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Dezentral gesteuerte Systeme der Natur
 

Der Mensch ist, solange es ihn überhaupt gibt, ein Meister im Schaffen von Hierarchien. Die frühesten Sozialformen haben nicht ohne ungeschriebene, aber sehr strikte Regeln funktioniert. Am klarsten aber war immer, wer der Chef war und wer in welcher Reihenfolge unter ihm das Sagen hatte. Ich kenne kein menschliches Sozialwesen, das je ohne Chef und ohne Hierarchien ausgekommen ist. Am deutlichsten waren diese auf ein Entscheidungszentrum ausgerichteten Strukturen in den grossen Reichen der Menschheitsgeschichte zu erkennen. Von den ägyptischen und chinesischen Dynastien bis ins späte Mittelalter wurden Kaiser und Könige gesalbt und Hierarchien zementiert. Erst die Demokratie zeigt Ansätze zur Auflösung dieser absolutistischen Strukturen. Aber jede Demokratie ist auch zentral und hierarchisch organisiert, am besten ist das an einem beliebigen Beamtenapparat zu erkennen.

Aber hierarchische Strukturen sind nicht nur in den menschlichen Sozialverbänden zu beobachten. Alle technischen Werke des Menschen weisen hierarchische Strukturen auf. Bei jeder Maschine, bei jedem Apparat und bei jeder technischen Anlage kann man unterschiedliche ‚Organe‘ mindestens für die zu steuernden Flüsse von Materie, Energie und Information finden. Die zentrale Steuerung in technischen Systemen übernimmt meistens der Mensch, weil er kaum in der Lage ist, autonome Systeme auf die Beine zu stellen. Professor Adler, bei dem ich Vorlesungen zur Konstruktion polygraphischer Maschinen gehört habe, postulierte als Konstruktionsprinzip: 'Vermeide Sie es, dass ein Maschinenelement mehrere Funktionen besitzt!‘

Aber es sind auch dezentrale Strukturen ohne explizite Leitungsorgane in der menschlichen Gesellschaft zu finden. Bezeichnender Weise sind das aber Gegebenheiten, auf die der Mensch keinen Einfluss (mehr) besitzt: Die frühesten Sachverhalten dieser Art waren zu beobachten, als die Tausch- und Zinswirtschaft erfunden war und sofort anfing, ein Eigenleben zu entwickeln. Auch die heutige Marktwirtschaft ist dem Einfluss des Menschen weitestgehend entzogen und funktioniert ohne zentrale Steuerung. Die deutschen Bemühungen um die soziale Komponente der Marktwirtschaft zeigen, wie schwierig es ist, in ein dezentrales, sich selbst regulierendes System steuernd eingreifen zu wollen.

Die Entwicklung der unterschiedlichen Hochkulturen der Menschheit sind unabhängig vom Wirken einzelnen Menschen abgelaufen. Wahrscheinlich sind die Bedingungen, die zu den unzähligen Kriegen der Menschen gegeneinander führten, auch so komplex, dass sie von Menschen kaum oder nur gering zu beeinflussen sind. Die Entwicklung der Technik, die Wissenschaft und die Globalisierung sind weitere Beispiele für dezentrale Systeme mit einer inhärenten Steuerung, die in der menschlichen Gesellschaft ohne den direkten Einfluss einzelner Menschen wirken. Es sind Selbstläufer, auch wenn wir sie in Gang gesetzt haben.

Technische Systeme ohne hierarchische Strukturen und mit inhärenter Steuerung ist der Mensch offensichtlich nicht in der Lage zu entwickeln. Schafft er es doch, gleiten sie ihm nach einer Startphase aus der Hand, wie zum Beispiel die Börse. Das beste und aktuellste Beispiel dafür ist das Internet. Es besitzt eine sehr simple Struktur mit einer geringen Zahl von Elementen und es kennt kaum Hierarchien. Das Internet ist zwar ein technisches, von Menschen gemachtes Gebilde, aber gerade wegen der dezentralen Funktionsweise hat es sich schnell verselbständigt und der menschlichen Kontrolle entzogen. Prozessoren für Computer dagegen besitzen eine ähnlich hohe Komplexität wie das Internet, sind aber streng hierarchisch organisiert. Komplexität kann also zentral und dezentral existieren und ist allein kein Charakteristikum für einen hohen Entwicklungsstand.

Erst vor ein paar Jahren ist mir wirklich bewusst geworden, dass die Natur ihre lebenden Systeme mit prinzipiell anderen Materialien und Verfahren erzeugt, als sie der Mensch für seine technischen Werke benutzt. Mehr noch, diese Werkstoffe und Verfahren stehen heute dem Menschen für seine technischen Konstruktionen nicht zur Verfügung. Weil er sie nicht versteht, kann er sie nicht nutzen oder nachbauen. Diese Erkenntnis ist simpel und selbstverständlich, wenn man sie erst mal besitzt. Aber man erkennt diesen Tatbestand sehr schwer, obwohl wir überall und immer von den lebenden Systemen der Natur umgeben sind. Ein klassischer Fall von Betriebsblindheit. Jetzt aber kommt eine weitere, sehr wesentliche Einsicht dazu: Die komplexesten Systeme der Natur funktionieren offensichtlich dezentral und mit sehr flachen Hierarchien.

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