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Natur contra Eisenbahn

 

Endlich Sonne und Frühlingswetter nach so vielen verregneten Tagen! Der richtige Anlass, eine kleine Fahrradtour zu unternehmen. Ich fahre den Mehringdamm hoch und am Flugplatz Tempelhof vorbei. In Tempelhof war ich lange nicht mehr. Aber das große Ullsteinhaus kenne ich noch aus den 50-er Jahren. Hier biege ich nach rechts ab. Arnulfstrasss, kurz vor der S-Bahnstation Priesterweg geht es durch viele Eisenbahnbrücken durch. Hierher will ich.

Wo jetzt die S-Bahn vom Anhalter Bahnhof in Richtung Lichtenrade fährt, das war in den 20-er und 30-er Jahren die direkte 'Einflugschneise' für alle Eisenbahnen aus dem Süden. Aber auch die Züge an die Nord- und Ostsee sind hier lang gefahren. Die Gleise waren auf dieser Trasse gebündelt. Ich schätze, bis zu 20 parallele Schienenstränge führten hier zum Anhalter Bahnhof, einem großen Kopfbahnhof in der Mitte von Berlin. Einer von den vielen Wilhelms hat ihn 18xx eingeweiht und ist dann von hier aus mit seiner kaiserlichen Familie nebst viel Gefolge zu den Seebäder in die 'Sommerfrische' gefahren.

Die Trasse war in Hitlers Krieg entscheidend wichtig, denn über diese Schienen wurde Berlin mit allen Gütern versorgt, die eine Grossstadt benötigt. Als die Alliierten Berlin bombardierten, war dieser Schienenstrang ein bevorzugtes Angriffsziel. Die Bombardierung war so erfolgreich, dass der Anhalter Bahnhof nach dem Krieg 'enttrümmert' wurde. Heute ist dort nur noch eine Wiese zu sehen, so gross wie ein Fussballfeld. Vom barocken Bahnhof ist nur noch ein Teil der Stirnwand quasi als Denkmal erhalten geblieben. Die Schneise, auf der vor dem Krieg fast der gesamte Eisenbahnverkehr von und nach Berlin ablief, wurde nicht wieder aufgebaut. Heute fahren dort nur noch die S-Bahn und unbedeutende Güterzüge. Mit der Zerstörung des Anhalter Bahnhofs hatte die ganze Trasse keine Funktion mehr, plötzlich war es eine Sackgasse. In der Nachkriegszeit wurde der Eisenbahnverkehr über andere Strecken wieder in Betrieb genommen. Die Teilung Berlins spielte dabei eine entscheidende Rolle. Die Bahnhöfe Zoo im Westen und der Ostbahnhof im Osten wurden quasi zu den beiden Hauptbahnhöfen des geteilten Berlins.

Das Bahngelände zwischen Lichtenrade und dem ehemaligen Anhalter Bahnhof fiel buchstäblich in einen Dornröschenschlaf. Gleise wurden demontiert, aber nur teilweise, Gebäude verfielen, ehemalige Bahnanlagen wurden sich selber und der Natur überlassen. Es entstanden grosse, für den Menschen schlecht zugängliche Brachflächen. Für die Natur ideale Bedingungen, sich das Land wieder zurückerobern, was ihr vor reichlich hundert Jahren abgenommen wurde. So entstand mitten in Berlin, unbemerkt von den hektischen Berlinern, ein einzigartiges Naturbiotop. Viele seltene Pflanzen und Tiere haben sich auf einem seit 50 Jahren unberührten Areal angesiedelt. Es ist mindestens 15 Kilometer lang und bis zu 500 Meter breit. Zwischen den S-Bahnstationen Priesterweg und Papestrasse wird es jetzt zu einem Park 'Natur und Technik' ausgebaut. Dieser faszinierende Naturpark ist im Entstehen. Erst im nächsten Jahr wird er offiziell eröffnet.

 

Ich fahre unter den Eisenbahnbrücken der Arnulfstrasse mit dem Fahrrad auf dieses Gelände. ADi, dünn, lang, gesprächig und mit vielen Haaren im Gesicht, fängt mich mit seinen Hunden gleich wieder ein.

Hier am alten, aus Stahl genieteten Wasserturm - 30 Meter hoch und das zukünftige Wahrzeichen dieses Parks - hat er sein Domizil. Er ist Spiritus Rector, Organisator, Geldbeschaffer und Nachtwächter in einer Person und er wohnt in einem Bauwagen mit seinen Hunden auch hier auf dem Gelände. Ich rede mit ihm eine Weile. Er erzählt, was alles mit den 3,5 Mio. gemacht werden soll, dass die Natur so weit wie möglich in Ruhe gelassen wird und dass nur ca. 2,5 Kilometer der ganzen Trasse mit dem Naturpark begehbar wird.

Dann fahre ich in Richtung Papestrasse auf Wegen, die zwischen Gleisen und auf Stahlrosten über das Gelände führen und die noch nicht fertig sind. Ein grosses Gebiet, grün, ruhig, unübersichtlich. Zwei Menschen auf drei Kilometern. Ich sehe heute nicht viel, ich muss wiederkommen.

Absolut faszinierend ist, wie die Natur mit dem unendlich vielen Eisen fertig wird, das seit mehr als 50 Jahren hier liegt und nicht mehr gebraucht wird: Die Natur wächst einfach darüber, deckt es mit frischem Maigrün zu. Dicke Bäume und blühende Fliederbüsche wachsen zwischen den Gleisen, über die ehemals riesige Dampflocks brausten. Schon nach 50 Jahren ist alles vergessen und kaum noch etwas von den schweren, für die Ewigkeit zusammen genieteten, eisernen Wunderwerken der Technik zu sehen. Sogar ganze rostrote Lokomotiven, die sich seit 1944 nicht mehr einen Zentimeter von der Stelle gerührt haben, verschwinden im dichten Grün des Urwaldes, mitten in Berlin. Herrlich und beruhigend zu sehen, mit welcher Entschlossenheit und unerschütterlicher Beharrlichkeit die Natur die menschlichen Werke einfach ignoriert.

Von der Papestrasse fahre ich auf den Potsdamer Platz zu, dessen Hochhäuser von hier aus schon zu sehen sind. Links immer die grüne, alte Eisenbahntrasse. Vorbei an den vielen Brücken der Yorckstrasse, über die kein Zug mehr fährt. Am Gleisdreieck hängt jetzt ein Rosinenbomber, fast über der U-Bahnlinie 1. Das Technikmuseum mausert sich.

Am Anhalter Bahnhof kann man hinter der Wiese auch noch in einer Trümmerlandschaft spazieren gehen. Die Natur hat sie erfolgreich rekultiviert. Ohne menschliche Hilfe. Der neue Zaun hat an der richtigen Stelle ein grosses Loch. Kein Tourist wird dieses ruhige Refugium je zu Gesicht bekommen. Dabei ist es von den Arkaden am neuen Marlene Dietrich Platz nur höchsten 10 Minuten entfernt. Ein Geheimtip.

Jürgen Albrecht, 17. Mai 1999

 

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