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Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer


Am 9. November 1989 war ich in Halle und es lief ein DECOS-Lehrgang. In dem Raum des Lehrklassengebäudes, wo sich heute das PC-Atelier befindet, stand ein Fernseher. Wir sahen die Pressekonferenz von Schabowski und keinem fiel etwas auf. Um 22.30 Uhr Tagesthemen. Herr Friedrichs gibt Gerüchte weiter, wonach es angeblich DDR-Bürger in Berlin an einigen Grenzübergängen geschafft haben, ohne Visum, nur mit ihrem Personalausweis, in Westberlin "einzureisen". Ich sage mir, das ist so unwahrscheinlich, daß ich erst mal ganz beruhigt ins Bett gehen kann. Erst am nächsten Morgen um 6 Uhr höre und sehe ich in Radio und Fernsehen, was in der Nacht in Berlin los war und was an diesem Morgen dort los ist...!

Duplizität der Ereignisse: Auch fünf Jahre danach bin ich in Halle und es läuft ein DECOS-Lehrgang. Damit sind die Parallelen aber schon erschöpft. Ich hatte mir vorgenommen, meinen Fehler von 1989 auszubügeln. War ich damals schon nicht in Berlin, wollte ich fünf Jahre danach wenigstens hier sein. Ich verabschiede mich um 18 Uhr von den Studenten und um 22.15 Uhr bin ich in meiner Wohnung in Berlin. Fernseher an. Praktisch auf allen Kanälen die Wiederholung der Bilder dieses historischen Novembers. Volksfest am Grenzübergang Schluthop/Bremen, Riesenparty im Tränenpalast, S-Bahnhof Friedrichstraße mit Außenreportern, Reporter auch am Brandenburger Tor. Diskussionsrunde mit vielen alten Bildern in ARD und ZDF, nur unterbrochen von den Tagesthemen. Dort gibt es auch nur dieses eine Thema. Gegen 22.50 Uhr wird zum Brandenburger Tor geschaltet und der dortige Reporter spricht von einer Stimmung wie vor fünf Jahren.

Ich ziehe mich warm an, steige auf mein Fahrrad und fahre um 23 Uhr zu den Brennpunkten dieser tollen Stadt:

Check-Point Charly:
Ein großes Zelt, viel Licht, Köche, Champagner, fahrbare Tresore, unauffällige, große, schwarze Männer, Polizeifahrzeuge, leere Straße. Eine streng abgeschirmte feine Gesellschaft feiert. Erst dachte ich, es geht um die Grundsteinlegung für den hier entstehenden, teuren Neubau amerikanischer Investoren. Es war aber nur die Geburtstagsparty von Senator Pieroth (FDP), er wurde 60 und kann es sich leisten, hier ein Festzeit aufzustellen.

 

Brandenburger Tor:
Angestrahlt, wie auch der Reichstag. Transportfahrzeuge, Räumkolonnen, Polizeifahrzeuge. Die TV-lnstaliationen werden abgebaut. Einige Fahrräder, höchstens 20 Menschen, die nicht aus beruflichen Gründen hier sind. Ein Pärchen mit Weingläsern (vom Fernsehen ?) steht auf der Westseite direkt vor dem Tor, durch das der normale (Bus- und Taxi-) Verkehr läuft. Ich sage: "Prost, wir drei sind wohl die einzigen Mauerspechte hier ?" "Ja," sagt der Mann, "einige wissen wohl doch noch, was damals hier passiert ist."

Tränenpalast, Friedrichstraße:
Die frühere Ausreisehalle für Westreisen, also das offizielle Loch in der Mauer. Heute eine Halle für Veranstaltungen. Der Raum ist mit Studiotechnik vollgestopft, hier finden Rock Konzerte und Shows statt, mit denen Geld zu machen ist. Der S-Bahnhof ist dort angestrahlt, wo "Friedrichstraße" zu lesen ist. Übertragungswagen, viel Licht im Tränenpalast, draußen kaum Menschen. Vor den Eingängen Rausschmeißer. Ich will rein. Der große, schwere Mann sagt (wörtlich): "Hier kommt keiner rein. Geschlossene Gesellschaft! Nur mit Einladungen! Fernsehen und so... alles life !"

Das war die tolle Nacht des 9. November 1994 in Berlin. Alles life. Jetzt erst weiß ich, was ein "Medienereignis" ist. Das Volk braucht man dazu nicht mehr, nur Stars und Talkmaster.

Vor fünf Jahren war ich (einen Tag später) um diese Zeit auf dem Ku'damm unterwegs. Als Tramper von Halle aus über Drewitz in West-Berlin "eingereist". Dann lief ich zu Fuß über den Kaiserdamm zur Gedächtniskirche. Um 20 Uhr läuteten die Glocken, ich stand am Kranzler-Eck und mir wurden die Knie weich ... Die ganze Nacht war ich unterwegs und sah dann weit nach Mitternacht an der Jannowitzbrücke, wie die seit 40 Jahren eingemauerte U-Bahn aufgestemmt wurde. Da erst war mir klar, daß es ein Zurück nicht mehr gab.

Und heute? Die Medien haben schon das nächste Ereignis im Visier: Stefan Heym, durch einen PDS Coup Alterspräsident des Bundestages, war angeblich ein STASI-Spitzel. Der Alltag frißt die Erinnerungen. Eigentlich hätte ich heute auch in den Film NATURAL BORN KILLERS gehen können.


Jürgen Albrecht, 10. November 1994

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