und mitten in der Nacht gehen Leute nach Hause, die (wie überall auf der Welt) dann einen ziemlichen Lärm machen. Jetzt – inzwischen ist es 7:30 Uhr geworden – bestimmen eindeutig die Kakadus den Geräuschpegel. Das Wetter ist wie gestern: Sonne, Wolken, warm. Mein Digitalthermometer zeigt 23,5° an. Die Temperaturen steigen bis gegen 29° an, in der Nacht aber kühlt es sich dann deutlich ab: 22°. Frischer Wind an der Beach und hohe Luftfeuchtigkeit. Aber die Sachen trocknen gut, 100% können es also nicht sein. Aber genau diesen Eindruck hat man: Gegenüber Europa ist die Luftfeuchtigkeit sehr hoch. Aber wie hoch? 80 oder 90 % ? Zufällig sah ich gestern im Fernsehen einen Wetterbericht: Heute 29° in dieser Gegend.
Gestern abend ging ich so gegen 20 Uhr an der Beach von Port Douglas spazieren. Der Mond im Zenit, Wolken treiben von See her auf das Land zu. Sterne, sehr klar, aber es sind nicht viele durch die Wolken zu sehen. Auch hier gibt es wieder dieses eigenartige Licht von Tenggol, wo wir bei Mondschein Fotos gemacht haben. Wenn der Mond nicht hinter den Wolken ist, dann gibt es diese seltsamen Schwarz-Weiss-Bilder. Ich laufe auf dem Strand entlang, den Blick auf Wolken und Sterne gerichtet, da trete ich mit dem rechten Fuss irgendwo rein. Erst dachte ich, es ist eine Qualle. Aber es war ein ganz ordinärer, aber sehr grosser Scheisshaufen. Es stinkt am grossen Zeh, an der rechten Hand und die helle Hose ist auch beschmiert. Aber in meinem schönen Zimmer geht alles wieder abzuwaschen. Kein Problem und sicher als gutes Omen anzusehen. Das nächste Mal werde ich aber meine Taschenlampe mitnehmen.
Der heisse Tee treibt mir beim Schreiben schon den Schweiss auf die Stirn. Die Luftfeuchtigkeit muss also doch sehr hoch sein, ich habe ja fast nichts an. Ich hatte noch keine Bleibe in Port Douglas, da hatte ich schon das Internet-Café entdeckt! In Port Douglas gibt es einen öffentlich zugänglichen Internetanschluss !! Eine Gaststätte mit 5 Rechnern. Man kann sich an einen Rechner setzen und eine E-Mail schreiben oder im Internet surfen. 10 Minuten = 2 Dollar, eine Stunde = 11 $. Stolze Preise und alle Geräte besetzt! Die freundliche Dame erklärt mir, dass der Internetanschluss seit drei Monaten existiert. Offensichtlich ein gutes Geschäft. Da gehe ich heute hin und werde Mails zu Conny, Stefan und nach Halle absetzen. Da werde ich wohl unter 11 $ nicht wegkommen!
Diese Australien-Reise ist eigenartig: Ohne viel Vorbereitung habe ich mich in dieses Abenteuer eingelassen. Ich habe meinen Rucksack gepackt, bin mit der U-Bahn nach Tegel gefahren, plötzlich und unerwartet finde ich mich in einem abgedunkelten Zimmer in Australien wieder und habe nicht mal einen Stuhl! Jetzt muss ich mir als erstes die ganz elementaren Lebensumstände wieder aufbauen: Wo ist ein Teller, wo ist ein Löffel, mit dem man Kiwis essen kann, wo schlafe ich, wo gibt es was zu essen, wo kriege ich einen Hut gegen die erbarmungslose Sonne her ?! Erst wenn das ganz normale Leben wieder funktioniert, kann man sich um die Sehenswürdigkeiten kümmern und daran denken, wirklich Urlaub zu machen. Es zeigt sich, dass man nicht einfach sein Zelt an die Beach stellen kann (trotzdem möchte ich es mal machen ...), denn wo bekommt man Trinkwasser her, einen Tee, wo ist das Klopapier? Die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge funktionieren auf einmal nicht mehr! Es ist irre, das am eigenen Leib zu erfahren! Und wie skurril und widersprüchlich mein gegenwärtiges Dasein ist: Ich weiss nicht, wie ich ohne Stuhl schreiben und wie ich eine Kiwi essen soll. Vor der Tür aber steht ein dickes Auto und ich habe keine Ahnung, wo ich damit eigentlich hinfahren soll oder will. Aber ein Trost bleibt mir: Über E-Mail kann ich einen Hilferuf nach Europa absetzen!
