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Der gläserne Mensch im Schnüffelstaat
»Hartz IV«: Sozialamt, Arbeitsagentur, Finanzamt:
Alle schnüffeln ab 2004 in den persönlichen Verhältnissen der Bürgerinnen und Bürger.
Ausgenommen sind Vermögende

Ungekürzte Kopie eines Artikels der Jungen Welt
Autor: Werner Rügemer, 27. September 2004

 

 

Mit Hartz IV tritt ein Überwachungssystem im Aktion


Gleichzeitig mit dem »Hartz IV«-Gesetz tritt ein engmaschiges Überwachungssystem in Aktion. Durchleuchtet werden aber nicht nur Arbeitslosengeld-II-Bezieher, ihre Kinder, Ehe- und Lebenspartner. Auch alle Rentner und alle Inhaber von Bankkonten werden von neu geschaffenen Zentralstellen erfaßt.


Bereits seit 1999 konnten Arbeits- und Sozialämter erfahren, ob die Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosen- sowie Sozialhilfe ihren Banken Freistellungsaufträge erteilt haben. Die Ämter können das beim Bundesamt für Finanzen in Bonn abfragen. Dieser nachgeordneten Behörde des Bundesfinanzministeriums müssen seit 1999 alle 2 900 Geldinstitute in Deutschland die Freistellungsaufträge ihrer Kunden melden (Einkommensteuergesetz, Paragraph 45 d). Solche Aufträge kann man der Bank dann erteilen, wenn man Geld anlegt und sich bis zur Freigrenze von 1 421 Euro vom automatischen Abzug der Quellensteuer befreien will.

Bisher erfahren die Sozial-, Arbeits- und Finanzämter allerdings nur die Tatsache, daß jemand einen solchen Auftrag oder auch bei verschiedenen Banken mehrere Aufträge erteilt hat. Über die Menge des angelegten Geldes und die Höhe der Gewinne erfuhren die Ämter bisher nichts, aber sie hatten einen Anhaltspunkt, um weiter nachzuforschen.


Vom »Antiterrorkampf« …

Diese Regelung wurde 2002 erweitert. Nach der Terroraktion vom 11. September 2001 in New York richtete die Bundesregierung auf einen Wink des großen Bruders von jenseits des großen Teichs eine neue zentrale Erfassungsstelle ein: die »Konten-Evidenz-Zentrale« (KEZ). Sie ist ebenfalls im Bundesamt für Finanzen untergebracht, und zwar in der zugehörigen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in Bonn. Die Geldflüsse von Terroristen sollen überwacht, Gelder sollen eingefroren und eingezogen werden können. Deshalb müssen alle Geldinstitute seitdem der KEZ über eine Computer-Schnittstelle online jederzeit alle Informationen über alle Konten und Depots von aller Bankkunden bereithalten (Kreditwesengesetz – KWG – Paragraph 24 c).

Die Abfragen durch die Behörden bei der KEZ gehen so vor sich, daß nicht nur die Konteninhaber, sondern auch die Banken nichts davon bemerken. Die zugänglichen Daten bestanden zunächst nur aus den »Stammdaten«: Name und Adresse des Konteninhabers, sein Geburtsdatum und die Art seiner Konten. Einzelne Geldbewegungen und der Kontostand gehörten nicht dazu. Die BaFin gibt an, daß sie in den ersten neun Monaten über ihre KEZ bei den Banken 16 700 Abfragen getätigt hat, die überwiegend durch die Polizei angestoßen wurden.


… zur Kontrolle der Arbeitslosen

Das für die Bekämpfung des Terrorismus eingerichtete Instrumentarium wurde zwanglos auf weitere Bereiche ausgeweitet. Man könnte durchaus vermuten, daß der »Terrorismus« ohnehin nur ein Vorwand war. Jedenfalls beschloß die Bundesregierung Ende 2003 verschärfte Kontrollen, um die Kapitaleinkünfte aller Steuerpflichtigen zu erfassen und genauer zu besteuern als bisher.

