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Nur ein Grad am Horizont

Am Jahresende habe ich mich ziemlich darüber geärgert, dass Stefan in seiner Mail gar nicht auf das Weihnachtspäckchen eingeht. Offenbar ist der Mensch so gewickelt, dass er für seine guten Taten gelobt werden will. Mindestens aber möchte man eine Reaktion sehen. Gar keine Reaktion, da fängt man an zu grübeln. Wenn man aber darüber in Ruhe nachdenkt wird schnell klar, dass das alles ganz normal ist.

Das soziale Hauptproblem unserer Gesellschaft ist die Vereinzelung der Menschen. Sie ist die unmittelbare Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Alle entscheidenden Prozesse in unserem täglichen Leben finden arbeitsteilig und ausserhalb der Familie statt. An der Arbeitsstelle arbeitet man zwar in einer sozialen Gemeinschaft und zusammen mit anderen Menschen, aber nur über einen Zeitraum von 8 bis 10 Stunden und diese Menschen sind nicht die eigene Familie. Sobald die Kinder anfangen, selbständig in den Arbeitsprozess einzusteigen, besteht für sie keine Notwendigkeit mehr, weiterhin in der Familie zu leben. Die finanzielle Eigenständigkeit erlaubt es ihnen, einen eigenen Haushalt zu gründen. Partnerschaften funktionieren meistens auch nur noch zeitlich begrenzt. Auch hier ist der entscheidende Grund die finanzielle Eigenständigkeit von Männern und Frauen. Unter solchen Bedingungen hat praktisch jeder einzelne Mensch ein eigenes, individuelles, sehr freies Leben. Er ist nicht am Leben anderer beteiligt, man kann dazu aber auch sagen: Er kümmert sich um niemanden, nur noch um sich selbst. Gleichzeitig aber kümmern sich auch andere nicht um ihn: Jeder ist mehr oder weniger allein und auf sich gestellt. Diese Zustände haben sich so markant erst in den letzten 50 Jahren entwickelt. So schnell gewöhnt sich kein Mensch daran, auch wenn es unausweichlich ist.

Diese Situation ist weitestgehend unabhängig vom Willen des Einzelnen. Es ist das System, das diese Verhältnisse schafft. Wenn man anfängt zu rechnen sieht man, wie extrem die soziale Vereinzelung ist: Wenn sich Stefan oder Catrin nur täglich 5 Minuten nehmen, um meine Mails zu lesen, oder selber eine zu schreiben, dann spielt der Vater in 0,35 % der Gesamtzeit ihres Lebens eine Rolle. Das ist eine absolut realistische Zahl, sie gilt sicher auch für Conny und wahrscheinlich generell für die Beziehungen zwischen getrennt lebenden Verwandten. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied in der Richtung: Die Mutter und der Vater denken viel mehr an ihre Kinder, als anders herum. An Bekannte denkt man nur einmal während eines ganzen Jahres für 10 Minuten, wenn man eine Weihnachtskarte schreibt.

Mit dieser Situation muss man leben und fertig werden. In der heutigen Gesellschaft ist man allein, ob man es will, oder nicht, spätestens aber, wenn man seine Arbeit aufgegeben hat und alt ist. Viele verkraften den Umstieg in das Rentnerdasein genau deshalb nicht, denn über die Arbeitskollegen sind die wenigen sozialen Kontakte gelaufen, die sie überhaupt noch hatten. Es ist also ein unschätzbarer Vorteil, wenn man aus seinem (meistens auch ungewollten) Singledasein eine Tugend macht und sich damit schon auf das Alleinsein einstellt.

Ich dachte immer, ich hätte alles im Griff. Aber an solchen Punkte wie dem Weihnachtspaket und der Funkstille von Conny sehe ich, dass man sein animalisches Bedürfnis nach sozialen Kontakten zwar mit Vernunft unterdrücken, aber nicht eliminieren kann. Trotzdem hat man kaum eine andere Wahl. Das ganz natürliche

Bedürfnis nach sozialen Kontakten bleibt in diesem Gesellschaftssystem oft aus prinzipiellen Gründen unerfüllt.

