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Unter Niveau

Ein Vortrag ist angekündigt: 'Designfaktoren im virtuellen Raum', Prof. Stephan Boeder, Kunst- hochschule für Medien, Köln. Ein weißhaariger, professoraler Mensch tritt ans Pult, im Hörsaal ca. 20 Leute aus verschiedenen Sparten der Hochschule. Er liest etwas vom Papier ab. Gemeinplätze. Redet über Techniken, die wir selbstverständlich täglich benutzen, ohne auch nur ein Bild, eine Folie, einen Film zu zeigen. Nach genau 15 Minuten hört er ohne ein Finale auf: 'So, jetzt können wir darüber reden!'

In der anschließenden Diskussion reden drei von den zwanzig Leuten mit dem Vortragenden. Sie stellen keine Fragen, sie halten quasi Co Referate. Aber nicht, um ein Problem zu klären, um einen gemeinsamen Standpunkt durch die Diskussion zu erreichen. Der Zweck der Diskussion ist ganz deutlich und vordergründig die Selbstdarstellung: 'Hier bin ich, ich heiße Prof. Schwallch, ich habe eine CD-ROM hergestellt, ich weiß, wovon ich rede. Ich höre mich gerne reden!' Der Referent hat natürlich auf jedes Co Referat die passende Bemerkung, auf jede Frage, die vielleicht doch gestellt wird, eine erschöpfende Antwort.

Der Inhalt dieser Diskussion ist nichtssagend und unkonkret. Es wird mit nicht definierten Begriffen hantiert, es ist keine Rede von wissenschaftlichen Hypothesen, Klassifikatoren oder Konzepten. Die gleiche Diskussion könnte auch mit 20 willkürlich von der Straße in den Hörsaal geholten Leuten über das Thema XYZ geführt werden. Ganz schnell - es sind keine 30 Minuten vergangen - ist der Cybersex und das 'tägliche Scheißen auf dem Klo' erreicht. Das Volk fühlt sich wohl. Der Titel, unter dem das ganze läuft, und der einen wissenschaftlichen Anspruch suggeriert, hat ausschließlich eine Marketing Funktion. Er soll die Leute in den Hörsaal locken. Welche (klassifikatorisch geordneten) Designfaktoren im (ordentlich definierten) virtuellen Raum im Gegensatz zum Design im realen Raum eine (welche?) Bedeutung haben, das zu klären ist hier niemand bemüht und dazu existiert weder ein Wille noch ein wissenschaftliches Konzept.

Eine sehr ähnliche Situation war auf dem 17. Wissenschaftlichen Kolloquium der Burg Giebichenstein zu beobachten, das Ende November 1996 hier stattgefunden hat. Es lief alles nach genau diesem Muster ab. Es geht nicht darum, wissenschaftliche Probleme oder Problemlösungen darzustellen und zu diskutieren. Es geht nicht um strittige oder gemeinsame Auffassungen und Informationsvermittlung. Es geht wirklich um Selbstdarstellung, um die Pflege des eigenen Marktwertes. Die gedruckten Kolloquiumsbeiträge beweisen, daß diese These mindestens für jeden zweiten Vortrag zutrifft.

Der einfachste Weg der Selbstdarstellung ist, sich bei jeder Diskussion zu beteiligen. Verstehen braucht man von der Sache nichts, reden muß man können. Auf diese Weise wird man gesehen und gehört, der Name wird bekannt und man hat nicht den Streß, einen Vortrag ausarbeiten und halten zu müssen, wo hinterher auch noch das Manuskript abzuliefern ist (es dauert Monate, bis alle Manuskripte eingetrieben sind).

 

Ein ganz anderes Problem: Auf der gestrige Fakultätsratssitzung ging es um die Diplomprüfungsordnung des Fachbereichs Innenarchitektur. Dieser Fachbereich beabsichtigt, den Diplomgrad der Absolventen von Diplom-Designer (ungeschützte akademische Bezeichnung) auf Diplom-Ingenieur (geschützte Bezeichnung) zu verändern. Grund: Nur mit diesem Titel darf man z.B. in Bayern ein Architekturbüro eröffnen. Es wird ein Studienplan für den Studiengang vorgelegt. In dem kommen solche Fächer wie Mathematik, Physik, Chemie, Dynamik, Festigkeitslehre, Wärmelehre, Werkstoffkunde nicht vor, mit denen wir vor 40 Jahren sechs Semester um unsere Existenz als Ingenieurstudenten gerungen haben. Auf meine Nachfrage erklärt Prof. Müller-Schöll, der Leiter des Studiengangs, daß dieser Studienplan im Vergleich zu anderen Architekturhochschulen, die auch den Titel Diplom-Ingenieur vergeben, 'opulent' ausgestattet ist. Natürlich könnte man sich noch mehr vorstellen, aber die künstlerische Ausbildung erfordert ja einen beträchtlichen Teil des zur Verfügung stehenden Zeitfonds. Außerdem haben ja alle Mathematik und Physik bereits gehabt, denn alle Studenten sind ja mit einem Abitur ausgestattet. Der Antrag der Innenarchitektur wird vom Senat abgesegnet, beginnend mit diesem Studienjahr, werden an der Hochschule für Kunst und Design in Halle auch Diplomingenieure ausgebildet.

Mich beschleicht ein gruseliger Verdacht: Ist vielleicht der Standort Deutschland gefährdet, weil hier die Wissenschaft, die Bildung und die Ausbildung am Boden liegt? Vielleicht geht es überhaupt nicht um Lohnstückkosten und Krankenstand. Vielleicht weiß in dieser Bundesrepublik niemand mehr, ob es einen Unterschied zwischen Esoterik und wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt und worin er besteht. Vielleicht gibt es hier inzwischen Diplom-Ingenieure, die nie etwas von Entalpie, von den Hauptsätzen, von Matritzen und von Kristallographie gehört haben, die gar nicht wissen, daß (von WIE gar nicht zu reden) eine Kettenlinie oder ein Stabwerk und die Resonanz eines einfachen Schwingungssystems zu berechnen ist?!

In der Bundesrepublik wird sehenden Auges zugelassen, daß das Niveau in Forschung und Ausbildung schleichend reduziert wird. Ein schlimmes Erbe der 68-er Generation, die Leistung verpönte. Kein Wunder, daß im Gegensatz zu 1960 hightech Produkte heute aus Japan und China kommen.

Das naturwissenschaftliche Bildungs- und Ausbildungsniveau von Abiturienten und Absolventen der DDR war deutlich höher, als in der heutigen Bundesrepublik. Wenn es um wissenschaftliche Arbeit ging, waren die Naturwissenschaften und reproduzierbare Ergebnisse immer die Grundlage. Es wurde ein qualitativer Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Gedankengebäuden ohne naturwissenschaftliche Fundamente gemacht (die einzige Ausnahme war der historische Materialismus!).

Gerade dieser wesentliche Unterschied aber scheint in der Bundesrepublik schon lange, verloren gegangen. Zu meinem größten Erstaunen offenbar zuerst in den Medien.

Jürgen Albrecht, 18. Dezember 1996

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