In dieser Situation zeigt sich auch, wie stark wir inzwischen von den zivilisatorischen Segnungen abhängig sind: Wir haben uns an hohe Standards gewöhnt, halten sie für absolut selbstverständlich und erwarten, sie überall wiederzufinden. Es ist Illusion anzunehmen, man könnte da so einfach aussteigen, sich im Outback absetzen lassen und dann im Zelt ohne Bett, Küche, Dusche und Stuhl kampieren. Dabei kann man die tolle Selbsterfahrung machen, dass man sich das zwar vornehmen kann, dass man es aber keine drei Tage aushält. Es gibt ein paar Bedürfnisse, die sind für Leute, die ihr Leben in der hoch zivilisierten und hoch technisierten Gesellschaft gelebt haben, unverzichtbar geworden. Dazu zählen erstaunlich viele Dinge: An erster Stelle steht für mich (ich bin selber sehr verwundert) die Dusche! Dann kommt gleich ein richtiges Bett und ordentliches Essen und Trinken. Deshalb wird mir jetzt schon klar: Den grössten Teil der Nächte werde ich hier nicht im Zelt verbringen. Und wenn Zelt, dann auf einem Campingplatz, denn dort gibt es eine Dusche und andere zivilisatorischen Annehmlichkeiten. Das wird zwar mehr Geld kosten und eine Pauschalreise ist deutlich billiger. Der Vorteil meiner Art zu reisen aber liegt in der Flexibilität und der freien Beweglichkeit. Ich kann jeden Tag, zu jeder Stunde frei entscheiden, wie und was ich mir mit einem eigenen Programm ansehen oder was ich tun möchte. Aber im Gegensatz zur Pauschalreise bedeutet das auch eigene Anstrengung. Das merke ich gerade jetzt, denn jetzt müssen Entscheidungen getroffen und ein Rahmenprogramm gemacht werden!
Heute werde ich damit einen deutlichen Schritt weiter kommen. Ich werde hier in Port Douglas die Möglichkeiten erkunden, wie man Schnorcheln gehen kann und wie man zum Cape Tribulation kommt. Generell werde ich es hier in Australien so machen, dass ich an verschiedenen, schönen Orten Quartier beziehe (Zimmer oder Camping) und von dort aus die Gegend und die Sehenswürdigkeiten erkunden werde. Hier im Norden von Cairns werde ich mindestens eine Woche bleiben: Hier gibt es Regenwald, hier sind nur wenig Menschen und Schnorcheln kann man hier auch. Dafür aber braucht man ein Boot, am besten, man hat sein eigenes.
Eine Weltreise ist wahrscheinlich am einfachsten mit einem Schiff zu machen. Da sind die Mindestanforderungen an den zivilisierten Standard geregelt: Schlafen, Essen, Duschen und man braucht keine Strassen. An jedem Riff, an jeder Küste und an der kleinsten, unbewohnten Insel kann man vor Anker gehen. Herrlich. Ich werde über diese Variante noch einmal gründlich nachdenken: Wo treibe ich so ein Schiff auf, welche Mannschaft nimmt mich mit und was kostet das? Die Mannschaft ist wahrscheinlich das grösste Problem, denn was macht man, wenn man sich auf einer einsamen Insel in der Südsee in die Haare gerät?! Alleine kann man das leider im Gegensatz zu einem Caravan nicht machen.
Und noch eines ist auf so einer Tour sehr wichtig (ich merke es gerade): Früher oder später muss man sich Ziele setzen. Sonst ... ja was ist sonst? Ohne Ziele treibt man richtungslos in der Zeit. Das ist eine ganz andere Variante von Leben als das, was ich in den letzten 50 Jahren praktiziert habe. Interessant genug, sich darüber mal Gedanken zu machen. Aber nicht jetzt, denn jetzt gehe ich mir erst mal Port Douglas ansehen.
8:15 Uhr, Motel Port Central
Alle Zeichen deuten darauf hin, dass immer noch Donnerstag ist – mein Zeitgefühl ist stark irritiert, aber sonst habe ich bis auf die hohe Luftfeuchtigkeit keine Probleme. Auch die Verdauung ist in Ordnung. Ich schreibe, aber ich habe nicht viel Lust dazu. Ich habe gut geschlafen, allerdings zur unrechten Zeit: Von 13:30 Uhr bis 17 Uhr. Am Morgen habe ich gegen 9 Uhr schlecht gefrühstückt. Ein nettes Mädchen servierte mir Tee mit Milch und ein spärliches Müsli mit einem Mini-Yoghurt. Es hat geschmeckt, aber der richtige Genuss war es nicht. Ich sass auf einer Veranda, zwei Meter über der Hauptstrasse. Wind vom Ventilator, ein Holzhaus, einfachste Möblierung, Feriengäste, keine Atmosphäre. Ausserdem hat das Frühstück 9 $ gekostet: Zu teuer für Australien, denke ich.
