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Kardinalproblem Wachstum

Mehrwert ist das, was man zum eigenen Überleben nicht benötigt. An einem Baum wächst ein Apfel, an einem anderen wachsen Nüsse, eine unscheinbare Pflanze mit großen Blättern versteckt darunter einen riesigen Kürbis. Alles Mehrwert, den diese Pflanzen erzeugen. Selbst brauchen sie ihn nicht, er sichert aber die Erhaltung der Art. Ein Vogel, die Ameisen, der Hamster - Tiere erzeugen Mehrwert, um schlechte Zeiten zu überleben oder um die Aufzucht der Nachkommen zu sichern. Der Mehrwert ist keine Erfindung des Menschen oder gar die von Karl Marx. Aber er hat diesen Begriff vor 150 Jahren geprägt.

Mehrwert und die Entwicklung menschlicher Zivilisationen hängen eng zusammen, bedingen sich wie im Tierreich. Ein Ameisenstaat funktioniert durch Arbeitsteilung. Zwangsläufig müssen die Ameisen, die für die Ernährung zuständig sind, mehr Nahrungsmittel erzeugen, als für das eigene Überleben notwendig ist. Dafür werden sie von Soldatenameisen geschützt, die sie aber ernähren müssen. So ein einfaches Prinzip. Und genau nach diesem Muster waren bisher auch die menschlichen Hochkulturen organisiert. Arbeitsteilung und Mehrproduktion.

Mindestens drei Milliarden Jahre hat das in Fauna und Flora funktioniert. Berücksichtigt man die Frühform der menschlichen Entwicklung, dann wurden die Prinzipien Arbeitsteilung und Mehrproduktion auch im menschlichen Zusammenleben schon seit rund 200.000 Jahren erfolgreich angewendet.
Bis jetzt. In der gegenwärtigen Kulturperiode verkehrt sich gerade dieses Prinzip ins Gegenteil. Es stabilisiert nicht das menschliche Sozialsystem, sondern es führt seit 150 Jahren auf geradem Weg zum globalen Kollaps.

In der Evolution des Lebens ist es bisher nie einer Art gelungen, so viel und so effektiv Mehrwert zu produzieren, wie wir das jetzt können. Diese Mehrproduktion aber kippt das Gleichgewicht, das sich seit der Entstehung des Lebens auf der Erde eingepegelt hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind frühe menschliche Hochkulturen auch durch Recourcenmangel zugrunde gegangen. Recorcenverschwendung und Eingriffe in die natürliche Umwelt erreichen jetzt aber ein Ausmaß, das nicht nur die gegenwärtige Zivilisation, sondern auch die Artenvielfalt und das Leben an sich bedroht.

In der Industriegesellschaft des 19. und des 20. Jahrhunderts sind Wachstum und Mehrwert der Motor des technischen und des sozialen Fortschritts. Die Verteilung von Mehrwert ist die Ursache von Kriegen, sozialen Revolutionen und sozialistischer Experimente. Gewinn, Lebensstandard und Wohlstand sind abhängig von der Effektivität der Arbeit, dem technischen Fortschritt, von Wachstum und Mehrproduktion. Was liegt näher, als diese Begriffe zu Zielvorstellungen sozialer und philosophischer Systeme zu erklären und darauf ganze Gesellschaftsordnungen aufzubauen? Die Gier nach Mehrwert wird zum Gattungswesen des Menschen.

 

 

Jetzt aber wird immer deutlicher, dass dieser Gesellschaft ein entscheidender logischer Fehler unterlaufen ist: Nach den uns bekannten Naturge-setzen kann kein System funktionieren, das auf permanenter Produktionssteigerung bei endlichen Recourcen basiert. Es ist einfach unmöglich, 10 Liter Wasser in einen Eimer zu füllen, wenn man nur 6 Liter Wasser hat.  Warum aber gehen dann gut ausgebildete, technisch hochgerüstete Wissenschaftler, Manager und Politiker davon aus, dass es auf Dauer möglich ist, das Sozialprodukt jährlich um 3 Prozent zu steigern - Möglichst sogar um 5 bis 8 Prozent?

Warum sind Wachstum, Produktionssteigerung, sozialer und technischer Fortschritt höchste gesellschaftliche Ziele, die weder von der Wissenschaft, der Philosophie, der Wirtschaft und schon gar nicht von der Politik in Frage gestellt werden, obwohl doch deutlich erkennbar ist, daß Energie, Rohstoffe, Landfläche, Luft und Wasser nur in endlicher Menge zur Verfügung stehen?

Warum sich die Menschheit diese einfache Frage nicht stellt, ist nur dadurch zu erklären, daß der Mensch keinen Sensor, kein Gefühl, kein Verständnis für Fragen hat, die sich erst in der nächsten oder übernächsten Generation stellen: Jetzt gibt es Land, Wasser, Luft, Kohle, Öl, Aluminium, Benzin und Tropenholz. Punkt. Jetzt ist das alles sogar besonders billig und leicht verfügbar. Wer soll warum über ein Problem nachdenken, das heute, Dienstag, nicht akut ist und es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch morgen am Mittwoch nicht sein wird ??!

Die spannende Frage ist, wie die Entwicklung einer Gesellschaft weiter verläuft, die ihre Existenz auf einm massiven Denkfehler aufbaut! Auch Karl Marx hat bei seiner Analyse des Kapitalismus den permanenten Fortschritt in die Utopien von Sozialismus und Kommunismus übernommen. Gerade ihm hätte (im 19. Jahrhundert!) die Unzahl der offenen Kreisläufe auffallen müssen, die der Mensch mit seinen Techniken provoziert. Die Natur aber funktioniert ausschliesslich mit geschlossenen Kreisläufen.

Wo sind die Intellektuellen und die Politiker, die eine Gesellschaftsordnung entwickeln, deren Lebensstandard den verfügbaren Recourcen entspricht und der auf diesem Niveau stabilisiert wird? Vor allen Dingen: Wie ist das mit den Menschen zu erreichen, die gegenwärtig auf der Erde leben?

Aber vielleicht ist gerade das charakteristisch für die heutige Zeit: Mit der jetzt existierenden Sorte von Menschen ist kein Gesellschaftssystem möglich, das mit den verfügbaren Recourcen zufriedenzustellen ist: Jeder muss ein Auto haben (das die meiste Zeit vor der Tür steht) und täglich warm duschen.

Wenn das so ist, bleiben uns nur Utopien.

Jürgen Albrecht, 06. Juni 1995

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