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Das Ostgefühl

DER SPIEGEL 27/95 hat analysiert, wie das zusammenwächst, was nicht zusammengehört. Ein interessantes Material, das mit statistischen Daten unterlegt ist. Es ist faszinierend, wie sark sich die Meinungen in relativ kurzer Zeit verschieben. Aber das ist ja bei oder kurz vor Wahlen noch deutlicher zu sehen. Wir sind auf die Gegenwart programmiert, Vergangenheit verschwimmt sehr schnell und Zukunft ist erst interessant, wenn sie da ist.

Mir ist beispielsweise aufgefallen, daß es mich überhaupt nicht mehr bewegt, ob Egon Krenz wegen Wahlfälschung angeklagt oder verurteilt wird. Er soll jetzt angeklagt werden. 1990 wäre das ein riesiges Thema gewesen. Ich glaube nicht, daß es heute einen Ossi noch interessiert. Die einen bestreiten die Wahlfälschung immer noch und den meisten anderen ist es (wie mir) einfach egal.

Es ist doch völlig klar, daß die Wahlen gefälscht wurden. Zu DDR-Zeiten hat jeder gewußt, was von diesen 'Wahlen' zu halten war. Von vorn herein stand fest, daß 99 % 'für die DDR' stimmen werden. Ich habe damals immer gesagt, ich kämpfe für mindestens 102 Prozent. Das zeigt, was wir davon hielten.

Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, das wir alle kennen: Ja, es gibt Ossi's und es gibt Wessi's. Deutliche Unterschiede in der materiellen und psychischen Befindlichkeit.

Generell sind die Ossi's durch ihre Vergangenheit in der DDR benachteiligt: Fünf Jahre nach der Währungsunion verfügen die Menschen im Osten offiziell über 70 Prozent des Westeinkommens, de facto sind es höchstens zwei Drittel. Und das natürlich auch nur, wenn sie Arbeit haben. Die Arbeitslosigkeit liegt im Osten bei mindestens 25 Prozent. Verständlich, dass diese entscheidenden Zahlen auf das 'Ostgefühl' durchschlagen.

ABER und das ABER kann man nicht groß genug schreiben: ABER ich bin davon überzeugt, wir haben ein riesenhaftes Glück bei der ganzen Sache gehabt: Ich behaupte glatt, dass es bereits fünf Jahre nach der Wiedervereinigung heute jedem Ossi (sogar wenn er arbeitslos ist) materiell besser geht, als es ihm in der DDR je gegangen ist. Und zweitens ist es ein Glücksfall, dass die DDR implodiert ist. Hätten die 'führenden Genossen' des 'sozialischen Lagers' nur etwas geschickter und weniger borniert agiert, säßen wir jetzt noch hinter der Mauer.

Wenn man dann noch sieht, wie es unseren ehemaligen 'Klassenbrüdern' im Osten, in Nordkorea, China und in Cuba geht, dann können wir nur täglich dem Papst auf Knien dafür danken, daß er für uns beim großen Vorsitzenden ein gutes Wort eingelegt hat.

 

Genau so uninteressant ist für mich inzwischen, ob Gysi zugibt, ein Stasi Spitzel gewesen zu sein. Auch diese Frage ist längst geklärt, aber natürlich wird er es (wie auch Stolpe) nie zugeben. So ist der Mensch.

Daß trotzdem viele Deutsche in Ost und West unzufrieden sind, ist menschlich.
Der Mensch ist nur dann glücklich und zufrieden, wenn er es gar nicht merkt, daß ihm nichts fehlt und auch nichts weh tut.

Jürgen Albrecht, 09. Juli 1995

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