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Betrug und Heuchelei

Sexaffäre im Weißen Haus !! Skandal um ein Immobiliengeschäft !! Anstiftung zum Meineid !! Das sind nur einige der Überschriften, mit denen derzeitig in den USA Geld gemacht wird. Einige Zeitungen haben ihre tägliche Auflage um mehr als 500.000 Exemplare gesteigert, die TV-Zuschauerquoten gehen in die Höhe, alle wollen jetzt das schnelle Geld machen, denn allen ist klar, bald ist diese Story out und alle stürzen sich auf die nächste Sensation.

Was den Medienrummel angeht, so ist wie in vielen Dingen Amerika der Vorreiter. Die Alte Welt ist gehemmt und durch 2000 Jahre puritanischen Katholizismus gezügelt. Aber im Gesellschaftssystem der USA kann und muß sich der Mensch so bewegen, wie es ihm seine Gene vorschreiben: 'Erst komme ich. I'm the number one. Ich will und ich nehme mir alles, und zwar sofort. Alles ist alles erlaubt, was mir nützt. Der Erfolg heiligt die Mittel.' Das ist die private und die Staatsphilosophie seit Beginn der Eroberung der Neuen Welt. De facto gibt es keine moralischen, ethischen oder sozialen Skrupel. Jeder, der kein Geld und keine Wohnung hat, ist selber daran schuld, kein anderer und nichts kann sonst noch dafür verantwortlich gemacht werden.

Das ist nichts anderes als der Urwald in einer technisch hochgerüsteten Zivilisation. Die Umwelt hat sich radikal verändert, die Spielregeln sind absolut die gleichen geblieben. Es sind die harten und unerbittlichen Spielregeln der evolutionären Selektion: Fressen oder gefressen werden.

Was mich dabei so fasziniert, ist das völlige Fehlen von Moral, es gibt keinen Glauben an das 'Gute im Menschen', Demokratie und Recht sind zur heuchlerischen Fassade verkommen. Ich wundere mich immer wieder, warum ich, der ich absolut nicht religiös erzogen wurde, die christlichen Gebote so strikt zur Grundlinie meines Handelns gemacht habe. Das muß mit den 40 Jahren Sozialismus zusammenhängen, der ja auch den neuen und den guten Menschen als Grundlage seiner Weltanschauung absolut voraussetzt. Deshalb ist mir völlig fremd und unbegreiflich, wie man in so einem extremen Maße wie in den USA lügen, betrügen und Gewalt anwenden kann. Und noch viel unbegreiflicher ist, daß Lüge, Heuchelei und Gewalt nicht nur die wesentlichsten Grundlagen des Staates sind, sondern auch die Richtschnur jedes einzelnen, dort lebenden Menschen.

Hier geht es tatsächlich um zwei völlig unterschiedliche Kulturen. Auch wenn man den Sozialismus wegläßt, in der Neuen Welt hat sich eine Kultur entwickelt, die es so in Europa (noch?) nicht gibt. Das ist genau der Grund, weshalb ich keinen Drang verspüre, in die USA zu fahren: Das ist einfach nicht meine Kultur. Und hier in Deutschland findet sich das Äquivalent als das Hauptproblem der Wiedervereinigung wieder: Die westdeutsche Kultur wurde in den letzten 50 Jahren wesentlich mehr von Amerika geprägt, als die ostdeutsche etwa von der Sowjetunion. Deshalb gibt es Ossis und Wessis und wir aus der DDR sind die 'besseren' Menschen, die sich ohne Religionsunterricht deutlich mehr den christlichen Geboten verpflichtet fühlen, als die westdeutschen Christenmenschen.

Also gibt es doch die Möglichkeit, den Menschen durch Erziehung zu einem besseren Menschen zu machen??! Offensichtlich ja, wenn man das Umfeld so radikal ändert, wie es im Sozialismus geschehen ist. Es dauert dann zwar auch mehrere Generationen, aber es zeigt Wirkung. Es gibt nur ein kleines Problem: Diese radikale Umfeldveränderung ist nur mit Gewalt gegenüber der Realität aufrecht zu erhalten. Das heißt, sie ist temporär und nicht lange genug wirksam, als daß die Verhaltensänderungen sich genetisch manifestieren könnten. Ist die Gewalt untergegangen, stellt sich in historisch kurzer Zeit (wir erleben es gerade) alles wieder auf Null.

Trotz des interessanten gesellschaftlichen Experiments, in dem wir die Versuchskaninchen waren, kann man an den USA exemplarisch sehen, wie aussichtslos es ist, die charakterlichen Eigenschaften des Menschen und seine Verhaltensweise in absehbarer Zeit durch Umwelt oder Erziehung zu ändern. Heute leben genetisch exakt die gleichen Menschen wie vor 100.000 Jahren. Und die Verhaltensweisen, die beim Jagen und Sammeln das Überleben garantierten, sind in unseren Genen eingeschweißt. Wir können ihnen nur sehr schwer, praktisch nie, entkommen.

Der 'Neue Mensch' kann nur durch Evolution entstehen. Wie er in 100.000 Jahren aussehen wird, ob er 'Moral' hat oder nicht, weiß keiner. Nur eins ist sicher: Bis dahin werden nicht nur die gegenwärtige, sondern auch noch viele andere menschliche 'Hoch'kulturen untergehen.

Jürgen Albrecht, 31. Januar 1998

 

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