Die Geschäfte hatten vor 10 Uhr noch nicht auf, meine Einkäufe konnte ich noch nicht tätigen. Also ging ich in das Internet-Café. Das war wohl ursprünglich mal ein Buchladen. Dann kamen Videos und CD’s dazu, schliesslich wurde Geld in fünf Computer investiert, eine Bar für Kaffee und einen kleinen Imbiss wurde auch noch angebaut – fertig war das Internet-Café. Die ganze Vorderfront ist offen und zwischen 8 und 22 Uhr ist hier Betrieb, es scheint zu funktionieren.
Zuerst sah ich, dass die Leute mit Netscape arbeiten. Ich fragte nach der E-Mail-Adresse des Lokals. Die wusste keiner. Man zeigte mir die Internet-Adresse. Auch die Out-Box von Netscape war nicht zu finden. Vielleicht war Netscape nicht vollständig installiert? Es gab eine Mailbox, aber keinen Messenger. Na, egal, ich verstehe selber auch zu wenig davon, weil wir in Halle mit Eudora arbeiten, wenn es um E-Mail geht. Hier genau zeigt sich, wie richtig meine Aussage in den POSITIONEN ist: Computerverweigerer sind die Analphabeten von morgen ...!
Ich schaffe es trotzdem, drei Mails zu schreiben: Die erste an meinen Freund Conny, den ich hier sehr vermisse. Die zweite an meine Kollegen in Halle und die dritte ist ein Geburtstagsbrief an Stefan. Heute, mein Freund, hast Du Geburtstag und ich wünschte, ich könnte Dir hier im Café die Hand schütteln! Manchmal ist es auch schade, dass ich hier alleine bin. Man kann aus Sicherheitsgründen weniger unternehmen, als zu zweit und man kann sich nicht austauschen. Der soziale Kontakt fehlt und ein Kneipenbesuch kann ihn nicht ersetzen. Das wahrscheinlich ist der entscheidende Grund dafür, dass ich schreibe. So kann man das, was man sieht und denkt wesentlich besser verarbeiten. Reisen ohne Schreiben kann ich mir kaum mehr vorstellen! Und ich habe schon oft hin und her überlegt, ob es mit einem Laptop einfacher und praktischer wäre. Aber ich bin zu der Überzeugung gekommen, Papier und Stift sind doch wesentlich variabler und universeller einsetzbar und sie funktionieren ohne jede Infrastruktur. Deshalb also bis jetzt kein Umstieg auf den Stand der Technik.
Also die E-Mails habe ich zustande gebracht und abgeschickt. Aber ich konnte nicht kontrollieren, ob sie auch wirklich in der Ablage als abgeschickte Mails stehen: Wo ist die Out-Box? Keiner weiss es, morgen nach 15 Uhr soll ein Spezialist erscheinen, der diese Frage beantworten kann. (In Australien war immer ungewiss, ob die E-Mail-Kommunikation funktioniert. Erst als ich wieder in Deutschland war gab es Gewissheit: Alle E-Mails sind angekommen, nicht eine ist verloren gegangen!) Es sind wirklich ansehnliche und nette Mädchen, aber alle haben sie von der Technik, die sie hier verkaufen, Null Ahnung. Das sagen sie auf entsprechende Fragen aber nicht, obwohl man ja nicht alles wissen kann. Das ist doch keine Schande. Statt dessen stochern sie ziellos mit der Maus in den Menüs herum, wo ich schon überall gewesen bin ...! Na, macht nichts. Dafür sehe ich die HomePage der Burg Giebichenstein aus Halle hier in Australien. Offensichtlich sind die Rechner hier über ein Modem mit dem Internet verbunden, der Ladevorgang dauert entsetzlich lange. Aber irgendwann kommt dann tatsächlich die Seite aus Europa. Weil hier Zeit wirklich Geld ist, lade ich meine HomePage (heute noch) nicht. Erstens finde ich die Tilde ‚~‘ nicht auf dieser Tastatur und zweitens kostet es Geld und ich habe schon eine knappe Stunde hier verbracht. Aber die Lady nimmt es nicht so genau. 6 Dollar muss ich bezahlen. Das ist wohl die Entschuldigung für ihre Ahnungslosigkeit. Aber eine nette Ahnungslosigkeit! Nun muss ich hier ein paar Tage in der Nähe bleiben um zu sehen, ob ich auch eine Antwort von Halle oder von Conny erhalte – Stefan ist ja noch in Canada, der kann noch nicht antworten. Jetzt ist in Halle gleich Frühstückszeit, vielleicht hat Jörg schon bei Eudora nachgesehen und die Überraschung entdeckt !?
