Die Sieger der Geschichte Seite 3/6
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Die Religionsanhänger Die restlichen 95 % der Bevölkerung waren nach so langer Zeit fast ausnahmslos zu Opportunisten geworden. 2,3 Millionen von den 16,6 Millionen DDR-Bürgern waren, weil es opportun war, Mitglied der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, auch ich: AL). Alle sagten das, was die Partei hören wollte, weil sie unübersehbar die Macht hatte. Alle kannten die gravierenden Unterschiede zwischen Ideologie und Realität, alle sahen täglich das westliche Fernsehen und hofften auf den gleichen Lebensstandard der westlichen Brüder und Schwestern. An eine 'lichte Zukunft im Sozialismus' 'glaubte' kaum jemand, weil der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu gravierend und unübersehbar war. Notgedrungen hatte man sich aber auf unabsehbare Zeit mit dem DDR-Sozialismus arrangiert, die eindeutigen Machtverhältnisse liessen keine Alternative erkennen. AL)
AL und die 'guten Genossen'
Ich war eingestuft, mich musste man mit Vorsicht erst mal ein paar Jahre beobachten. 'Gute Genossen' stellen mit 16 Jahren den Antrag, Mitglied dieser Partei zu werden und warten dann sehnsüchtig darauf, 18 Jahre alt zu werden. Aus ihrer 'parteilichen' Sicht hatte sie mich im Bruchteil einer Sekunde richtig eingeschätzt.
Die Glaubenssätze hingen als 'Losungen' überall an den Wänden und wurden als 'Transparente' bei Kundgebungen mitgeführt. Die beste Übersicht bekommt man, wenn man sich zum Beispiel die 'Losungen zum 1. Mai 1982' aus einer Bibliothek besorgt. 'Von der Sowjetunion lernen, heisst Siegen lernen', 'Unsere ganze Kraft für die Erfüllung des 5-Jahrplanes', 'Schöner unsere Städte und Gemeinden', 'Unsere ganze Schöpferkraft für den Sozialismus!', 'Für Frieden und Völkerfreundschaft!', 'Im Mittelpunkt steht der Mensch!'. |
Kaum sind 10 Jahre vergangen, fallen einem die zu DDR-Zeiten allgegenwärtigen und so simplen 'Losungen' nicht mehr ein. Die wirklich unverrückbaren Glaubenssätze aber waren: Die Gesetzmässigkeit der Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus, die Gleichheit aller Menschen, die führende Rolle der Partei und der 'ewige Bruderbund' mit der Sowjetunion.
Bräuche
und Rituale Wie stark diese Demonstrationen zum Ritual verkommen waren, zeigte sich besonders an der Tribüne. Hier wurde der Kulminationspunkt der Demonstration erreicht. Aber weshalb wurde hier demonstriert? Was für einen Sinn hatte der Vorbeimarsch? Keiner wusste es und vor Verlegenheit fingen alle an zu winken. So wurde die ehemalige Kampfdemonstration zu einem Huldigungsmarsch des Volkes für seine Führung umfunktioniert. Auf der riesigen Tribüne standen die Parteiführung, ausländische Gäste und 'Arbeiterveteranen' stundenlang und winkten dem vorbeiziehenden Volk zu. Das Volk wusste unten nichts mit diesem heiligen Moment - Auge in Auge mit den Machthabern - anzufangen. Mattes Winken, gespielte Begeisterung bei den Parteikadern und nur die 'guten Genossen' fühlten die Erhabenheit dieses Augenblicks. Aus den Lautsprechern dröhnte Marschmusik, aber an der Tribüne schallten die sattsam bekannten 'Losungen' aus den Lautsprechern und besonders gute 'Arbeitskollektive' wurden in einer pathetischen Sprache bei ihrem Vorbeimarsch begrüsst. Die Jugendweihe, die Brigadefeier, der Kampf um den Titel 'Kollektiv der Sozialistischen Arbeit', Brigadetagebuch, Parteilehrjahr, Ordensverleihungen, überall 'Losungen' an den Häuserwänden, internationale Solidarität, besondere Feiertage und jede Art von (absolut formalem) Wettbewerb waren weitere Bräuche. Auch dass sich die Parteiführer zur Begrüssung innig küssten, war ein amüsanter Brauch. Aber wie das für Bräuche charakteristisch ist: Fast ausschliesslich waren sie sinnentleert und nur noch hohles Ritual. In diesen Bereich gehört auch die offizielle Sprache der DDR: Pathetisch, geschwollen und fern von jeder Realität, in allen Medien und bei öffentlichen Anlässen. Das Volk hatte sich daran gewöhnt und sprach, wenn es opportun war, selber in dieser Sprache. Keiner merkte mehr, dass er zwei verschiedene Sprachen beherrschte, die private und die offizielle. Das hatten sogar schon die Schüler ab der dritten Klasse verinnerlicht. Die Partei hatte auch keine Bedenken, eindeutig religiöse Begriffe zu verwenden, sich gleichzeitig aber strikt antiklerikal zu geben. Ein Jammer, dass keiner diese Sprache so analysiert hat, wie es Victor Klemperer in seinem Buch LTI für das Dritte Reich getan hat.
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