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Verzweiflung 1998

Jeder kennt sie, die Bilder vom Elend der Industriearbeiter um die Jahrhundertwende. Ausgemergelte Menschen, Hunger, rauchende Schlote, Ruß und Qualm, entsetzlich schwere Arbeit, unterernährte, in Lumpen gekleidete Kinder, unmenschliche Behausungen und eine geschändetet Natur. In dieser Zeit wurde die Fotografie erfunden, die ersten Filmbilder zucken über die Leinwand. Zille hat das 'Milljöh' in seinen Zeichnungen durch Humor verniedlicht und verklärt. Aber seine Fotos sprechen auch eine eindeutige Sprache: Elend, Armut, Verzweiflung.

Das ist alles längst vorbei. Denkt man. Höchstens in den sogenannten 'Entwicklungsländern' gibt es das noch. Aber das ist weit weg und das sieht man ja nur für Sekunden in den Nachrichten. Hier bei uns ist alles sauber, keiner hungert, keiner friert, die 'wenigen' Obdachlosen (nur ca. 40.000 allein in Berlin) zählen ja nicht und sie sind selber schuld, wenn sie mit der Sozialhilfe nicht auskommen. Einen 'Bodensatz' gibt es in jeder Gesellschaft. Auch im Sozialismus gab es diese Typen, aber wie bei Hitler wurden sie eingesperrt, damit sie auf der Straße nicht zu sehen waren und das schöne Bild von der perfekten, neuen und heilen Welt nicht störten. Der Sozialstaat ist zwar nicht das gelobte Land, aber (noch?) geht es auch denen gut, die keine Arbeit und kein Einkommen haben. Die Rentner sind fein raus, die Durchschnittsrente ermöglicht ein sorgenfreies Leben im Alter. Die Arbeitslosen haben nicht viel weniger. Der Grund ist einfach: Sie werden mit Geld ruhig gestellt, denn es sind keine Arbeitsplätze da. Mehr, als den Arbeitslosen mit Geld den Mund zu stopfen, fällt der gegenwärtigen Regierung dazu nicht ein. Die Kinder und Jugendlichen werden in den Familien versorgt. Wer einen Arbeitsplatz hat, dem geht's gut. Mit 5.000 DM pro Monat lebt man hier im Paradies. Und wenn 20 % der Bevölkerung arbeitslos sind, dann sollte man annehmen, daß 80 % im Paradies leben. Denkt man.

Nur zwei Schlaglichter aus der Zeitung von gestern und heute: 'Armut trifft vor allen Dingen Familien mit Kindern' und 'Verzweifelte 15jährige warf Neugeborenes aus dem Fenster'.

Im ersten Artikel ist einfach nur nachzulesen, daß die Leute ohne Einkommen zwar mit Geld ruhig gestellt werden, daß das aber eigentlich nicht ausreicht, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. (Erstaunlich ist, daß sie trotzdem nicht revoltieren!!) Es reicht besonders dann nicht, wenn mehrere Kinder zu versorgen sind. Daß das nicht gerade die intelligentesten Leute sind, ist deutlich daran zu sehen, daß sie nicht nur arm, sondern auch noch verschuldet sind.

Warum wußten sie nicht wenigstens, das man das vermeiden sollte und auch kann? Wenigstens das sollte man doch in 8 Jahren Grundschule lernen. Lernt man in der Schule, wie man mit dem schwierigen Leben am besten klar kommt? Wohl kaum. Und warum nicht? Bildungsreform überfällig. Kein weiterer Kommentar.

Was aber ist mit unseren sozialen Verhältnissen los, wenn ein 15jähriges Mädchen sich neun Monate nicht traut, jemandem zu sagen, daß sie schwanger ist. So entsetzlich groß und unlösbar ist doch das Problem heute nicht mehr, damit sollte man doch fertig werden. Vor allen Dingen, weil damit ja längst kein großes Tabu mehr, wie z.B. vor hundert Jahren, gebrochen wird. Denkt man. Aber was für eine Verzweiflung muß dahinter stehen, wenn ein Mädchen ihre Schwangerschaft komplett geheim hält, allein und ohne Hilfe das Kind zur Welt bringt und es dann aus dem 10. Stock auf die Straße wirft!? Ist das ein absoluter Sonderfall, ein einmaliges Ereignis, ein in erster Linie psychisches und persönliches Problem? Ich hoffe es.

Aber so völlig untypisch ist der Fall nicht. Mindestens ein Gesichtspunkt ist entscheidend und gleichzeitig kennzeichnend für die jetzige Zeit und für dieses Deutschland: Die zwischenmenschlichen Beziehungen gehen in die Brüche. Jeder merkt früher oder später in dieser Gesellschaft, daß er allein ist, daß ihm keiner mehr hilft, wenn er selber nicht mehr kann. Jeder ist spätestens im Alter hier allein. Die sozialen Strukturen, die früher alle getragen haben, existieren nicht mehr. Die Familie löst sich auf, sogar die Beziehungen zwischen zwei Menschen existieren nur noch temporär. Verursacht wird das Ganze durch unsere moderne Art zu arbeiten und zu leben. Nur so können wir heute den Lebensunterhalt bestreiten und in dieser Zeit (auch mit größtmöglichen Freiheiten ...) Leben. Aber das hat diese entsetzlichen Nebenwirkungen. In welchem Maße müssen die zwischenmenschlichen Beziehungen kaputt sein, daß man seiner Mutter nicht mehr sagt, daß man schwanger ist, daß der Freund und Vater keinen hat, dem er seine Probleme offenbart und daß man das Subjekt, das für die ganze ausweglose Situation scheinbar verantwortlich ist, als Problemlösung 'ganz einfach' aus dem Fenster schmeißt?!

Geht es uns heute besser als vor 100 Jahren? So einfach kann man die Frage nicht stellen. Das Leben war damals und ist auch heute noch viel komplexer, als es eine kurze Story beschreiben kann.

Jürgen Albrecht, 11. Februar 1998

 

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