Was wäre die Alternative? Das ist eindeutig die Grossfamilie, der Clan. Jahrtausende hat diese natürliche Form des Zusammenlebens das soziale, zwischenmenschliche Gefüge bestimmt. In der Grossfamilie hat jeder seinen Platz und seine Funktion, keiner wird allein gelassen. Es gibt eine interessante Parallele zu offenen und geschlossenen Kreisläufen. In allen von Menschen erzeugten Kreisläufen bleibt etwas übrig: Abraumhalden, Müll und einsame Menschen Nur die Natur beherrscht geschlossene Kreisläufe. Wie aber soll heute eine Grossfamilie funktionieren, wenn ich viel Zeit habe, Stefan 12 Stunden in der Charité arbeitet und Conny in Canada zur Schule geht ?!? An diesem Beispiel sieht man, dass es beim besten Willen nicht funktionieren kann! Das Maximum, das unter einem sehr glücklichen Umstand erreichbar wäre, ist die gemeinsame Arbeit an einem Projekt. Aber wie könnte ein Projekt aussehen, das Vater, Sohn und Enkel gemeinsam fasziniert und das möglichst noch den Lebensunterhalt sichert? Die früher übliche Firmenbezeichnung 'Albrecht & Söhne' weist auf so eine Variante hin. Aber was früher schon ein Sonderfall war, funktioniert jetzt überhaupt nicht mehr.

Als ich mit dem Schreiben bis hier her gekommen war, wurden die Schatten immer länger: Sonnenuntergang an der Peppermint Grove. Ich steige auf das Bike und fahre so weit nach Westen, wie es die Strassen in diesem kleinen Ort zulassen. Dort befindet sich eine Bootsrampe, mit dem 4WD fährt man hier zum Fischen. Ich stelle mein Fahrrad ab und laufe drei bis vier Kilometer am Strand und im warmen Wasser nach Westen, der Sonne entgegen. Schliesslich setze ich mich auf einen Baumstamm, der hier angetrieben worden ist. Endlose, menschenleere Beach nach beiden Seiten. Viel Wasser am Horizont und man kann auch in Richtung Cape Naturaliste Land hinter dem Wasser sehen, die Beach macht also einen riesigen Bogen.

Bei soviel Horizont kommt mir in den Sinn, die 0,35 % das sind ungefähr ein Grad an diesem Horizont. Zehn Meter weg liegt ein alter Autoreifen, den ich als Peilmarke benutzen kann. Der Autoreifen ist schon 3 bis 4 Grad breit! Die Kinder haben, wenn sie eigenständig sind, einen Lebenshorizont von 360 Grad. Ihre Eltern spielen dann noch auf einem Grad dieses Horizonts eine Rolle! Die anderen 359 Grad sind von der eigenen Familie, Arbeit, Freunden, Hobbys und den vielen anderen Aspekten des selbständigen Lebens besetzt.

Ein schönes Bild und es ist realistisch. Auch schon, als meine Eltern noch lebten und ich gerade eine Familie gegründet hatte, war der Stellenwert meiner Eltern in meinem Leben nicht grösser als dieses eine Grad. Mein Vater hat diese Vereinzelung nicht so erlebt, wie meine Mutter. Ihre Isolation in einem Hochhaus, mitten in der Grossstadt, hat sie nur sehr schwer verkraftet. Mehr als ein wöchentlicher Besuch aber war nicht drin.
Mehr ist Illusion. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich mit dem einen Grad am Horizont und dem Alleinsein abzufinden und das beste daraus zu machen. Unter solchen Umständen ist es eine sehr gute Lösung, immer mal auf eine längere Reise zu gehen (solange man es noch kann): Man liegt keinem auf der Tasche und erst recht nicht auf der Seele: Man wird weder gebraucht, noch vermisst.

 

Jürgen Albrecht, Moses Rock, WA, Jahresende 1999

 

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