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Lügen - alltäglich, nützlich und ratsam
 

Es hat grosse Vorteile, wenn man sich an das neunte Gebot hält und nicht lügt: Man hat ein reines Gewissen, braucht keine Ausreden zu erfinden und verwickelt sich nicht in Widersprüche. Aber in einem Staatswesen wie der Bundesrepublik immer bei der Wahrheit zu bleiben, grenzt an Dummheit. Wo die Lüge zum System gehört, muss jeder lügen.

In der DDR war Lüge und Heuchelei in der Politik so an der Tagesordnung, wie heute in der Bundesrepublik. Allerdings wurde in einem anderen Stil gelogen. Von der Ideologie war ein bestimmtes Bild der Gesellschaft entworfen worden und die Partei, die Regierung, der Staat, die Medien und die 'guten Genossen', alle stutzten die Wirklichkeit so zurecht, dass sie diesem Idealbild entsprach. Jeder wusste, dass die Realität anders aussieht, aber jeder hatte sich so an dieses Verdrehen der Tatsachen gewöhnt, dass es selbstverständlich geworden war und nicht mehr auffiel. Trotzdem aber war jedem klar: Die Ideologie, die 'Dokumente' der Partei und die offizielle Propaganda, das alles ist die blanke Lüge.

Es existierte aber ein qualitativer Unterschied zwischen dem offiziellen Sprachgebrauch und den zwischenmenschlichen Beziehungen. Dort spielten Lüge, Heuchelei, Statussymbole und Imageprobleme keine Rolle. Man konnte einem wildfremden Menschen, einer beliebigen Verkäuferin, dem Zahnarzt, dem Nachbarn und dem Arbeitskollegen vertrauen. Auch die STASI besass im täglichen Leben und im Bewusstsein der 'Werktätigen' keinen andern Stellenwert als in unserem heutigen Alltag der BND. Weil der Stil so deutlich unterschiedlich war, haben DDR-Bürger den bundesdeutschen Politikern wesentlich mehr Vertrauen entgegengebracht, als den eigenen Machthabern. Überall in der DDR wurden täglich die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF verfolgt. Auch diesen Nachrichten wurde im Gegensatz zu den DDR-Nachrichten ein hoher Wahrheitsgehalt zugebilligt.

Das alles änderte sich mit der Wende überraschend und rasant. Ich behaupte, in den ersten zwei Jahren nach 1989 ist jeder DDR-Bürger mindestens einmal von einem westdeutschen Geschäftemacher heftig und mit schmerzlichen Folgen betrogen worden. Genau das aber war sehr heilsam. Damit ist den DDR-Menschen auf sehr einprägsame Weise und schlagartig klar gemacht worden, dass in dem neuen System völlig andere Spielregeln gelten: Das Geld und die wirtschaftliche Interessen dominieren ausnahmslos alle Bereiche des Lebens.

Damit geht als Sekundäreffekt ein völlig anderer Stellenwert der Lüge einher. Offensichtlich ist die Lüge eine ganz wesentliche und uralte Methode auf dem Weg zu Ansehen, Karriere, Macht und Geld. Und genau deshalb spielte sie in der DDR nur eine unwesentliche Rolle: In der DDR ging es nie um Geld, Macht oder Karriere. Gezwungenermassen waren alle gleich und in einer Notgemeinschaft nivelliert. Man konnte Vertrauen zueinander haben; nicht, weil sich die besseren Menschen in der DDR versammelt hatten, sondern weil es einfach keinen Vorteil brachte, sich zu belügen. Mit der Lüge konnte man auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen und im alltäglichen Leben kaum etwas erreichen.

Der Unterschied zwischen den beiden deutschen Gesellschaftssystemen war in dieser Hinsicht gravierend. Das Ausmass der Lüge und die bodenlose Heuchelei auf allen Ebenen der Gesellschaft ist für mich der Aspekt, der an dem System Bundesrepublik am schwersten zu ertragen ist. Für manchen Ossi ist auch zehn Jahre nach der Wende noch immer unfassbar, wie tief Lüge, Unaufrichtigkeit und fehlendes Vertrauen auch in die zwischenmenschlichen und privaten Beziehungen hinein reichen.

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