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Extreme Sport

Was macht der Mensch mit seiner Zeit, wenn er satt ist?! Wenn er eine trockne Wohnung hat, vor Gesundheit strotzt und ein gefülltes Bankkonto besitzt, das ihm ein Leben ohne Arbeit ermöglicht? Was ist dann noch zu tun? Nichts. Dann gibt es den berühmten 'Ernst des Lebens' nicht mehr. Genau in dieser Situation sind wir in der ersten, der reichsten Welt spätestens seit Ende des Kalten Krieges. Es gibt keine existentielle Bedrohung mehr, trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten herrscht extremer Wohlstand im Vergleich zu den Entwicklungsländern. Deutschland ist heute so reich, daß es sich beispielsweise leisten kann, jährlich mindestens 50 Milliarden DM für die Sozialhilfe auszugeben. Wie verbringen die vielen Leute ihre Zeit, die nicht von der Sozialhilfe, sondern von ihrem Kapital leben? Ohne Arbeit und Existenzangst kann man sich auf das Spielen konzentrieren. Aber auch Fußball, Leichtathletik und Schach wird auf die Dauer langweilig. Ein 'neuer Kick' muß her. Für diese Leute wurde der Extremsport erfunden. Allerdings holen sie sich den 'Kick' meistens als Zuschauer und nicht als Sportler, denn das ist ja schon wieder Anstrengung und fast Arbeit.

Was ist Extremsport? Das Autorennen der Formel Eins rechnet man schon nicht mehr dazu, das ist ja sooo normal. Aber man kann ja einen Traktor mit vier Flugzeugtriebwerken hochrüsten und der schleppt dann ein riesiges, immer schwerer werdendes Gewicht möglichst weit. 100 Meter ... Hurra, Full Pull !!

Man kann auch Fahrzeuge bauen, die zwar verkehrsuntauglich sind, aber in kürzester Zeit über eine Meile sprinten. Solche Rennen gibt es auch auf dem Wasser: Wer hat den größten Motor im Boot und überschlägt sich nicht schon bei der kleinsten Welle? Und wer segelt alleine am schnellsten über den Atlantik? Drei bis vier Tage nonstop, Kurzschlaf an der Pinne inclusive. Solche Rennen kann man zur Freude von VOLVO auch über alle Weltmeere veranstalten. Das dauert ungefähr ein Jahr, aber da hat man ja endlich was zu tun!

Der Marathonlauf ist viel zu einfach. Deshalb gibt es jetzt den 'Iron Man': Erst 10 km schwimmen, dann 500 km Fahrrad fahren und dann noch 25 km rennen. Schon der ist gut, der diesen Lauf unter 24 Stunden absolviert. Für die Zahlen verbürge ich mich nicht, es kann auch die doppelte Strecke sein, auf alle Fälle ist es mörderisch. Aber inzwischen machen hier auch eisenharte Frauen mit!

Ein Mann hat sich 1996 die Freude gemacht und ist in 80 Tagen um die Welt gefahren. Jule Verne lässt grüssen, allerdings hatte er nicht vor, diese Tour mit dem Fahrrad zu unternehmen. Das war die Idee von Hubert Schwarz aus Germany. Begleitet von einem Versorgungstroß und einem Kamerateam hat er alle Kontinente durchquert, die Wasserstrecken hat er mit dem Flugzeug genommen.

 

Mit dem Fahrrad, das inzwischen Mountain Bike heißt, kann man auch noch andere schöne Dinge tun. Beispielsweise so schnell wie möglich einen steilen Berg auf Feld- und Schotterwegen runterfahren. 1000 m Höhendifferenz in 10 Minuten o.ä. Zahlen ohne Gewähr. Frauen und Männer testen auf solchen Touren die Haltbarkeit des menschlichen Skeletts und der Fahrradkonstruktion.

Schon eine ganze Weile gibt es 'Free Climbing'. Es wird eine künstliche Felswand aufgebaut, in der Haltegriffe verschiedenster Art und Sicherungspunkte installiert sind. Schwierigkeit extrem, mit weit überhängenden Vorsprüngen. Der gewinnt, der möglichst weit hoch kommt, außerdem spielt die Zeit eine Rolle. Heute habe ich auf dem Sportkanal gesehen, daß es zu dieser Variante noch eine Verschärfung gibt: Es werden zwei gleiche, 25 m hohe Wände aufgebaut und zwei Kletterer 'rennen' gegeneinander diese Wände hoch. Dabei werden sie von Bodenpersonal mit Leinen gesichert: Speed Climbing.

Auch 'Free Diving' ist eine Extremsportart: Ohne Tauchgerät lassen sich Menschen von Gewichten in die Tiefe ziehen, zünden unten ein Airbag und lassen sich von ihm wieder nach oben bringen. Der Rekord steht bei über 150 Metern Tiefe in ungefähr drei Minuten.

Kann man sich noch eine Steigerung dieses Wahnsinns vorstellen? Durchaus, der Mensch ist ungeheuer erfindungsreich. Für mich ist das 'Frauen'-Turnen auch schon Extremsport. Drei- bis vierjährige Mädchen werden 10 Jahre lang darauf gedrillt, von einem Schwebebalken mit einem zweifachen Salto rückwärts mit Schraube abzuspringen. Für solche sinnlosen Leistungen erhalten 'Frauen' bei der Olympiade Goldmedaillen. Aus meiner Sicht sind solche Trainingsmethoden und die dazugehörigen Wettkämpfe menschenverachtend und menschenunwürdig. Aber auch dafür gibt es im Fernsehzeitalter einen Markt und jeder Markt wird bedient.

Wenn ich solche ‚Leistungen' auf den Sportkanälen des Fernsehens beobachte frage ich mich oft, was Menschen in der Sahara, in Bangladesch, Mexiko, Südamerika und Indien von uns denken, wenn sie sehen, wie wir mit unserer Zeit umgehen?! Gott sei Dank, die meisten haben keine Zeit und keine Möglichkeit, sich über diese Frage den Kopf zu zerbrechen. Sie sind zu sehr mit dem Überleben beschäftigt.

Jürgen Albrecht, 05. September 1996

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