In der Zwischenzeit ist es 10:30 Uhr geworden und alle Shops hier haben auf. Als erstes brauche ich einen Hut. Helios kracht steil vom Himmel und es ist unwahrscheinlich hell. Ich finde einen sehr funktionellen und breiten Hut aus Cotton, den nehme ich für 29,50 $. Die australische kurze Hose ist auch nicht gerade billig: 40 $. Aber Qualität hat auch hier ihren Preis und die Hose ist sehr gut und sie hat viele nützliche Taschen. Alle Sachen sind Made in Thailand! Was brauche ich noch? Ansichtskarten, eine Strassenkarte von Queensland, Papier, gelbe Notizblätter, einen Stift für die Spickzettel. Alles ist zu haben, aber kein Campingstuhl und kein Teelöffel, mit dem man Kiwis essen kann. Kiwis kosten hier 40 Cent pro Stück, im grossen Supermarkt habe ich 5 Stück für einen Dollar gekauft. 40 Cent ist der gleiche Preis wie in der Leipziger Strasse und da haben die Kiwis schon einen Flug über mindestens 12.000 Kilometer hinter sich ...
Am Abend löse ich den ersten Traveller-Cheque bei der Bank ein, die sich im gleichen Haus, wie das Motel befindet. Praktisch. Es ist kein Fee zu zahlen, der Scheck wird ohne Gebühr eingetauscht: Das habe ich bisher auf meinen Reisen noch nirgends erlebt! Anschliessend gehe ich noch einmal Lebensmittel einkaufen: Jetzt habe ich (buchstäblich) einen gut sortierten Fresskorb im Kofferraum und bin nicht mehr auf Gaststätten angewiesen. Das ist gut, nicht nur für den Geldbeutel, sondern vor allen Dingen nützlich für die Unabhängigkeit.
Unter Mittag gehe ich nicht zum Essen, den Kaffee verschlafe ich und am Abend habe ich keinen Appetit. Ich schmiere mir ein Brötchen und esse eine Knackwurst aus Deutschland. Dazu Paprika, Kiwis und Juice aus Australien. Der Paprika erzeugt eine allergische Reaktion an der Unterlippe (Keine weiteren Allergien in den folgenden Wochen nach diesem kleinen Vorfall). Das ganze Abendbrot spielt sich auf dem Fussboden ab, aber das ist kein Problem, so hat man gleich einen herrlich grossen Tisch (es gibt ein Foto davon!). Dabei kühlt der AC das Zimmer auf 23° herunter. Ohne AC ist es 29° bis 30° hier drin, denn die Sonne heizt am Nachmittag die beiden Aussenwände dieses Eckzimmers auf. So aber ist es sehr angenehm. Draussen ist es inzwischen unter 25°, die Sonne ist untergegangen, schon gegen 17 Uhr war sie von Wolken verdeckt.
Vor dem heimischen Abendbrot mache ich von 17:30 Uhr bis 19 Uhr einen Spaziergang durch diesen schönen Ort. Ich gehe an das Cape von Port Douglas und setze mich auf die von der Sonne aufgeheizten, grossen Steine. Ein gepflegter Park mit riesigen Bäumen, die hier vom ursprünglichen Regen- und Mangrovenwald übrig geblieben sind. Diese Bäume sind für mich absolut faszinierend. Ein grosser hat einen Durchmesser (ich habe es abgeschritten ...) von mehr als 30 Metern. Er besteht aus ca. 100 einzelnen Stämmen und ist ungefähr 8 bis 10 Meter hoch. Jetzt ist er zu einem Vordach für Autos degradiert worden. Hier sehe ich zum ersten Mal eine Baumkonstruktion, bei der sich aus ehemaligen, herunter hängenden Luftwurzeln, senkrechte Stützen für die weit ausladenden Äste entwickelt haben. Das ist die blanke Statik !! Alles ist fest verwachsen zu einem einzigen Baumsystem. Das ist kein einzelner Baum mehr, das ist ... ja, was ist das für ein Lebewesen ?! Auf alle Fälle eines, das faszinierend die Naturgesetze demonstriert.
