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Perverser Sport

Gerade habe ich das 100-Meter-Finale der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 1997 in Athen gesehen. Ich kann es nicht verstehen, daß man das eine Leben, was man nur hat, dem Sport widmet. Was für ein schrecklicher lebenslanger Streß! Zehn, fünfzehn Jahre Training, täglich 10 Stunden, in denen man sich nur schindet und in denen man immer wieder die gleichen Übungen macht, um seine Muskeln und seine Reaktionen zu schulen und dabei wird nie Intelligenz verlangt. Ständig bedroht von Verletzungen, immer abhängig von der physischen Leistungsfähigkeit seines Körpers, immer unzufrieden, weil man weniger schafft, als man von sich will, ständig Wettkämpfe, in denen man gegen andere anzutreten hat, ständiger Frust, weil man nicht erster geworden ist. Und wenn tatsächlich das Wunder eintritt (die Wahrscheinlichkeit dafür geht gegen Null !!) und man Weltmeister ist, dann wird man solange verfolgt und gehetzt, bis man es nicht mehr ist. Wieder Frust. Und für mich das größte Handicap dabei: Wofür das Ganze, wenn es z.B. darum geht, eine Eisenkugel oder einen Stock möglichst weit zu werfen, möglichst hoch zu springen oder möglichst schnell zu rennen, einen Ball mit dem Fuß in ein Tor zu schubsen. Wozu, warum?

Noch schlimmer sind andere Sportler dran, deren Leistung nicht in Zentimeter oder Sekunden zu messen sind. Eiskunstläufer, Turner, Turniertanz. Hier geht es um Ästhetik, Emotionen, Zeitgeschmack. Wer ist so wahnsinnig, sich auf so ein Lotto einzulassen und dafür die besten Jahre seines Lebens und vielleicht sogar die Gesundheit zu opfern?

Gesundheit ... nach dem psychischen Streß wären das meine größten Bedenken. Es wird regelrecht ein Körper für eine ganz bestimmte Art von physischer Leistung gezüchtet.

Wie sehen z.B. Gewichtheber, Sumo-Ringer und Kugelstoßer aus: Fleisch- und Fettpakete. Bei Turnerinnen wird die Pubertät künstlich verlängert, sie müssen hungern und vor jedem Gramm Angst haben, was sie zunehmen. Radfahrer und andere Ausdauersportler trainieren sich ein Herz an, das fünfmal (!!) mehr leistet, als das Herz eines normalen Fußgängers . Alle sind versucht, sich mit Medikamenten zu dopen und alles zu tun, damit das nicht entdeckt wird.

Wie kriegt man so ein Riesenherz (bis zu 45 l/min), solche Muskelpakete und Fettmassen wieder los, ohne daß Gesundheitsschäden zurück bleiben? Wie wird man mit der Tatsache fertig, daß man nicht mehr auf dem olympischen Siegertreppchen inmitten einer tobenden Masse steht? Wie verkraftet man es, daß man zwar 25 Jahre seines Lebens geopfert hat, aber nie auch nur unter die besten 20 der Welt gekommen ist? Das muß doch lebenslangen Frust erzeugen!

Und warum das alles, warum gibt es so eine Menge von Leuten, die sich trotzt dieser Widernisse schinden und das Ziel ihres Lebens im Sport sehen. Es ist nicht das Geld. Wer ganz oben ist, ist zwar gleichzeitig auch mehrfacher Millionär, aber das ist nicht die eigentliche Motivation. Auch und gerade im Sozialismus gab es Leistungssport, aber keine Dollarmillionen. Nein. Der eigentliche Antrieb ist der menschliche Ehrgeiz, das allzu menschliche Streben, der größte und stärkste Hirsch im Revier zu sein und ... wenn man ganz großzügig ist: Natürlich ist auch hier die Neugier, die Entdeckerfreude dabei: Wie hoch, wie schnell, wie weit, wie stark kann der Mensch sein?

Alles klar, aber absolut nicht meine Welt.

Jürgen Albrecht, 03. August 1997

 

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