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Pluralismus für alle

In den 50 Jahren der Bundesrepublik hat sich ein hoch kompliziertes Kurssystem entwickelt, mit dem man hierzulande sein Abi macht. Es gibt vier Prüfungsfächer, in denen Kurse zu belegen sind, die jeweils über ein halbes Jahr laufen. Zwei davon sind die sogenannten Leistungsfächer. Ausserdem gibt es Nebenfächer, die man verpflichtet ist, neben den Kursen zu besuchen. Wenn man in den Prüfungsfächern z.B. den Naturwissenschaften maximal ausgewichen ist, holen sie einen in den Nebenfächern wieder ein. Sie spielen dann aber für die Abi-Bewertung kaum noch eine Rolle. Aus 44 möglichen Grund-Kombinationen von zwei Leistungs- und zwei weiteren Prüfungsfächern (im Land Berlin !!), müssen sich die Gymnasiasten in der 10. Klasse die vier Prüfungsfächer aussuchen, mit denen sie sich dann in den folgenden drei Jahren schwerpunktmässig beschäftigen wollen.

Das ganze System verfolgt ein klares Hauptziel: Wie bekomme ich mit möglichst wenig Anstrengung eine möglichst gute Abiturzensur ?! Jeder kann sich das aussuchen, was ihm am meisten Spass macht, wo er sich am meisten zutraut. Was Schwierigkeiten macht, kann jeder links liegen lassen. Im Vergleich zum DDR-Bildungswesen ist damit das Abitur stark verwässert und zwischen den Schülern auch nicht mehr vergleichbar. Die Vergleichbarkeit ist ausserdem noch durch die Kulturhoheit der einzelnen Bundesländer stark in Frage gestellt. Mindestens aber ist dieses Abitur nicht mehr ein generelles Zeugnis der Hochschulreife. Es gibt Abiturienten, die kaum etwas von Naturwissenschaften gehört haben. Die können nach dem Abi eigentlich nicht auf die Idee kommen, ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Aber verbieten wird es ihnen keiner. Leicht wird es den Abiturienten in spe auch durch den Wegfall der Zensuren, die Einführung eines Punktsystems zur Bewertung und durch den Ersatz der jährlichen Versetzung durch eine Abi-Zulassung nach dem 12. Schuljahr gemacht.

Die Tendenz, jeder Anstrengung aus dem Wege zu gehen, setzt sich im Studium fort. Ein extremes Beispiel ist die Ausbildung von Diplomingenieuren an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle. Die Absolventen des Studienganges Innenarchitektur erhalten nach erfolgreicher Diplomprüfung nicht mehr den Titel Dipl.-Des. sondern Dipl.-Ing. Damit sind sie offiziell Diplomingenieure, sie haben aber in ihrer gesamten Studienzeit nichts von solchen grundlegenden Ingenieurdisziplinen wie Wärmelehre, Festigkeitslehre, Höhere Mathematik und Dynamik gehört. In den drei Abi-Jahren sind diese Diplomingenieure

 

wahrscheinlich auch der Mathematik und den Naturwissenschaften maximal aus dem Weg gegangen, denn sie wollten ja anschliessend an einer Kunsthochschule studieren! Mit dieser Art von Ingenieurausbildung ergibt sich bei den Hochschulabschlüssen die gleiche Situation, wie für das Abitur: Das Ausbildungsniveau ist zwischen einzelnen Absolventen und zwischen unterschiedlichen Universitäten nicht mehr vergleichbar.

Der DDR-Zentralismus hat dafür gesorgt, dass jeder Abiturient wusste, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Astronomie und Astrologie gibt. Wer eine Ausbildung zum Diplomingenieur absolviert hat, konnte sich mit einem anderen Diplomingenieur über die Grundzüge der Berechnung von Eigenfrequenzen verständigen. Das ist Vergangenheit, ist Geschichte.

Der Pluralismus ist das, was ich am meisten am heutigen Deutschland schätze. Es ist äusserst angenehm, dass jeder im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten machen kann, was er für richtig hält. Es kommt dem menschlichen Wesen auch sehr entgegen, dass jeder lebenslang nur auf seinen Bauch hören und von Kindesbeinen an das machen kann, was am meisten Spass macht. Ich habe aber den Verdacht, Pluralismus kann sich nur die wohlhabende Gesellschaftsordnung des ‚Westens' leisten. Ein auf dem Pluralismus gründendes Bildungswesen hat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen: Es wird der Eindruck vermittelt, dass alles ohne Anstrengungen zu haben ist, wenn man nur über genügend Geld verfügt. Der fundamentale Unterschied zwischen naturwissenschaftlich gesicherter Erkenntnis und blanker Spekulation geht verloren. Dabei war einmal Ziel des Zeitalters der Aufklärung, die naturwissenschaftliche Weltsicht unter das Volk zu bringen! Und nicht zuletzt fehlt es an solide ausgebildeten Arbeitskräften für die Hightech-Arbeitsplätze der Gegenwart und Zukunft. An Forscher und Forschungsleistungen ist unter diesen Umständen kaum zu denken.

Dieses für die Auszubildenden so angenehme Bildungswesen ist nicht passfähig zum hoch technisierten Wirtschaftsstandort Deutschland. Aber es liegt auf der Linie der Fun-Gesellschaft, die nur Spass haben, jede Anstrengung aber vermeiden will. Hier werden die Leute ausgebildet, die sich später Akademiker nennen, regelmässig den Psychotherapeuten konsultieren, auf Kaffeefahrten Wundermittel und Sprudelbäder kaufen und die Talkshows als Bildungsfernsehen akzeptieren.

Jürgen Albrecht, 29. März 1999

 

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