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Klassik - Radio

 

Ich liebe klassische Musik. Gleich nach der Wende, also 1990 oder 1991 wurde der Sender Klassik-Radio gegründet. Ein herrlicher Radiosender, der am laufenden Band klassische Musik spielte, unterbrochen nur von den notwendigsten Kommentaren und natürlich werbefrei. DAS war mein Sender. Genau das brauche ich für meinen Seelenfrieden.

Aber der währte nicht lange. Ich würde sagen, kein halbes Jahr. Schon nach kurzer Zeit stellten die Radio-Macher fest, was dieser Sender für eine tolle Einschaltquote hat und das hatte sofort Folgen. Die ersten Werbespots wurden eingestreut und die Wortbeiträge nahmen zu. Seit mindestens vier oder fünf Jahren höre ich nicht mehr Klassik-Radio, denn das Programmschema ist genau das Gegenteil dessen, was es am Anfang war. Höchstens noch 10 Minuten sind unterbrechungsfrei, in denen wirklich klassische Musik gespielt wird. Spätestens dann aber wird diese ruhige Musik durch einen reißerischen Werbespot unterbrochen, Originalton: 'Die schönsten Meisterwerke der Klaviermusik. Die ergreifendsten Momente des Tastenzaubers auf 4 traumhaft schönen CD's. Nur 99 DM, ohne weitere Versandkosten, wenn Sie gleich anrufen: 0180 55811' (eine Minute für 0,48 DM ...) Oder 'Nichts ist so sanft und beruhigend wie Gitarrenmusik. Die hingebungsvollsten Werke ... auf 4 CD's für nur 99 DM, Wenn Sie jetzt anrufen, schicken wir Ihnen die CD's nach Hause' Und 'Jeden Sonntag: Kuschelklassik – Musik zum Entspannen und Genießen. Klassik-Radio – Klassisch gut.'

August Everding erzählt halbe Stunden lang Geschichten aus seinem und dem Musikleben, die mich absolut nicht interessieren. Es gibt Nachrichten, es gibt Kulturnachrichten, die CD des Tages oder die der Woche wird besprochen und immer wieder Werbesprüche, die bei mir das Gegenteil von klassischer Musik bewirken: Aufregung und Streß. Nach einem schönen Pauken und Trompeten-Stück von Henry Percel (?) wieder Originalton: 'Der Euro kommt – aber was dann?? Was passiert mit Ihren Sparguthaben? Wir können es Ihnen sagen: Infodienst EURO. Telefon 1234 1234. Rufen Sie gleich und kostenfrei an!!' 'Klassik-Radio – das beste aus dem 17., 18. und dem 19. Jahrhundert!!' 'Klassik-Radio – einfach klassisch!'

Mich wundert eigentlich am meisten, wer diesen Sender noch hört. Wer ist ein Freund klassischer Musik und kann gleichzeitig diese marktschreierischen Werbesprüche ertragen. Beides geht eigentlich überhaupt nicht zusammen und dann ist es wieder etwas, was mich fasziniert:

 

Wenn der Sender keine Hörer hätte, würde er nicht mehr existieren. Weil er existiert, hat er eine Hörergemeinde. Was sind das für Leute, die sich mit Klassik-Schnipseln zufrieden geben und die sich zum 10. Mal die besten Klassik-Essentials, die es je gab, für 39,95 Mark kaufen und (Originalton) '100 Meisterwerke aus der Welt des Musicals, Lieder, die Sie zu Tränen rühren und immer wieder begeistern werden: 6 CD's für nur 99 DM zuzüglich 9 DM Versandkosten!'? Ich habe mir mal so ein Angebot schicken lassen: 'Die Klassik-CD-Dankeschön-Box III, die dritte Fortsetzung Ihrer privaten Klassiksammlung. 50 phantastische CD's für wirklich nur 199 DM, inclusive Versandkosten. Ein Fest für unsere Mozartfreunde, ein Feuerwerk für die Klavierfreunde. Rufen Sie an: 0180 55811 !!' Mich interessierte, wie das funktioniert. Ich wollte einfach mal wissen, was ist auf diesen CD's drauf, wer spielt da was? Die Lieferung kam spät, erst nach ca. 2 oder 3 Wochen und nur per Nachnahme. Man hat als Kunde absolut keine Möglichkeit, vorher festzustellen, was für CD's man eigentlich kauft. Mehr Informationen als den Werbespruch gibt es vor dem Kauf nicht. Selbstverständlich hat man das Recht, die Sendung zurück zu schicken, wenn sie einem nicht gefällt. Aber eh das Geld dann wieder im eigenen Portemonnaie ist, wenn überhaupt ... Denn auch hier gibt es feine Trick's wie etwa den: 'Wir nehmen nur original verpackte Ware wieder zurück.' Wie soll man das machen? Also – ich jedenfalls habe die Sendung gar nicht erst angenommen. So groß war meine Neugier nun wieder nicht.

Aber hier zeigt sich ein Prinzip: Das Prinzip heißt Inflation. Erstens werden immer wieder die gleichen 'Essentials' gespielt, zweitens steht nicht genug Zeit zur Verfügung, etwa mal ein ganzes Klavierkonzert oder wenigstens alle Sätze (unterbrochen durch Werbesprüche) hintereinander zu spielen. Es werden die schönsten Schnipsel aus 300 Jahren klassischer Musik gespielt und auf CD gebrannt. Das ist offensichtlich das, womit heutige Klassik-Freunde zufrieden sind. In 20 oder 30 Jahren wird man überhaupt nicht mehr wissen, daß es neben den Essentials früher mal tatsächlich ganze Konzerte gegeben hat.

Die Konzerte, Opern, Fugen und Sonaten, sollte man sie dann tatsächlich noch mal zu Gehör kriegen, haben dann gewaltige Nachteile: Sie haben so viele langweilige Stellen zwischen den wenigen Melodien, die man von den schönen Klassik-CD's, aus dem Klassik-Radio und aus der Kaufhausberieselung kennt.

Jürgen Albrecht, 15. Mai 1998

 

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