Die blühenden Landschaften
Vor drei Wochen bin ich mit S-Bahn und Fahrrad zu Stefan nach Spindlersfeld gefahren. Ich bin in Köpenick ausgestiegen und durch die Altstadt nach Spindlersfeld. Heute bin ich mit Stefan und in seinem Auto raus gefahren. Wir fuhren über Adlershof. Dabei habe ich mir nicht die Schaufenster angesehen, sondern die Fassaden der Häuser und ihre Dächer. Was stellt man fünf Jahre nach der Wende fest: Erschreckendes. Was sich wirklich verändert hat, sind die unteren Bereiche der Häuser, da wo die Schaufenster sind. Die Geschaffte sind von eingeführten westlichen Ladenketten übernommen worden. Was früher Konsum und HO war, ist jetzt Kaisers, Meyer, Reno, Horten, Karstadt, Kaufhof und Hertie. Auch die kleineren Läden sind voll in westlicher Hand: Bäcker, Fleischer, Mc Paper usw. Was haben die neuen Besitzer investiert? In ihren Läden und in die Fassade, drei Meter hoch. Wenn man höher guckt, dann sieht das Haus genau so aus, wie zu DDR-Zeiten. Der Putz bröckelt, keine Wärmeisolierung, die alten Fenster und innen die alten Fußbodenbeläge und Plastik Armaturen. Wenn es hoch kommt, sind die Dächer gemacht. Aber auch da gab es in den letzten Zügen der DDR eine Kampagne "Steig auf's Dach" oder ähnlich. Ein Haus wirklich von Grund auf saniert, das ist die Seltenheit, ich schätze, nur 1 bis 3 % aller Häuser sind wirklich saniert, da wo wir lang gefahren sind. Und wer macht das: Die Banken, Versicherungen oder Krankenkassen. In der Dörpfeldstraße habe ich heute gesehen: Eine pompöse Marmorfassade schräg gegenüber vom Kino: Eine Bank. In Köpenick, an der Brücke, das Stammhaus der Köpenicker Bank, das sieht wie neu aus. Aber ansonsten - nichts von den blühenden Landschaften. Aber offensichtlich tut sich was in der Infrastruktur, die unterirdische Wirtschaft, Straßen und Brücken. Das ist ja auch sinnvoll und notwendig, denn alles was unter der Erde liegt, ist auch schon 100 Jahre alt. Auf der anderen Seite kann man absolut nichts anderes erwarten. Wie soll das, was im Westen in 30 bis 40 Jahren gewachsen ist, im Osten auf einmal in drei Jahren entstehen? Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes, das ist rein eine Frage der Logistik. |
Auch wenn jede Menge Geld da wäre, es gibt überhaupt nicht die Handwerker, die Materialmenge und die Technologie, alle Häuser, alle Straßen, alle Gaststätten, Flugplätze und Eisenbahnstrecken innerhalb von 1000 Tagen auf den neusten technischen Stand zu bringen. Das ist technisch einfach nicht möglich, von den Finanzen mal völlig abgesehen. Und doch ist es depremierend zu sehen, daß fünf Jahre nach dem Mauerfall überall noch DDR-Zustände herrschen. Die gleichen Straßenbahnen, die gleichen fürchterlich dreckigen Eisenbahnzüge, die gleichen verfallenen Häuser und vor allen Dingen: Die gleichen DDR Menschen mit ihrer Versorgungs- und ihrer Jammermentalität. Jeder wartet darauf, daß ihm der Staat aus der Patsche hilft. Beim Einkaufen erkennt man sofort, wer im Westen und wer im Osten groß geworden ist. Ostler werden bis an ihr Lebensende weder Bitte noch Danke sagen können. Und daß jetzt der Kunde König ist, werden sie in ihrem Leben nicht mehr begreifen. Das ist sehr sarkastisch ausgedrückt, aber wahrscheinlich ist es die traurige Wahrheit. Und die Ostler sind einfach nicht konkurrenzfähig. Das fängt im Reisebüro an und hört bei der Druckerei auf. Ein Beispiel: Gestern habe ich den Druckauftrag für mein DECOS-Handbuch vom Ost-Buchbinder wieder zurückgezogen. Für 500 Broschüren a 90 Seiten A5, Offsetdruck, wollte er 3.500 DM haben. In Kreuzberg, wo ich mehrere Konkurrenzangebote eingeholt habe, machen sie das für 2.400 DM. Aber nicht nur der Preis ist besser. In Kreuzberg drucken sie das Handbuch auf einer richtigen Maschine und mit Alu-Platten in Offset. Im Osten wollten sie das Original in einem Spiritus-Umdruck-Verfahren kopieren: Deutlich schlechtere Qualität. In der Summe bedeutet das: Doppelter Preis und halbe Qualität im Osten. Nur gut, daß ich das noch rechtzeitig gemerkt habe. In Berlin ist das ja alles kein Problem, man geht ein paar Straßen weiter und da ist seit Jahren heile Welt. Aber in Halle ... ! Jahrzehnte werden noch vergehen, bis man keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West sieht. Wenn es überhaupt jemals so weit kommt. |
Jürgen Albrecht, 27. März 1994