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Zorniger Brief an J.K.

 

- Abschrift vom 14.05.1999 -
(Das Original ist ein Schreibmaschinen-Durchschlag auf schlechtem Papier)

 

Dr. Jürgen Albrecht
Gloriastraße 12
Berlin-Köpenick
1170

Berlin, 21.09.89

Lieber Herr Kuczynski !

Ich bin gerade aus dem Krankenhaus entlassen, wo ich Ihre Memoiren gelesen habe. Immen wenn es mit dem Kreislauf nicht mehr weitergehen wollte, habe ich zu diesem Buch gegriffen. Nach einigen Seiten war der Blutdruck deutlich angestiegen, Dank dieser Lektüre.Vorher hatte ich Ihren Dialog mit dem Urenkel im Buchladen gerade noch erwischt, vielleicht hat das die Nierenkolik ausgelöst, denn das war das Buch, was ich vor dem Anfall gelesen hatte.

Um das gleich klarzustellen: Ich bin nach der Lektüre hin- und hergerissen zwischen Faszination über Ihren interessanten Lebensweg und Ihre Bedeutung als Zeitzeuge. Gleichzeitig ist mir aber völlig unverständlich, wie ein intelligenter Mensch soviel Eitelkeit und Heilsgewißheit besitzen kann und bis ins hohe Alter von seiner Selbstüberschätzung profitiert. Ich gönne Ihnen das von Herzen, denn das wird Sie in die Lage versetzen, die Widernisse des Alters besser als jeder andere zu überstehen! Aber ich hätte nie für möglich gehalten, daß so etwas funktioniert. In diesem Zusammenhang wünsche ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag beste Gesundheit und weiter so ein maximales Selbstvertrauen ... damit sollte es Ihnen spielend gelingen, die 100 zu erreichen ... ich wünsche es Ihnen und hoffe es für die Nachwelt!

Was will ich mit diesem Brief? Ich weiß es selber nicht so genau, in erster Linie will ich wohl das verarbeiten, was ich gelesen habe, denn es steht mir nicht an, Ihnen Ratschläge zu geben. Aber mit Sicherheit interessiert den Menschen J. K., wie andere Menschen das aufnehmen, was dieser J. K. schreibt. Deshalb setze ich mich an diese alte Klapper (sonst schreibe ich mit Computer), um Ihnen ein paar Gedanken mitzuteilen, die mir mit gesträubten Haaren durch den Kopf fuhren, als J. K. in der dritten Person zu sich selber sagte: ' ... hören wir dazu J. K. direkt ...' Gott sei Dank können Sie ja über sich selber richtig urteilen und wissen um die Wirkung Ihrer Werke auf die Leser. Aber bei der Einschätzung auf Seite 114, die ich vollinhaltlich akzeptiere, gibt es das Riesenproblem, daß dem Leser Marguerite nicht zur Seite steht !! Das macht vieles völlig unverdaulich.

Hier also ganz wenige Bemerkungen in Stichworten, denn ich will keine Literaturkritik schreiben, sondern einige Schwerpunkte herausgreifen:

 

J. K. der Wissenschaftler

Ich lege sehr hohe Maßstäbe an einen Wissenschaftler. Das ist mein subjektives Raster. Das mindeste, was ich aber von einem Menschen, der offensichtlich größten Wert darauf legt, als Wissenschaftler zu gelten, erwarte, ist WISSEN und WAHRHEIT. Ich bin der Meinung, die Gegenstände, mit denen sich die Wissenschaft zu befassen hat, sind Aussagen über die objektive Realität, die wahr sind. In diesem Sinne verstehe ich Wahrheit als objektive Kategorie. Aussagen, die falsch sind, gehören nicht in die Wissenschaft. Aussagen, die weder wahr noch falsch sind, gehören z.B. in den Bereich der Ideologie und der Religion.

Nach der o.g. Lektüre bin ich der Auffassung, das es Ihnen an vielen Stellen an Wissen und Kompetenz fehlt und daß Sie vor allen Dingen - in diesen beiden Büchern - mit der Wahrheit wie ein Opportunist umgehen. Ich akzeptiere Sie als Propagandist, Funktionär und als Schriftsteller Komma aber nicht als Wissenschaftler

 

J. K. der Propagandist

Diese Seite des J. K. ist die interessanteste, denn ich sehe Sie als ein Beispiel und einen Mitstreiter der alten Genossen an, die in der Lage waren zu bestimmen, was gut für mein Leben sein sollte. Es geht um das Bild, was Sie und sie sich vom Sozialismus gemacht haben (ohne kompetentes Fachwissen und ohne es mit der Wahrheit genau zu nehmen) und das Sie und sie dann Gelegenheit hatten, in einem großen Versuchsfeld mit genügend hohem Gartenzaun, in die Tat umzusetzen.

Ich kann Ihre Euphorie in den 20-er und 30-er Jahren wirklich voll verstehen und auch nachvollziehen. Was mir absolut nicht in den Kopf will ist die Tatsache, daß Sie heute nicht in der Lage sind zu erkennen, daß die Differenz zwischen Realität und Vision vielleicht doch an dem illusionären Leitbild liegt.

