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Weit weg von der Natur

Vor ein paar Tagen wurde in der Leipziger Straße, Ecke Friedrichstraße, ein neuer Supermarkt von Kaisers eröffnet. Ich fuhr mit meinem Fahrrad vorbei, ging rein und fand, das ist ein sehr angenehmer, ruhiger und sorgfältig sortierter Laden. Als ich vor den brechend vollen Regalen stand, hatte ich plötzlich die Frage im Kopf: Wenn an meiner Stelle jetzt ein Berliner aus dem Jahre 1750 hier stehen würde, was würde er sagen??

Wahrscheinlich braucht man nicht 250 Jahre zurück gehen, schon 50 oder 75 Jahre würden reichen um uns klar zu machen, wie weit wir uns heute von unseren ‚natürlichen‘ Lebensumständen entfernt haben.

Da ist sofort die Frage, was sind unsere natürlichen Lebensumstände? Damit kann man die Lebensbedingungen der nomadisierenden Jäger in den Savannen vor 150.000 Jahren meinen, die Verhältnisse in einer eiszeitlichen Rotte im Norden Europas vor 15.000 Jahren, das Leben der Germanen in den Urwäldern nördlich der Alpen vor 1500 Jahren oder das Leben von Bauern, Handwerkern und Arbeitern in der frühen Phase der Industrialisierung in Deutschland vor 150 Jahren. Wie unterschiedlich die menschlichen Lebensbedingungen in diesen Zeitabschnitten sind! Aber immer stand im Vordergrund der menschlichen Existenz: Wie werde ich heute satt und wie schütze ich mich und meine Familie vor menschlichen Feinden, wilden Tieren und dem Wetter. Etwas zu essen und ein sicherer, warmer und trockener Platz, das waren die höchsten Ziele, die erreicht werden konnten.

Vor 150 Jahren waren diese Ziele vielleicht schon fast Selbstverständlichkeit. Ein Bauer hatte genug zu essen, der Handwerker auch, beide hatten ein kleines Haus mit einem Ofen. Und in der Natur gab es rundherum auch noch etwas zum Heizen. Am schlechtesten ging es den frühen Industriearbeitern, die aus den Dörfern in die ersten Fabriken in den Städten gezogen waren. Hier lebte das Proletariat des Genossen Karl Marx und der Begriff ‚Entfremdung‘ wurde erfunden. Entfremdet von der bis dato natürlichen Lebens- und Arbeitsweise. Aber immer noch war diese Entfremdung überhaupt nicht mit unserer heutigen Lebensweise vergleichbar. Auch diese Menschen waren der Natur sehr nahe, näher als ihnen lieb war. Die Arbeiter mußten wieder um das Dach über dem Kopf und das Essen kämpfen, Dinge, die für Bauern und Handwerker selbstverständlich waren. Alle aber aßen das, was vom Feld kam, tranken Grundwasser oder das Wasser aus dem Fluß, spürten das Wetter noch hautnah und keiner hatte ein Auto, eine Waschmaschine, ein Radio oder einen Fernseher.

Für uns ist die gesamte Technik, die uns umgibt, bereits völlig selbstverständlich, obwohl an die meisten dieser Geräte vor 75 Jahren überhaupt noch nicht zu denken war, ja nicht einmal vor 35 Jahren. Was war der technische Standard eines Handwerker-Haushalts im Jahre 1925? Wenn es viel war, hatte man einen Anschluß an die Kanalisation, ein WC und elektrischen Strom. Das aber gab es nur in kleinen Städten mit Industrie. In ganz normalen Dörfern war auch daran nicht zu denken. Nur 75 Jahre später hat jeder in seiner Wohnung zwischen 10 und 25 elektrische Geräte, Möbel, Schränke voller Kleidung, hunderte von Gebrauchsgegenständen. Nichts hat er mehr alleine gemacht, alles 'holt' man sich aus dem Supermarkt. Wir merken kaum noch, ob es Sommer oder Winter ist, denn die Heizung in unserer Wohnung sorgt für gleichbleibende Temperaturen. Wärme, Wasser, Licht und Information kommen aus der Wand. Um für eine Woche das Essen zu sichern ist ein Einkauf von einer halben Stunde nötig, dann ist der Kühlschrank wieder gefüllt. Fast jedes Lebensmittel, was wir in den Kühlschrank stecken, ist industriell ver- oder bearbeitet. Keiner weiß genau, was dabei mit dem Lebensmittel gemacht worden ist. Wir haben uns auch an selbstvertändliche Lebensmittel gewöhnt, die wie die Kiwis (täglich eine zum Frühstück), um den halben Globus zu uns geflogen werden.

Ein Mensch aus dem Jahre 1750 würde sich über unsere Wohnung und über unser Essen wundern und bei den meisten Dingen nicht wissen, was das überhaupt ist. Aber völlig unklar würde ihm bleiben, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Die Berufe, die es vor 250 Jahren gab, sind heute ‚out‘: Kaum einer verdient sein Geld mit der Produktion von Gegenständen, Material oder Lebensmitteln. Wie soll ein Sachbearbeiter beim Magistrat seinem Ur-Ur-Ur... Großvater (8 bis 10 Generationen zurück) erklären, was er täglich ‚auf Arbeit‘ macht und warum und womit er da so einen fürchterlichen Streß hat? Was ist Software, wozu braucht man sie und wie wird sie gemacht? Warum dreht sich das heutige Leben und die Wirtschaft zum überwiegenden Teil um Dienstleistung, Mobilität, Information und Unterhaltung??? Wozu braucht man Psychologen, wenn man satt ist? Warum ist man suizidgefährdet, obwohl man eine warme Wohnung hat?

Das ist der Effekt des Mehrwertes, den wir alle in diesem Teil der Erde in den letzten 100 Jahren angesammelt haben. Mehr nicht ... ??!

Sonderbare Menschen in einer sonderbaren Welt

Jürgen Albrecht, 19. September 1997

 

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