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Flüchtlingselend 1945 und 1999

Mir gehen die Bilder von Flüchtlingen, von Flüchtlingscamps im Freien, von Menschen auf Fahrzeugen von verzweifelten Müttern und Kinder so an die Nerven, dass ich zur Fernbedienung greife und den Fernsehapparat ausschalte. Ich kann diese Bilder aus dem Kosovo, die jetzt zu Spitzenmeldungen in allen Nachrichtensendungen avanciert sind, nicht aushalten, denn sie wecken in mir die schrecklichen Erinnerungen an unsere Flucht aus Schlesien vor fast genau 54 Jahren. Ich war neun Jahre alt. Zu jung, um für mein ganzes Leben traumatisiert zu werden, aber ich war alt genug, um die Dimension dieser Katastrophe zu begreifen. Aus Anlass des 50. Jahrestages des Kriegsendes habe ich 1995 aufgeschrieben, wie es uns 1945 auf der Flucht ergangen ist. Heute, jetzt und nur zwei Flugstunden von uns weg, passiert wieder genau das gleiche:

Unsere ganze Familie ging im Mai 1945 von Waldenburg in Schlesien aus ‚auf die Flucht', wie man damals sagte. ‚Die Russen kommen!' das war Anlass genug, alles im Stich zu lassen. Meine Mutter hatte in den letzten Stunden unsere Sachen gepackt und dann die Wohnung noch einmal gründlich sauber gemacht und aufgeräumt. Am Abend gegen 18 oder 19 Uhr fuhr unten auf der Strasse ein Auto mit Anhänger vor. Wir Kinder (Reiner, 14, Jürgen 9, Gerd 5) sahen das von oben aus dem Fenster. Unser Gepäck bestand aus einigen Koffern und jeder von uns hatte einen Rucksack auf dem Rücken, selbst genäht von unserer Mutter. Das Gepäck wurde auf den Anhänger geladen. Wir verliessen die Wohnung in der Überzeugung, in ein paar Wochen wieder zurück zu kommen. Ich weiss nicht, woher diese Gewissheit kam, aber es war immer davon die Rede, dass wir ja bald wieder zu Hause sind. Ich stehe mit den anderen im Flur des Hauses Cochiusstrasse 19, erster Stock. Mein Vater schliesst die Wohnungstür ab (Glas mit Holzeinfassung). Unsere Mutter hat etwas vergessen. Es wird noch einmal aufgeschlossen. 'Ich muss gucken, ob ich den Schlafzimmerschrank richtig abgeschlossen habe.' Nach dieser letzten Kontrolle verlassen wir das Haus.

Dann sehe ich mich auf der Holzbank des Lastwagens sitzen, auf der linken Seite in Fahrtrichtung. Der LKW hat eine Plane, die hinten hochgeschlagen ist, sodass man hinaus sehen kann.

 

Es ist kalt, wir haben Decken um die Beine. Der LKW ist voller Menschen (Arbeitskollegen meines Vaters), der Anhänger mit dem Gepäck schlingert hinter dem Motorwagen. Die Menschen im LKW schreien von Zeit zu Zeit laut auf. Zu uns gehört auch ein Feuerwehrauto. Es fährt vor uns, ständig hört man das 'Tatü-Tata'. Es wird dunkel, wir fahren an brennenden Autos vorbei. Die Autos fahren die ganze Nacht, ich schlafe ein.

Es ist wieder hell. Unser Auto wird angehalten und kontrolliert. Die Leute sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Unruhe und Angst auf dem LKW. Es wird verhandelt. Ein rundes, grosses Brot wird aus unserem Auto von den Kontrolleuren auf die Strasse geworfen. Ein vorbeifahrendes Auto fährt darüber. Schreie. Weinen. Die Männer müssen vom Auto steigen. Die Frauen zetern, Kinder flennen. Später steigen die Männer wieder auf, mein Vater ist dabei. Wir fahren weiter.

Der gleiche Tag? Ein anderer Tag? Wir müssen alle vom Auto steigen. Ich sehe das erste Mal richtig das rote Feuerwehrauto vor uns. Ich bin enttäuscht, dass es keine Leiter hat. Wir stehen mit unseren Rucksäcken auf einer Strasse mit grossen Bäumen am Rand. Das Feuerwehrauto und der Lastwagen mit dem Anhänger fahren los. Das Gepäck wurde nicht abgeladen. Aufruhr und Jammer in unserer Gruppe. Meine Mutter weint und ist verzweifelt, Vater versucht sie zu trösten. Überall viele Leute mit Gepäck, Autos, Handwagen, ein entsetzliches Durcheinander.

Das schrecklich verzerrte Gesicht meiner Mutter über mir. Sie schreit entsetzlich und zieht an meiner linken Hand. Mit einer Rasierklinge schneidet sie in mein Handgelenk. Ich werde aus dem Schlaf gerissen, heule, blute am Hals und an beiden Handgelenken. Es muss früh am Morgen sein. Wo bin ich, was ist los, was hat das alles zu bedeuten? Ein Morgen in einem lichten Wald mit hohen, dünnen Stämmen. Wir Kinder liegen auf Decken, zugedeckt mit Mänteln. Die Eltern kümmern sich um uns. Alle weinen, alle bluten, haben Wunden an den gleichen Stellen. Mein Vater tröstet mich: 'Sei ruhig, bleib liegen, es ist ganz warm, gleich ist es vorbei.' Vater und Mutter legen sich auch hin. Schön, dieser Wald. Durch die Wipfel sieht man die Wolken. Nichts tut mehr weh. Alles ist ruhig.

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