Von diesem Cape hier kann man den Sonnenuntergang gut beobachten. Heute ist er nicht sehr spektakulär, die Sonne geht hinter einer mächtigen Wolkenbank und den Bergen am gegenüberliegenden Ufer unter. Über der dunklen Wolkenwand noch eine Weile heller Himmel der ahnen lässt, wo die Sonne untergeht. Wolken treiben von der See heran. Der Mond ist schon zu 80% eine volle Scheibe. Zu- oder abnehmend, wie ist das hier, wo der Mond auf dem Kopf steht ?! Er ist noch sehr hoch und nach meiner Sternenkarte läuft er fast durch das Zenit. Ich muss morgen mal gegen 15 Uhr gucken, da muss er ungefähr im Zenit stehen. Als ich auf dem Rückweg durch die grossen Bäume gehe, werfen sie im Mondlicht deutliche Schatten. Die Dämmerung ist nur kurz, um 19 Uhr ist schon alles dunkel. Nur am westlichen Himmel sind noch die letzten Spuren des Sonnenuntergangs zu sehen.
Ich gehe einkaufen und nehme mir aus verschiedenen Reisebüros Schnorchel- und Segelprospekte mit. Heute Abend will ich lesen und entscheiden, wie es morgen weiter geht. Das Auto habe ich heute nicht bewegt. Nicht aus Sparsamkeit oder Unsicherheit. Ich hatte einfach keine Lust auf eine Tour. Ich lasse es langsam angehen. Ich muss mich hier wirklich erst mal physisch und psychisch akklimatisieren. Ausserdem habe ich ja jede Menge Zeit und keiner drängelt.
Und ich war gar nicht so faul, wie es vielleicht aussieht: Direkt unter Mittag, wo jeder vernünftige Mensch hier Siesta macht, bin ich auf den Hügel über Port Douglas gelaufen. Das ist ein grosser Felsen in der See, der die Landzunge von Port Douglas geschaffen hat. Ein schöner Aussichtspunkt, vielleicht 120 Meter hoch. Buchstäblich ein Fels in der Brandung. Wegen ihm kann man das Cape Douglas auch nur sehr schwer zu Fuss umrunden. Ich jedenfalls lasse das nach den ersten Versuchen lieber sein: Heile Beine sind wesentlich wichtiger als solche kleinen Abenteuer!
20:40 Uhr, Motel Port Central
Jetzt habe ich an Hand der Prospekte ausgelotet, welche Möglichkeiten bestehen, eine Schnorcheltour zu machen. Das geht praktisch nicht ohne Boot, weil vor den von Land aus zugängigen Stränden keine lukrativen Riffs mehr existieren! Es geht nicht ohne Boot und weil ich keinen Schiffseigner kenne, geht es für mich auch nicht ohne Agentur. Aber da gibt es jede Menge Angebote. Man unterscheidet diverse Inseln und Riffs im Outer Barrier Reef. Nahe Inseln (z.B. Low Isles) kosten 80 bis 90 $ per day, Outer Barrier Reef 100 bis 140 $ per day, je nach Grösse des Bootes, Weite der Fahrt, Bootsausstattung usw. Wenn schon, dann denke ich muss man an das Outer Barrier Reef fahren, dort sind sicher die besten Riffs, weil es weit weg ist. Zwei Anbieter habe ich in die engere Wahl genommen. Das werde ich von hier aus machen, es ist nur die (grosse) Frage wann. Morgen ist Freitag, das ist sicher günstiger als das Wochenende, aber das zu organisieren, ist jetzt, eine Stunde vor Mitternacht zu spät.
Also werde ich morgen in mein schönes Auto steigen und in Richtung Cape Tribulation fahren: Regenwald ist besser zur Akklimatisation, als gleich ein ganzer Tag auf See unter dieser wilden Sonne. Beim oder vom Cape Tribulation aus erreiche ich auch sicher den nördlichsten Punkt meiner Reise in Queensland: Höher geht es nur noch mit Vierradantrieb (4WD). Nach Loose gibt es am Cape Tribulation sehr viele Aktivitäten im Regenwald und auf See – lassen wir uns also ab morgen überraschen.
Jetzt rauscht hier ein tropischer Regen vom Himmel ... Morgen sehen wir weiter. Ich könnte auch einfach noch einen weiteren Tag und eine Nacht hier bleiben und ganz einfach die Seele baumeln lassen. Das werde ich aber erst morgen beim Frühstück auf dem Teppich entscheiden. Jetzt versuche ich aus dem Fernsehen etwas über das Wetter zu erfahren und dann gehe ich ins Bett.
23:00 Uhr, Motel Port Central
Jürgen Albrecht
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