Zwischen
allen deutschen Stühlen |
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Victor Klemperer hat wahrscheinlich in diesem Jahr einen runden Geburtstag. Aus diesem Anlass sind seine Tagebuchaufzeichnungen unter dem Titel 'Ich sitze zwischen allen Stühlen' neu herausgegeben worden. Ich habe in den 60-er Jahren das erste Mal sein LTI gelesen (Lingua Tertii Imperii) und mich gewundert, dass dieses Buch in der DDR verlegt wurde. Aber so waren die Mächtigen der DDR: Naiv und in völliger Selbstüberschätzung kamen sie nicht auf die Idee, dass es ganz erstaunliche Parallelen im Sprachgebrauch totalitärer Systeme geben könnte. Die Parallelen sind frappierend und ich habe immer gehofft, es würde sich jemand finden, der das Pendant dieses Buches für die Diktatur des Proletariats schreibt: LQI. Q wie quartii. Leider wurde diese Chance offenbar verpasst. Victor Klemperer war Jude und er wurde von den Nazis drangsaliert. Er verlor seinen Lehrstuhl in Dresden und hat das Dritte Reich im Untergrund und nur deshalb überlebt, weil seine Frau keine Jüdin war. Nach dem II. Weltkrieg entschied er sich für das 'bessere Deutschland' und blieb in der DDR. Er hat wieder als Hochschullehrer gearbeitet (zuletzt in Halle ...) und sich zu Anfang auch politisch engagiert. Aber Klemperer war natürlich viel zu intelligent für dieses System. Gerade in den Anfangsjahren war die DDR betont proletarisch und intelligenzfeindlich. Die 'Intelligenz' war eine eigene 'Schicht', keine Klasse. Leider brauchte man diese Leute. Aber bis zum Schluss haben die alten Männer der 'Partei- und Staatsführung' intelligente Leute als unsichere Kantonisten, besonders für ihre 'wissenschaftliche Weltanschauung' angesehen. Mit Recht. Klemperer hat sehr bald gemerkt, dass er von einer Diktatur in die nächste gewechselt war. Aber nach Westdeutschland wollte er auch nicht, weil da die Nazizeit noch lange nicht überwunden war und auch die LTI noch viele Jahre gesprochen wurde. Deshalb fühlte er sich zwischen allen Stühlen sitzend. Aber er war und ist in guter Gesellschaft. Alle Leute, die nicht über einen nur schlichten Geist verfügen, sind in jedem Staat geistig heimatlos und finden sich zwischen den Stühlen wieder. Das ist gesetzmässig und eine Folge des dialektischen Grundsatzes von Anspruch und Wirklichkeit. Der Anspruch ist immer höher als die Wirklichkeit und ein realer Staat kann das nicht leisten, was seine Ideologie, Religion oder seine Staatsphilosophie als Massstab setzt. Wenn der Staat überhaupt eine solche Utopie als Ziel besitzt !! Ich sehe nicht, dass die 'Freie Welt' einen anderen Anspruch hat, als die freie Marktwirtschaft. Vielleicht noch die soziale Marktwirtschaft. Aber dann hört es mit den Werten schon auf. Moral, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Pluralismus, Freiheit - alles hehre Worte, die für den Einzelnen erst dann einen Sinn bekommen, |
wenn er gleichzeitig über deutlich mehr Geld verfügt, als er für das tägliche Überleben braucht. In den Medien wird beklagt, dass sich Deutschlands 'geistige Elite' nicht zur aktuellen Tagespolitik äussert. Dass sie sich aktiv am politischen Geschäft beteiligt, erwartet schon keiner mehr. Was aber soll ein denkender Mensch zum Beispiel heute zum Angriffskrieg der NATO ohne UNO-Mandat sagen ?!? 50 Tage pausenlos Bomben auf die Infrastruktur eines wehrlosen Landes. Jeder halbwegs mitdenkende Mensch kann sich da nur mit Grausen von der Tagespolitik abwenden und versuchen, allen aktuellen Nachrichten zu entgehen. Ich beschäftige mich derzeitig mit Storys, die ich vor drei bis fünf Jahren geschrieben habe. Ich binde sie in mein WebStory ein, ohne sie sachlich zu überarbeiten. Dabei stelle ich fest, dass ich die Welt durch eine subjektive Brille betrachte, die mir in der DDR aufgesetzt wurde. Es ist völlig selbstverständlich, dass 40 Jahre DDR einen Menschen genau so prägen, wie 40 Jahre Bundesrepublik. Mein Problem ist aber das von Victor Klemperer: Ich habe mich nie in der DDR zu Hause gefühlt, ich war nie ein 'guter Genosse', weil ich nie bedingungs- und besinnungslos an die sozialistische Utopie 'glauben' konnte. Ich wollte nicht glauben, ich wollte (und will) es mit meinem Verstand begreifen und akzeptieren können. Ich habe immer zu viel selber gedacht und immer die 'verbotenen Fragen' gestellt, die jedes System zerreissen. Das ist der Grund, weshalb ich mich jetzt auch zwischen den Stühlen wiederfinde. Wieder. Denn zu DDR-Zeiten war mir klar, dass auch die Bundesrepublik nicht das Land meiner Träume ist. Sonst wäre ich aus der DDR ausgereist. Mein materielles Leben hätte ich damit deutlich verbessern können, aber in der Bundesrepublik stellten und stellen sich mir genau so viele nicht zu beantwortende Fragen, wie in der DDR. Mit meinen Storys sitze ich also auch zwischen allen deutschen Stühlen. DDR-Nostalgikern kann ich nichts bieten und für die Wessis bin ich ein unverbesserlicher Ossi. Damit kann ich leben und ich komme auch ohne Psychotherapeuten sehr gut über die Runden. Ich reklamiere für mich den Pluralismus, das beste, was die Freie Welt zu bieten hat. Ich sehe durch meine DDR-Prägung Dinge, die für jeden geborenen Westdeutschen unsichtbar, weil selbstverständlich sind. Es wäre aber ein grosser Irrtum, meine Sicht als DDR-Sicht einzustufen. An die DDR-Verhältnisse hatte und habe ich genau so viele und z.T. sogar die gleichen kritischen Fragen! Leider habe ich damals keine Storys geschrieben. Ich musste 14 Stunden täglich arbeiten, um 1500 'Mark der DDR' im Monat für mich und meine Familie zu verdienen. |
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Jürgen
Albrecht, 11. Mai 1999
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