Anlaß war das »Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit«: Mit Hilfe einer Steueramnestie wollte die Bundesregierung mehrere hundert Milliarden Euro Fluchtgelder nach Deutschland zurückholen, die im Laufe des letzten Jahrzehnts durch vermögende Geldanleger in Finanzoasen wie Luxemburg, Liechtenstein und der Schweiz gebunkert wurden. Dafür wurde das ansonsten so geheiligte »Bankgeheimnis« ausgehebelt, freilich über einen scheinbar eleganten Umweg. Die 2 900 Geldinstitute sind nämlich seit 2004 verpflichtet, allen Inhabern der etwa 500 Millionen Konten jährlich eine Aufstellung über alle Kapitaleinkünfte (Zinsen aus Sparbüchern und Bundesschatzbriefen, Dividenden und Spekulationsgewinne aus Aktiengeschäften u.ä.) auszustellen. Diese »Erträgnisaufstellung« wird allen Kunden automatisch einmal im Jahr zugeschickt (Abgabenordnung – AO – Paragraph 93).

Der scheinbar elegante Umweg beim Bruch des Bankgeheimnisses besteht darin: Die Banken melden die Kapitaleinkünfte nicht dem Finanzamt, sondern mit Hilfe der »Erträgnisaufstellung« dem Kunden. Die Finanzämter sind aber berechtigt, die »Erträgnisaufstellung« von jedem Steuerpflichtigen einzufordern. So wird dem Scheine nach das Bankgeheimnis gewahrt, das ja noch Gesetzeskraft hat (Abgabenordnung, Paragraph 30a).

Jetzt sind wir schließlich bei »Hartz IV«: Die Daten über Konten und Erträge, so beschloß die Bundesregierung termingerecht, stehen ab 2005 nicht nur den Finanzämtern, sondern nun auch den Sozialämtern und der Arbeitsagentur zur Verfügung, »wenn eigene Ermittlungen keinen Erfolg versprechen« (Abgabenordnung, Paragraph 93, Absatz 8). So können die Zahlstellen für das Arbeitslosengeld II nicht nur alles über die Konten und Erträge der Leistungsempfänger erfahren, sondern auch über die Konten der Kinder, Ehepartner, Lebensgefährten und Mitbewohner.

Diese Menschen gehören zu der »Bedarfsgemeinschaft«, deren Einkommen und Vermögen zum Nachweis der Leistungsberechtigung mit herangezogen werden und über die der Arbeitslose bzw. der Sozialgeldempfänger nun im 16seitigen Fragebogen Auskunft geben muß. Dazu muß er oder sie im »Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem zweiten Sozialgesetzbuch – Arbeitslosengeld II/Sozialgeld« das Zusatzblatt 3 »Zur Feststellung des zu berücksichtigen Vermögens« ausfüllen: Neben den eigenen Konten, Sparbüchern, Gemälden und Antiquitäten usw. eben auch die Konten, Sparbücher usw. der Kinder, des Ehepartners, des Lebensgefährten usw. Zur Ergänzung und Kontrolle können Sozialamt und Arbeitsagentur auf die Daten der KEZ zugreifen, und zwar ohne daß ein »Anfangsverdacht« gegeben sein muß: Der Bedürftige steht gänzlich nackt und durchsichtig vor seinem Wohltäter und merkt zudem gar nicht, daß er rundum ausgespäht wird.


Neue Identifikationsnummer

Die Konten-Evidenz-Zentrale erhält durch ein weiteres Großprojekt erst ihre durchschlagende Wirkung: Die neue einheitliche Identifikationsnummer. Zum schnelleren Datenabgleich verpaßt das Bundesamt für Finanzen zentral jedem Steuerzahler in Deutschland eine solche Nummer. Sie gilt ab 1. April 2005. Daß es sich um einen Generalangriff mit neuer Dimension handelt, ist auch daraus ersichtlich, daß die Bundesregierung, die beteiligten Länderregierungen und die »staatstragenden« Parteien öffentlich über das Großprojekt nicht diskutieren. Gleichzeitig wird unter Hochdruck daran gearbeitet.

