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Shell gibt entnervt auf

1994 hat der britische Ölkonzern Shell einen Gewinn von 30 Milliarden DM erwirtschaftet. 1995 geriet Shell in Europas Schlagzeilen: Shell fördert Öl in der Nordsee. Dazu müssen Versorgungs- und Bohrplattformen in der See gebaut werden. Das sind riesige Installationen, 150 Meter hoch ist keine Seltenheit, tausende von Tonnen Stahl. So eine Ölplattform ist die 'Brent Spar'. Sie ist vielleicht 8 bis 10 Jahre alt, hat sich amortisiert und jetzt wird sie nicht mehr gebraucht. Da stellt sich für den Konzern die Frage: Wie werden wir das Ding am billigsten wieder los? Shell beantwortet die Frage genial einfach: Wir versenken den Schrott im Meer, an einer 2500 Meter tiefen Stelle, westlich der Hebriden. Der Konzern arrangiert sich unter Umgehung des Parlaments mit der britischen Regierung, internationale Abkommen, die ein solches Vorgehen verbieten, gibt es nicht. Alles klar, die Plattform wird zu der tiefen Stelle geschleppt.

Greenpeace, die weltweit agierende Umweltschutz Organisation (Spenden als Finanzgrundlage), wird auf dieses Vorhaben aufmerksam. Sie wittert einen Präzedenzfall für Ölinstallationen der Nordsee und besetzen Brent Spar. Durch weitere Aktionen von Greenpeace gerät das ganze Unternehmen mit Hilfe der Medien in das öffentliche Bewußtsein. Plötzlich stellt sich der berühmte kleine Mann auf der Straße ganz einfache Fragen: Warum kann ich denn nicht mein altes Fahrrad in die Spree und mein Auto in den Müggelsee schmeißen? Warum kann ich mich denn nicht mit Kohl direkt einigen, wenn ich ein Problem habe? Und warum soll ich denn bei Shell tanken, wenn mir diese Praktiken nicht gefallen?

Alles kann der kleine Mann tun, ohne daß ihn jemand daran hindert und ohne daß es jemand zur Kenntnis nimmt: Er kann Fragen stellen, auch öffentlich, im Fernsehen oder auf einer Demo. Er kann schreiben, meckern, einen Verein gründen und auch eine Partei, Leserbriefe schreiben, selber eine Zeitung gründen. Er kann auch wählen wen er will. Das alles stört niemanden, solange es nichts bewirkt. Die Kreise der großen Macher werden nicht gestört, solange der kleine Mann allein ist und als Einzelkämpfer agiert. Auch wenn er 100 oder sogar einmal 10.000 Anhänger um sich versammeln kann - die kriegen bald Hunger, gehen was Essen und kommen nicht wieder. Das Rezept 'Proletarier aller Länder vereinigt Euch' ist genau richtig, übrigens nicht nur für Proletarier. Seit 150 Jahren gibt es nur ein kleines Problem:
Es macht keiner mit.

 

Was aber passiert, wenn der kleine Mann sein Auto stehen läßt und kein Benzin mehr kauft ?! Das wäre ganz fürchterlich schlimm, nicht nur für Shell, sondern für alle Ölscheich's von Arabien bis Texas. Ganz schlimm auch für die deutsche Autoindustrie, denn dann geht ja das Auto auch nicht kaputt und ein neues braucht der kleine Mann erst recht nicht. Was soll da mit den vielen Arbeitsplätzen werden, die nur existieren, weil viele kleine Männer mit vielen großen Autos fahren ?!!

Na, Gott sei Dank, auf solche wilden Gedanken kommt der kleine Mann nicht. Aber er geht einen kleinen Schritt in die richtige Richtung und nicht zu einer Shell Tankstelle, sondern zu der eines anderen Multi's. Schon das reicht, jetzt wachen die Macher auf. Viele Autofahrer haben sich in den letzten 14 Tagen solche einfache Fragen gestellt und sind dann bei der Konkurrenz tanken gegangen. Umsatzrückgang bei den Shell Tankstellen von 20 bis 60 %. Anschläge auf Shell Tankstellen. Blockade von Shell Tankstellen. Boykottaufrufe von Umweltorganisationen. Plötzlich wird die Kirche, werden die Politiker wach: Boykottaufruf des Kirchentages (natürlich des evangelischen ...), Boykottaufruf des Wirtschaftsministers und der (ansonsten schlafenden) Umweltministerin. Sogar der Kanzler beschäftigt sich mit Ölplattformen, es hätte nicht viel gefehlt und auch er hätte zum Boykott aufgerufen.

Plötzlich eint das ganze Land ein gemeinsamer Feind. Deutsche Autofahrer, rettet die Nordsee! Rettet die Umwelt! Auch in anderen Ländern Europas regt sich Protest, aber Deutschland ist führend in der Entrüstung. Dafür gibt es in Deutschland - einzig auf der Welt - kein Tempolimit auf Autobahnen.

Shell organisiert eine Anzeigenkampagne. Sie kostet 30 Millionen DM, ungefähr soviel, wie die ordentliche Entsorgung einer Ölplattform kostet. Die Kampagne zeigt keine Wirkung. Gestern hat Shell entnervt aufgegeben. Brent Spar wird an Land entsorgt!

Mit gutem Gewissen können wir jetzt wieder zur Tagesordnung übergehen: Autofahren, was das Zeug hält, Energie in jeder Form verheizen, alles kaufen, was wir nicht brauchen, alles verpacken und nichts recyclen, alles über die Flüsse ins Meer spucken, was wir aus dem Supermarkt geholt haben und uns dabei in den Tropenholzmöbeln räkeln:

Der kleine Mann im Glück.

Jürgen Albrecht, 22. Juni 1995

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