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Schöne neue und so labile Welt

Das sind Nachrichten, mit denen gegenwärtig die Medien unsere Welt beschreiben: Eine goldene Hochzeitskutsche rollt durch Amsterdam, Erfolge des amerikanischen Bombardements in Afghanistan, überschuldete Haushalte und lachende Politiker im rheinischen Karneval, Drama beim olympischen Biathlon, Tea Künecke hat Gewichtsprobleme, Strip-Aerobic als letzter Schrei, Haarproben bei Schill und Daum, Bush-Krieg in Sicht, gefälschte Statistiken der Arbeitsämter, eine Ausstellung von Yayoi Kusama, Kirch kämpft um sein Imperium, ‚Acht Frauen' als Berlinade Triumph, Franz Meyers (93) und Hans Paetsch (92) sind gestorben, die Pharma Industrie sucht nach Potenzmitteln für Männer und Frauen, Abnehmen ohne Diät ...

Ist das die Realität ?!? Was ist für Menschen in NYC, in der sibirischen Taiga oder im brasilianischen Urwald die Realität? Wie sehen Hühner in einer Legebatterie ihre Situation? Was für ein ‚Weltbild' besitzt ein Shark am Osprey Reef?

Jeder hat seine eigene, individuelle Realität und niemand weiss, was die objektive Realität ist. Auf alle Fälle ist es nicht das Weltbild der Medien, die uns Objektivität suggerieren. Szene, Wirtschaftsdaten, Kult, Krieg, Politik, Börsenkurse, Terrorismus, Werbung und Olympia sind nur willkürliche ‚News' aus einer labilen, künstlichen Welt. Ein Video von unendlich vielen.

Extreme Labilität und kürzeste Verfallszeiten kennzeichnen unsere heutige Kunstwelt. Alles ist unsicher, unbeständig, ungewiss, unberechenbar, unzuverlässig und schon morgen uninteressant und nicht mehr wahr. Gestern ist längst vorbei. Keiner weiss, was morgen ist. Es existiert nur die Gegenwart. Trotzdem hat niemand Zeit. Die natürlichen Sozialstrukturen haben sich aufgelöst. Der Mensch ist vereinzelt. Singularität und Individualismus statt Familie und warmer Haut. Alle Tabus sind gebrochen. Was Fun verspricht, ist erlaubt. Es zählt nur das Geld. Andere Werte existieren nicht mehr. Niemand steuert diese Zivilisation. Ihre Entwicklung ist die Summe des ungezügelten, menschlichen Tatendranges. Keiner ahnt etwas von der Komplexität der Natur und vom eigenen Unvermögen. Und alle finden das ganz normal.

Die Natur arbeitet im Gegensatz zur menschlichen Zivilisation mit völlig anderen Verfahren und sehr langer Zeitkonstante. Die Veränderungen der Erde in den nächsten paar tausend Jahren sind (ohne menschliche Einwirkungen) mühelos vorherzusagen: In dieser langen Zeit ändert sich fast nichts. Für alle Lebewesen existiert das gleiche Weltbild: Ein fast ewiger Kreislauf von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Geburt, Fortpflanzung und Tod.

Das galt vor 10.000 Jahren auch noch für alle Menschen. Bis die ersten Bauern sesshaft wurden und die Gier nach Neuem und nach Mehrwert erwachte. Diese Gier war und ist der Antrieb aller hektischen Geschäftigkeit. Das Ergebnis von nur 150 Jahren technischer Fortschritt ist eine fragile, industrialisierte und von der Natur weitgehend separierte Kunstwelt mit ultra kurzer Zeitkonstante. Unvorstellbar ohne elektrischen Strom.

 

Diese künstliche Welt heisst Zivilisation. Es ist die am weitesten entwickelte Hochkultur, die es je gab. In den letzten 8.000 Jahren hat es unterschiedliche Zivilisationen gegeben. Keine war so technisch und so weit von der Natur entfernt. Alle Zivilisationen sind nach relativ kurzer Zeit untergegangen und alle aus dem gleichen Grund: Die menschliche Betriebsamkeit hat dafür gesorgt, dass entweder die Recourcen aufgebraucht waren oder stark veränderte Lebensumstände die künstliche Welt zum Einsturz brachten. Es sind die gleichen Ursachen, die in der Natur zum Aussterben von Arten führen. Nur die Zeitkonstante der Kunstwelten ist gegenüber der Natur mindestens um den Faktor 100.000 kürzer.

Nichts spricht dafür, dass es der heutigen Zivilisation anders ergehen wird. Ein einziger entscheidender Widerspruch führt offenbar immer wieder ins Verderben: Durch menschliche Aktivitäten verändert sich die Umwelt drastisch in extrem kurzer Zeit. Der Mensch aber bleibt immer der gleiche. Die langsame Zeitkonstante der Natur vereitelt seine kurzfristige Evolution. Seit 100.000 Jahren basiert menschliches Verhalten auf animalischen Prinzipien: Basic Instinct, das Recht des Stärkeren und ungezügelte Neugier. Der Mensch hat zu wenig Verstand. Deshalb hantieren heute Mammutjäger mit Atombomben, Steinzeitmenschen steuern Flugzeuge und Neandertaler spielen mit dem eigenen Erbgut.

Wie lange kann das gut gehen? Unsere synthetische Welt ist leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Schon ein kleiner Unfall im Bereich der ABC Technologien oder bei der Genmanipulation kann zum Kollaps führen. Mit der Gentechnik hätte der Mensch sogar das Mittel parat, um der langen Zeitkonstante der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Er wird an seiner eigenen Evolution pröbeln. Aber ohne fundiertes Wissen, ohne Konzept und mit Trial and Error. Das kann nur schief gehen.

Der Untergang unserer ‚Hochkultur' ist keine Apokalypse. Die Erde hat grössere, natürliche Katastrophen gesehen. Beruhigend ist, dass der Mensch nicht in der Lage sein wird, das Leben auf der Erde völlig auszulöschen. Demokratie, Pluralismus, Gerechtigkeit und Menschenrechte; Bildung, Technik, Wissenschaft, Kunst und Kultur; Einstein, Kant und Bach; Society, Lifestyle und Schickeria - alles aus und vorbei? Na und ?!? Das alles existiert sowieso nur für ein paar Prozent der Menschheit.

"Was tun?", spricht Zeus. Wahrscheinlich wurde in allen Zivilisationen diese Frage aller Fragen gestellt. Beantworten konnte sie niemand. Wir sitzen alle im Parkett: Wie geht das Theater weiter und wie lange noch wird dieses Stück gespielt ?!

Weil der Sinn unseres Daseins nicht erkennbar ist und wir hier keine Spuren hinterlassen können, sind wir unendlich frei. Leider wissen wir weder individuell noch als Gesellschaft etwas mit dieser objektiv vorhandenen Freiheit anzufangen. Sollten wir nicht wenigstens versuchen, toleranter, grosszügiger und gelassener über den Tellerrand zu gucken ??


Jürgen Albrecht, 17. Januar 2002

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