Die einheitliche Steuernummer gab es bisher nicht. Jeder Bürger, jedes Unternehmen bekommt nun eine solche Nummer, lebenslang. Sie erlischt erst mit dem Tod. Damit werden alle erfaßt, die direkte Steuern zahlen oder zahlen müßten: Einkommens-, Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer. Es handelt sich freilich nicht nur um eine Steuernummer. Der Staat verfügt damit über ein Überwachungsinstrument, das dem Innenministerium jahrzehntelang verweigert wurde, weil dem ja »eigentlich« der Datenschutz entgegensteht.

Die einheitliche bundesweite Steueridentifikationsnummer wird in der Praxis zur allgemeinen Bürger-Kenn-Nummer. Denn auf die Daten der KEZ haben eben nicht nur die Finanzämter Zugriff, sondern auch die Zahlstellen des Arbeitslosengeldes II, also die Sozialämter und die Arbeitsagenturen, die Wohnungsämter usw. Die Daten müssen von den Banken und Ämtern täglich aktualisiert und zum automatisierten Zugriff bereitgehalten werden. Und das alles, ohne daß der Ausgespähte und selbst die jeweilige Bank etwas davon erfahren. Die Betroffenen müssen über die Datenerhebung und die Weiterleitung nicht unterrichtet werden, weil das einen »unverhältnismäßigen Aufwand« bedeuten würde.


Auch Rentenmeldezentrale erfaßt

Doch auch damit nicht genug. In der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) wird eine weitere Erfassungs- und Meldestelle eingerichtet. Sie hat noch keinen richtigen Namen, sondern heißt in den verschiedenen Gesetzen, als hätte man beim literarischen Meister der totalitären Bürokratenherrschaft, Franz Kafka, nachgeschaut, immer nur »die zentrale Stelle«.

Auch sie hat eine Vorgeschichte. Zum 1. Januar 2002 wurde für die neue privatfinanzierte Altersrente (»Riester-Rente« nach dem Altersvermögensgesetz) in der BfA zunächst die »Zentrale Stelle für Altersvermögen« (ZfA) eingerichtet (Finanzverwaltungsgesetz, Paragraph 5, Absatz 1, Nr. 18). Diese Zentrale ist seitdem in der BfA-Außenstelle in Brandenburg an der Havel untergebracht.

2004 beschloß der Bundestag dann die »nachgelagerte Besteuerung« der Renten (Alterseinkünftegesetz). Damit der Staat alle Renten erfaßt, um sie zu besteuern, wurde ein »umfassendes Mitteilungsverfahren« eingeführt (Einkommensteuergesetz, Paragraphen 22 a und 81). Deshalb müssen seit 2004 alle gesetzlichen Rentenversicherungsträger, landwirtschaftlichen Alterskassen, berufsständischen und betrieblichen Versorgungseinrichtungen, Lebensversicherungsunternehmen und Pensionskassen und -fonds der ZfA jährlich von jedem Rentner und jeder Rentnerin Familienname, Vorname, Geburtsdatum, Adresse sowie Beginn, Ende und Höhe des Rentenbezugs melden (»Rentenbezugsmitteilung«).

Verbunden ist diese Datenübermittlung ebenfalls mit der Identifikationsnummer (Abgabenordnung, Paragraph 139 b). Wenn das betreffende Individuum als Steuerpflichtiger erfaßt ist, steht seine Nummer schon fest. Das Finanzministerium hat über das zugehörige Bundesamt für Finanzen die Fachaufsicht über die ZfA, und zwar, wie es im Bürokratendeutsch so schön heißt, »im Wege der Organleihe« (Finanzverwaltungsgesetz, Paragraph 5, Absatz 1, Nr. 18). Die bei der ZfA gesammelten Daten dieses Organhandels werden zunächst dem Bundesamt für Finanzen, somit der KEZ weitergeleitet. Von dort gehen sie an die Landesrechenzentren, die mit den Finanzämtern der jeweiligen Bundesländer verbunden sind.


