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Schreiben und Lesen

Zwei Studenten der Burg Giebichenstein hatten eine Idee: Sie waren im ersten Semester an dieser ‚Hochschule für Kunst und Design' herumgeirrt und fühlten sich von der Menge der verwirrenden Angebote erschlagen. Sie fanden keine einfachen und klaren Informationen darüber, was die Lehrer ihnen denn eigentlich beibringen wollten. Aus dieser Not machten sie eine Tugend: Sie initiierten ein Projekt und forderten alle Lehrer dieser Hochschule auf, doch mal auf maximal drei Seiten (10.550 Zeichen !) zu beschreiben, was sie denn eigentlich als das Ziel ihrer Lehre ansehen. Der Ansatz ist völlig logisch, denn zumindestens die Professoren sind ja (im wahrsten Sinne des Wortes) berufen, den Studenten dieser Hochschule auf einem bestimmten Fachgebiet Unterricht zu erteilen. Also müssten sie auch in der Lage sein das, was sie (u.U. vor vielen Jahren ...) der Berufungskommission erzählt haben, mal auf drei Seiten niederzuschreiben. Das Ergebnis wäre beeindruckend: In einem Buch könnte man komprimiert die Lehrmeinungen aller Lehrer einer Hochschule nachlesen.

Der Start des Projekts erfolgte dadurch, dass jeder Lehrer an dieser Hochschule Anfang Juli 1998 einen Brief mit der Aufforderung erhielt, seine Auffassungen bis zum 30. September 1998 aufzuschreiben und an die beiden Studenten Maike Tiedemann und Martin Wipperfürth zu schicken. Der Start war aus meiner Sicht etwas unglücklich, denn es war sehr unklar, was man denn eigentlich abliefern sollte. Folgende Begriffe beschreiben in der Aufforderung an die Hochschullehrer, den zu liefernden Gegenstand: Lehrmeinung, Druckerzeugnis, Referenz, Bestandsaufnahme, Ist-Zustand, Stellungnahme, individuelle Position, Auffassung, Argumente, Inhalte des Lehrangebotes, Konzeption, Standpunkte und Manuskript. Ich schlug den beiden Studenten vor, ein Minimum von Methodik einzusetzen und eine grobe Gliederung, drei bis maximal fünf Überschriften, vorzugeben. Das wurde strikt abgelehnt. Ihre Argumentation lief darauf hinaus: ‚Die Leute werden sowieso Probleme haben, überhaupt etwas aufzuschreiben, da wollen wir ihnen nicht noch vorschreiben, wie sie es machen sollen.' Genau das aber ist methodisch falsch gedacht. Die Arbeit wird deutlich erleichtert, wenn ein paar Überschriften vorgegeben werden. Egal, ich akzeptierte diese Meinung, meine aber war es nicht.

Ich erarbeitete den ersten Entwurf meiner ‚Positionen' und schickte ihn den Studenten zu. Die ganze Kommunikation erfolgte über e-mail. Das erwies sich als sehr einfach und unkompliziert. Deshalb schlug ich vor, die Studenten sollten das eingehende Material gleich ins Internet hängen, wo meine ‚Positionen' seit Ende August 1998 zu lesen waren. Auch das wurde mit dem Hinweis abgelehnt, man wollte diejenigen nicht mit fertigen Standpunkten beeinflussen, die noch nichts abgeliefert haben.

Bis Ende September waren wohl nur sehr wenige Stellungnahmen eingegangen. Die Studenten entschlossen sich, das ganze Projekt um ein halbes Jahr zu verlängern. Sie setzten Ende Februar 1999 als letzten Termin. Auch das war methodisch nicht sehr geschickt, denn der Termin war einfach zu weit weg. Mit dieser Verlängerung war jeder Druck von denen genommen, die sich vielleicht gerade vorgenommen hatten, doch noch etwas aufzuschreiben.

 

Mitte März 1999 bekomme ich eine e-mail von den Initiatoren des Projekts: Das Projekt kann leider nicht wie vorgesehen mit einem Buch abgeschlossen werden, das die Lehrmeinung der Lehrer an der Burg Giebichenstein enthält. Von 123 angeschriebenen Lehrern haben nur ca. 15 geantwortet und ihre Konzepte beschrieben. Die Studenten kommen ins Grübeln, denn ein Verhältnis von 15 :123 haben sie natürlich nicht erwartet.

Ich war von Anfang an skeptisch, fand aber das Projekt unter verschiedenen Aspekten sehr interessant. Mir war klar, dass es viele Lehrer geben wird, die sich aus unterschiedlichen Gründen schriftlich nicht äussern werden. Dass sich aber 90 % der Lehrer so verhalten, habe auch ich nicht erwartet. Auf der anderen Seite überrascht mich diese Situation nicht. Künstler und Designer haben zwar einen Kopf, aber sie benutzen vorrangig ihren Bauch. Und der kann nicht schreiben.

Trotzdem ist das Projekt aus meiner Sicht erfolgreich verlaufen und hat ein hoch interessantes Ergebnis erbracht: Die Ermittlung dieser Zahl von 10% ist ein Resultat, mit dem man sich auseinandersetzen kann oder muss. Ich könnte mir sehr gut ein Buch oder auch ein Web mit fast nur leeren Seiten vorstellen: Das wäre dann exemplarisch Kunst der Moderne und wie es sich dabei gehört, wird der Betrachter mit der Frage allein gelassen: WAS wollten uns die Künstler und Designer mit ihren leeren Seiten wohl sagen ?!

Die Studenten sehen das anders. Sie wollen den Prozess dieses Projekts in einer Ausstellung dokumentieren. Die ersten Entwürfe sollen der Endfassung gegenüber gestellt werden und sie wollen die dazwischen liegenden E-Mail-Kommunikation darstellen. Ich halte das für verfehlt, denn damit wird vom eigentlichen Ergebnis nur abgelenkt: Wenn die Professoren und Dozenten einer deutschen Kunsthochschule (mit Billigung des Rektors) im Rahmen eines Kommunikationsprojekts aufgefordert werden, in knapper Form ihren Lehrauftrag zu beschreiben, dann reagieren 90 % der Hochschullehrer nicht. Das ist das Ergebnis des Projekts und das ist zu hinterfragen.

Aus meiner Sicht liegen die Gründe für dieses Resultat zwischen zwei Extremen: 90 % der Hochschullehrer sind intellektuell nicht in der Lage, ihre Lehrkonzepte aufzuschreiben, weil sie keine haben. Oder: 90 % der Hochschullehrer sind so mit der Lehre beschäftigt, dass sie keine Zeit mehr finden über das nachzudenken, was sie gerade tun. Eine Minderheit wird sich auf den Rechtsstaat und darauf berufen, dass nur der Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt das Recht hat sie aufzufordern, ein solches Papier zu erarbeiten. Und auch wenn er sie auffordern würde, könnte man sich endlos über die Rechtmässigkeit vor Gericht streiten.

Interessant ist auch die Frage, ob diese Situation typisch für alle deutschen Universitäten ist, oder ob wir es hier mit der Spezifik einer Kunsthochschule zu tun haben. Mit Spekulationen darüber werde ich mich zurückhalten, denn ich habe mich sowieso schon viel weiter aus dem Fenster gelehnt, als es einem deutschen Professor ansteht. Aber mit dem Risiko, dass diesen Text jemand liest, kann ich gut leben: Der Bauch kann auch nicht lesen.

Jürgen Albrecht, 12. März 1999

 

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