Wann haben sie die Vorrede zu dem Urenkel geschrieben? Dort ist diese Verwirrung auf die Spitze getrieben: Nicht das System, der Sozialismus ist Schuld, wenn es Probleme gibt, sondern die unzureichenden Menschen. Warum kommen Sie nicht auf den einfachen Umkehrschluß: Mit diesen Menschen funktioniert ein solches System nicht ... von den VERMEIDBAREN Schwächen des real existierenden Sozialismus mal ganz abgesehen.

Nach meiner Meinung haben Sie mit Ihren alten Freunden mindestens drei kardinale Fehler gemacht, die mindestens zwei Generationen von Menschen jetzt ausbaden müssen:

Und das Schlimmste ist: Diese Fehler wären vermeidbar gewesen, wenn Sie und Ihre Freunde wissenschaftlich gearbeitet hätten und die Vergangenheit und Gegenwart so ordentlich analysiert hätten, wie es Marx zu seiner Zeit getan hat. Aber Sie und sie waren ja der Meinung, nur bei Marx nachschlagen zu brauchen!

Mich fasziniert zutiefst, mit welchem euphorischen IDEALISMUS Sie und sie an diese Sache herangegangen sind. Und gleichzeitig bekennen Sie und sie sich zum Dialektischen Materialismus!!! Wie Sie und sie mehr Hegel und weniger Marx gelesen hätten, wäre uns sicher vieles erspart geblieben!

Dieser Aspekt der neueren Geschichte, geht ganz deutlich aus Ihren Memoiren hervor. Insofern sind sie hochinteressant und Historiker, die von ihrem Fach etwas verstehen, werden in Jahrzehnten Sie als Kronzeugen für das Scheitern der ersten Sozialismus-Variante auf deutschem Boden zitieren. Vielleicht kommen sie auch zu solchen Ergebnissen wie ich. Sicher werden sie präziser formulieren als ein Amateur zu nachtschlafender Zeit es spontan kann.

 

J. K. der Opa

Den Titel und das Anliegen kann ich auch nachempfinden, allerdings habe ich nur einen Enkel ... aber da kann sich ja noch einiges tun. Aber bei diesem Buch fällt mir wieder auf, wie simpel Sie das sehen. Ihr Urenkel, der sich mit Ihnen jetzt vielleicht tatsächlich schon unterhält, wird Ihnen ganz andere Fragen stellen UND vor allen Dingen andere Antworten erwarten, wenn er solche einfache Fragen doch stellen sollte.

Ich weiß nicht, wie helle Ihr Urenkel ist, sicher bei dem Opa super helle. Nach meinen Erfahrungen sind 14- bis 16-jährige Kinder keine Philosophen und bei so langatmigen Antworten würde mich meiner (er ist 7) schon längst nicht mehr ernst nehmen. Unter so einem Titel könnte man nach meiner Meinung nur auf ganz brennend aktuelle Fragen antworten, die wesentlich näher an der Basis angesiedelt sind. Zum Beispiel:

Abgesehen von dieser Grundproblematik werde ich bei diesem Buch und bei den Memoiren den Verdacht nicht los, das Sie viel mehr wissen, als sie schreiben. Zumindestens hoffe ich das für Sie !! Ich kann einfach nicht glauben, daß ein hoch intelligenter J. K. soooo naiv sein kann zu glauben, was er da schreibt.

Und damit sind wir wieder bei der WAHRHEIT. Ich nehme zu Ihren Gunsten an, daß Sie zu vielen Dingen eine andere Meinung haben als die, die man lesen kann. Es würde Ihrer Eitelkeit entsprechen, daß Sie das Manuskript solange zusammenstreichen und verändern, bis es auch bei uns gedruckt wird. Sehen Sie: Und genau das würde ein Wissenschaftler nicht machen, DÜRFTE es nicht machen. Wem nützt das, außer Ihrer Eitelkeit? Keinem. Im Gegenteil, es behindert die Weiterentwicklung. Das Verstecken aller Widersprüche ist eines der größten Probleme - allerdings auf einer unteren Hierarchie. Es negiert die Erkenntnisse des Dialektischen Materialismus, behindert jede Weiterentwicklung, zementiert unhaltbare Zustände und ist in Summe das Dümmste, was man überhaupt machen kann.

Auf Sie bezogen kommt noch etwas fürchterliches dazu: Mit so einer Verfahrensweise verspielen Sie Ihr Image vor der Geschichte. Wenn ein Rat von mir dann nur der : : : : : Schreiben Sie um Gottes Willen wenigstens ab jetzt so, wie Sie denken. Ohne zu fragen, ob das opportun ist. Ich bin sicher, daß wir bald ganz klare Analysen brauchen werden. Analysieren Sie den realen Sozialismus, sagen Sie - nicht nur Ihren Urenkeln - was sie besser machen müssen.

Jetzt höre ich auf. Ob Ihnen das gefällt, was ich geschrieben habe, ist mir sch...egal. Sie haben mich vorher auch nicht gefragt, als Sie Ihre Bücher geschrieben haben. Ich würde mir nur wirklich wünschen, auf die Nachfahren würden EHRLICHE Lebenserinnerungen und Lebensweisheiten überkommen.

Zu mir: Ich bin 1936 geboren, Ingenieur (Computer) drei Kinder, davon ein Langdon Down, nach 28 Jahren Ehe seit drei Monaten geschieden, SED, viel, zuviel gearbeitet für diese Art des Sozialismus. Überzeugt, daß es mit dem Dialektischen Materialismus besser zu machen wäre.

 

Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit
und herzlichen Grüßen

J. Albrecht

 

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