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Ein Leben mit viel Zeit ?

Heute haben wir in Mitteleuropa eine Stunde geschenkt bekommen. Herrlich, wenn man nach einer durchgearbeiteten Nacht aufwacht und es ist erst 8:30 Uhr und nicht schon fast 10 Uhr. Aber es ist ja alles Betrug, denn es geht nur um die Umstellung von Sommer- auf die Normalzeit. Die Stunde, die wir heute geschenkt bekamen, haben wir uns im Frühjahr vom Munde abgespart. Außerdem sooo schön ist es auch nicht mit der Stunde, denn jetzt um 18 Uhr ist es schon stockdunkel.

Die Zeit fasziniert mich. Vor ein paar Tagen habe ich die Meinung eines Kommentators gelesen der meinte, Jesus hat die Hetzerei eingeführt, indem er von den Menschen verlangte, so viel gute Taten wie möglich im Leben zu vollbringen. Das führt dazu, daß man keine Zeit mehr hat. Man ist immer dabei, mehr oder weniger gute Taten zustande zu bringen.

Aber auch ohne ausgesprochen gute Taten vergeht die Zeit wie im Flug. Heute morgen habe ich ein Beispielobjekt für 3D-Konstruktion mit 3D-Studio MAX zusammengebaut. Ruck Zuck war der Vormittag vorbei. Beim Kaffee fiel mir ein, ich müßte den Artikel Web-Design etwas aktualisieren. Als das geschafft war dachte ich, man könnte ja gleich noch eine neue Seite an Albrechts HomePage anhängen: Letzte Meldung. Also, machen wir's gleich. Und dann muß ja unbedingt noch das Bild von der 3D-Übung in die PowerPoint-Präsentation eingefügt werden. Ich will doch wissen, wie das am einfachsten geht: Capture. Als alles erledigt ist, zeigt die Uhr die 18. Stunde an, der Sonntag ist fast vorbei.

Warum geht man so mit seiner Zeit um??? Ist das Arbeit? Ist das die Sucht nach Action? Ist das der Zwang, sich permanent Erfolgserlebnisse zu verschaffen?

Alles stimmt aus meiner Sicht nicht. Es ist das blanke Interesse an einer Sache. Was diese Sache ist, ist völlig egal. Es können die Pflanzen auf dem Balkon, es kann eine nach Saubermachen schreiende Küche, ein astronomisches Buch, ein kaputtes Auto, eine nicht ganz exakt geordnete Briefmarkensammlung und eben auch die Erkundung der Funktion eines Computers oder einer Software sein. Was ist da schlimm und unnatürlich daran? Nichts. Im Grunde genommen ist das die ganz normale Neugier des Menschen.

Es ist der Grad der Neugier, der die Menschen unterschiedlich antreibt. Aber egal wie stark der Antrieb ist, Zeit haben alle nicht. Es scheint mir eine ewige Illusion zu sein, auf ein ruhigeres, nicht so schnell ablaufendes Leben zu hoffen. Wenn man das tatsächlich erreicht, ist man nicht mehr neugierig und deshalb schon halb tot.

Aber ein anderer Gedanke ist interessant: Die hinduistische Religion geht von permanenter Wiedergeburt aus. Das ist gleichbedeutend mit einem unendlichen Zeitvorrat. Was man jetzt nicht schafft, macht man einfach im nächsten Leben, oder im übernächsten. Gesetzt den Fall, man könnte an die permanente Wiedergeburt glauben, hätte man da ein langsameres Leben? Würde die Zeit anders vergehen. Ich denke, man könnte unter dieser Sicht von Anfang an sein Leben völlig anders orientieren. Aber man kann es nicht mehr, wenn man sein Leben schon fast gelebt hat.

Was passiert eigentlich, wenn man sich einen ganzen Tag vor die Uhr setzt und die Zeiger beobachtet? Am Ende dieses Tages weiß man, daß sich die Zeiger sehr langsam bewegen. Das ist der Erkenntnisgewinn dieses Tages. Mein heutiger Erkenntnisgewinn ist viel größer. Ich weiß heute wesentlich mehr, als gestern. Ich kann auch aufschreiben, was ich alles gemacht habe. Daran ist zu erkennen, wie ich meine Gier nach Neuigkeiten und nach Erkenntnis befriedigt habe. Hier taucht wieder der Begriff Neugier auf: Das zentrierende Problem scheint mir zu sein, daß es des Menschen Natur ist, nach Neuem zu gieren. Neugier ist ein ganz elementarer Trieb des Menschen wie Essen, Schlafen, Sex und Revierverhalten. Untrennbar mit dieser Neugier ist verbunden, daß dabei subjektiv die Zeit sehr schnell vergeht. Beides hängt dialektisch zusammen: Wenn Neugier, dann keine Zeit.

Aber auch der Umkehrschluß gilt: Wer jammert, daß die Zeit so rast, muß dagegen rechnen, daß er ständig Neuigkeiten erfährt, daß er sieht, wie viel und wie schnell sich alles um ihn herum bewegt. Wenn man das nicht mehr will oder kann, steht die Zeit subjektiv fast still. Und damit auch die ganze subjektive Welt. Das Ergebnis ist Langeweile und Depression.

Eine höchst interessante Deutung der Zeit. Wenn man 60 Jahre neugierig gewesen ist, kommt man zu einer phantastischen Einsicht: Ein Leben mit viel Zeit ist nicht lebenswert ....!

 

Jürgen Albrecht, 26. Oktober 1997

 

 

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