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Die neue, rechte Schreibung

 

Heute ist der erste August und heute tritt offiziell die Rechtschreibreform in Kraft. Schon geht es los: Heißt (oder heisst) das 'in kraft‘ oder 'in Kraft' oder sogar ‚inkraft‘ ?? Die Welt ist voller Rätsel. Nach meinem in 50 Jahren geschultem Schreibgefühl schreibt man ‚in Kraft‘, aber ich weiss nicht, ob diese Schreibweise von der Reform erfasst und verändert worden ist.

Die Reformatoren haben zehn Jahre in aller Stille gearbeitet. Sie wollten die rechte Schreibung vereinfachen, die sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz bis dato eindeutig nach dem DUDEN richtete. Aber die Regeln sind sehr unübersichtlich, kompliziert und unsystematisch. Ausserdem wollten sie sichern, dass weltweit alle deutschen Texte einheitlich geschrieben werden. Ein lobenswerter Vorsatz. Allerdings sollte das als gemeinsame, freiwillige Aktion dieser drei Länder funktionieren. Und genau da liegt das Problem. Freiwillig, demokratisch, Konsens, das sind die Voraussetzungen für die Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die wenigen Veränderungen, auf die man sich schliesslich geeinigt hat, sind halbherzig, wieder unlogisch und kaum der Rede wert. Damit ist die Reform höchstens ein Reförmchen und es ist die grosse Frage, was der riesige Wirbel, den sie erzeugt hat, für einen Sinn macht.

‚Das Volk‘ und die Medien sind erst aufgewacht, als schon alles gelaufen und (von den Kultusministern) abgesegnet war. Dann gab es Proteste von Lehrern, Schriftstellern und anderen Koryphäen. Bürgerinitiativen, Deklarationen, Prozesse, Medienrummel. Das Verfassungsgericht musste wieder das letzte Wort haben. Wieder einigte man sich auf den kleinsten, überhaupt möglichen Nenner: Die Rechtschreibreform wird eingeführt (heute !!), aber wer sich nicht danach richtet, schreibt auch richtig. Im Klartext heisst das: Jeder kann schreiben, wie er will.

Die Reform hat damit genau das Gegenteil von dem erreicht, was man eigentlich wollte: Vorher war es klar, wie man in der deutschen Sprache schreibt: Der DUDEN war die Messlatte und das Fadenkreuz. Aber das war nicht demokratisch, sondern zentralistisch, also verwerflich. Heute haben wir das, was einer pluralistischen Gesellschaft entspricht: Jeder kann machen und schreiben, was und wie er will. Für mich ist das ein exemplarischer Vorgang. Er wirft ein Schlaglicht auf die heutige Zeit. Die Freiheit des Einzelnen, seine individuellen Vorstellungen, Meinungen und Bedürfnisse stehen höher in der Wertordnung als das allgemeine Interesse, der Gemeinnutz und sogar die Wahrheit im Sinne der Naturgesetze.

Das kann man gut finden. Das kann auch persönlich von Vorteil sein. Wie z.B. hier bei der Rechtschreibung, ab sofort ist mir gross, groß oder klein, zusammen oder auseinander,

 

Komma oder nicht, völlig egal und trotzdem ist das die richtige, die rechte Schreibung.

Aber genau hier zeigt sich auch ein zentrales Ost-West-Problem. In der DDR sind wir 40 Jahre lang auf ‚sinnvoll, funktional, kollektive Bedürfnisse, elementare Wünsche, einheitliche und wissenschaftliche Weltanschauung‘ trainiert worden. Ossis fragen deshalb immer nach der Bedeutung einer Sache für das praktische, einfache Leben, nach dem Nutzen für die Gemeinschaft und nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Ganz falsch !! Genau das sind heute in der pluralistischen Gesellschaft die letzten Kriterien für die Beurteilung einer Sache. Entscheidend ist: Hat es für mich einen persönlichen Vorteil oder macht es mir wenigstens Spass. Wenn keiner von beiden Gesichtspunkten zutrifft, dann ist die Sache uninteressant, man ist dagegen und schaltet nach Möglichkeit das Gericht ein. Schliesslich leben wir ja in einem Rechtsstaat.

So zeigt sich in der Rechtschreibreform die entscheidende Schwäche des pluralistischen, demokratischen Systems: Es begünstigt die Auflösung ehemaliger Ordnungen, führt zu Verzettelung und sieht Chaos als das Feld an, auf dem viele verschiedene Blumen blühen können und sollen. Mich nervt besonders, dass man spekulative, nicht beweisbare Behauptung in allen Medien mit dem gleichen Ernst behandelt, wie wissenschaftlich gesicherte, beweisbare und reproduzierbare Erkenntnisse. Das tut weh.

Aber zurück zur Rechtschreibung. Ganz so frei, ist die Schreibweise doch nicht. Natürlich kann man sich die totale Freiheit nehmen. Keinen wird das stören, wenn man kein Schüler ist und wenn man nicht eine Behörde vertritt. Für Schüler ist die neue Schreibweise ab heute verbindlich und auch die Behörden sind der neuen Schreibung verpflichtet. Aber nicht sofort. Man kann, aber man muss nicht, jedenfalls nicht gleich ... Es gibt Übergangsfristen bis 2005 und es soll in dieser Zeit auch noch Änderungen geben, eine Reform der Reform. Ein beträchtliches Durcheinander.

Gestern im Tagesspiegel ein schöner Artikel von Herrn Prof. MUNSKE. Er war Mitglied der Reformkommission, ist dann aber unter Protest ausgestiegen. Er empfiehlt einen schönen ‚Schleichweg‘: Ersetzen Sie das ‚ß‘ generell durch ‚ss‘ (das habe ich auf diesem Blatt gemacht !). Das ist erstens sinnvoll, zweitens demonstrieren Sie, dass Sie nach der neuen Rechtschreibung schreiben und drittens macht das 90 % aller überhaupt erforderlichen Korrekturen aus! Ein hervorragender Ratschlag. Ab sofort werde ich mich daran halten.

Was will man mehr? Ein neues Korrekturprogramm für den Computer!

Jürgen Albrecht, 01. August 1998

 

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