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Reformunfähigkeit

Vor einigen Wochen schon war ich der Meinung, daß das Wort ‚Steuerreform‘ wahrscheinlich das Wort des Jahres 1997 werden wird. Kein Tag, an dem nicht in den Medien von der ‚Großen Steuerreform‘ und deren Schwierigkeiten die Rede ist. Vor einigen Tagen ist der Vermittlungsausschuß zu diesem Projekt ergebnislos auseinander gegangen: In dieser Legislaturperiode wird es keine Steuerreform geben, erst recht keine große, die Kohl vor der Wahl mit der Aussicht auf eine wesentliche ‚Nettoentlastung‘ für die Bürger angekündigt hatte. Steuern und Abgaben sind in Deutschland so hoch, daß dadurch Arbeitsplätze vernichtet werden, anstatt daß welche entstehen. Weder deutsche noch ausländische Firmen wollen hier investieren. Das schlimmste, was dem Standort Deutschland passieren kann.

Die Steuerreform ist aber nur ein exemplarischer Fall. Das Rentensystem muß reformiert werden. Die aktuellen und in Zukunft zu erwartende wirtschaftliche Situation in Deutschland wird diesen Generationenvertrag in den nächsten 20 Jahren kippen. Das ‚soziale Netz‘, das deutsche Sozialwesen wird unbezahlbar, es muß reformiert werden. Die Arbeitslosigkeit hat zum größten Teil strukturelle Ursachen. Für die Produkte, für die noch vor 20 Jahren ein großer Markt vorhanden waren, gibt es heute keinen Absatz mehr. Kein Absatz, kein Umsatz, keine Produktion, keine Arbeit. Eine logische Kette. Es ist keine politische Strategie in Sicht, wie Deutschlands Strukturen verändert werden sollen und müssen, damit wieder Arbeitsplätze entstehen. Die staatliche Bürokratie, der öffentliche Dienst sind absolut nicht mehr effektiv. Das für Deutschland typische Beamtenwesen schafft die Eigenverantwortung wie der Sozialismus ab und ist für eine Lawine von Versorgungsbezügen verantwortlich. Deutschland ist reich, aber es geht mit seinem Reichtum so uneffektiv um, daß die Staatsverschuldung seit Jahren steigt (derzeitig 2.178 Milliarden Mark, unvorstellbar!). Bund und Länder fallen von einer Haushaltssperre in die andere.

Es sind auch keine Ansätze für den oft zitierten ‚Ökologischen Umbau‘ zu erkennen. Steuern auf Energie, Wasser, Verpackung, Benzin, Müll usw. und nicht auf Löhne, Gewinne, Autos und Hunde. Die Art, wie die deutsche Wiedervereinigung gemanagt wurde, ist ein spezieller Fall deutscher Reformunfähigkeit. Spätestens hier gab es die Chance, den ‚Standort Deutschland‘ gründlich zu renovieren. Aber die politische Klasse vermittelt nur noch den Eindruck von kleinkarierten Streitereien,

Skandalen, Korruption, Lobbywirtschaft, Bewegungs- und Entscheidungsunfähigkeit. Es ist keine Partei und es sind keine Leute in Sicht, denen man zutrauen könnte, daß es ihnen um Bewegung in der Sache und nicht um den Erhalt von Macht und Pfründen geht.

Zusätzlich zu den ökonomischen und wirtschaftlichen Problemen sind die Deutschen leistungsunwillig und faul weil satt und reich. Die ‚Politikverdrossenheit‘ der Bürger trotz (oder wegen !?) der gerade gewonnenen Einheit Deutschlands gibt dem ganzen Bild den Rest. Ich habe den Eindruck, in Deutschland muß es erst eine wie auch immer geartete Katastrophe geben, um hier einen grundlegenden Wandel einzuleiten. Eine Revolution von unten wird es nicht geben, dazu geht es allen viel zu gut. Aber z.B. eine Geldentwertung 100:1 würde den Ruck auslösen, der nach Ansicht von Bundespräsident Herzog durch das Land gehen muß.

Paradebeispiel für die Versteinerung und den fehlenden Reformwillen dieser Gesellschaft ist die Rechtschreibereform. Jahrzehntelang wird an ihr gebastelt. Herausgekommen ist ein Reförmchen: Ein paar Kommaregeln fallen weg, Groß- und Kleinschreibung, getrennt und zusammen wird verändert. ‚Daß‘ schreibt man ‚dass‘ und Fremdwörter so, wie man sie spricht: Filosofie (mit ie??). Das war schon alles. Ich wäre für eine viel radikalere Rechtschreibreform und die Kleinschreibung nach englischem Vorbild. Aber mich läßt ja keiner ...

Was passiert? Die Kultusministerkonferenz beschließt im Sommer 1996, daß die Rechtschreibreform am 1. August 1998 rechtskräftig wird. Aber erst um Weihnachen 1996 wachen die Schriftsteller auf und fangen an, gegen diese Reform zu streiten. Inzwischen beschäftigen zahlreiche Eltern- und Bürgerinitiativen die Gerichte (Deutschland, der Rechtsstaat ...), obwohl die Erstkläßler seit September 1996 schon nach diesen neuen Regeln unterrichtet werden. Es sieht so aus, als ob sich damit bald auch noch das Verfassungsgericht beschäftigen wird. Und wenn Gott will, so wird auch diese Reform in Deutschland verhindert werden.

Armes, vereinigtes Deutschland. Eine im Reichtum erstarrte Gesellschaft. Gerade die Wiedervereinigung hätte als Chance zur Erneuerung von ganz Deutschland genutzt werden können. Statt dessen ist der Osten nur zu einer schlechten Kopie Westdeutschlands geraten. Chance vertan und beispielhaft Reformunfähigkeit bewiesen.

Jürgen Albrecht, 05. August 1997

 

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