»Kumulative Grundrechtseingriffe«

Das staatliche Schnüffel- und Meldesystem richtet sich ersichtlich zum allerwenigsten gegen diejenigen, gegen die es in den Vorphasen eingerichtet wurde: gegen Terroristen und betuchte Kapitalflüchtlinge. Es betrifft auch nicht nur die Empfänger des Arbeitslosengeldes II. Vielmehr wird ein wesentlich größerer Personenkreis erfaßt: erstens alle Empfänger staatlicher Sozialleistungen, zweitens alle Rentner – auch solche, die Renten aus nichtstaatlichen Einrichtungen erhalten, drittens alle Steuerpflichtigen. Durch Zentralisierung, einheitliche Identifikationsnummer und gegenseitige Amtshilfeverpflichtung entsteht ein tiefgestaffeltes Schnüffel- und Meldesystem, das den »gläsernen Bürger« Wirklichkeit werden läßt, wie es ihn in Deutschland bisher zu keiner Zeit gab, auch nicht im Nationalsozialismus.1

Dennoch ist dieses System nur scheinbar einheitlich. Das wird etwa deutlich anhand der EU-Zinsrichtlinie: Ab 1. Juli 2005 tauschen 22 EU-Staaten Informationen über Zinserträge von Ausländern aus. Damit wird angeblich die Steuerhinterziehung bekämpft. Doch die Informationen sind hier wesentlich geringer als in der »Erträgnisaufstellung« deutscher Banken über deutsche Konteninhaber, und die traditionellen Steuerfluchtstaaten Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein, Österreich nehmen an dem Informationsaustausch überhaupt nicht teil. Außerdem werden nur Zinsen, also die altertümlichste Form des Kapitalgewinns, erfaßt, nicht jedoch Aktiengewinne, kumulierende Fonds, Gewinne aus Hedgefonds und Derivaten und andere moderne Gewinnformen. Zudem werden nur individuelle Privatkonten erfaßt. Wenn dagegen eine Luxemburger Bank, was seit Jahren schon üblich ist, für die zwei Millionen Euro eines vermögenden deutschen Geldanlegers eine Briefkastenfirma gründet, z.B. einen Trust in der britischen Finanzoase Guernsey, dann werden deren Gewinne nicht erfaßt, selbst wenn es sich um Zinsen handeln sollte. Somit wird nur die absolute Unterklasse der Geldanleger von der neuen EU-Steuer erfaßt.

Gleichzeitig stimmt die Bundesregierung viel weitergehenden Steuerfluchten Vermögender zu. So verlagert der Rennfahrer Michael Schumacher seinen Steuersitz in die Schweiz, dort wird nur ein ausgehandelter Betrag von 250 000 Schweizer Franken besteuert. Gleichzeitig verzichtet das deutsche Finanzamt auf die Besteuerung der Einkommen Schumachers von jährlich schätzungsweise 100 Millionen Euro, obwohl Schumacher deutscher Staatsbürger bleibt. Entsprechendes gilt für eine wachsende Zahl weiterer Deutscher. Diese Regelung ist zugleich nur für Bürger möglich, die in der Schweiz ein Einkommen von mehreren Millionen nachweisen können.

Die Verletzung des Datenschutzes für die Mehrheit – Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und in die informationelle Selbstbestimmung, Eingriff in das »Sozialgeheimnis« nach Sozialgesetzbuch – und der steuerliche Zugriff sind somit geprägt von sozialer Ungleichbehandlung. Weiter noch: Auf Einkommen und Vermögen der staatlichen Leistungsempfänger und »Normalverdiener« greift der Staat verschärft zu, weil er auf die Einkommen und Vermögen der besonders Vermögenden immer weniger oder gar nicht mehr zugreift.

Damit wird neben dem Persönlichkeitsrecht ein weiteres Grundrecht verletzt: die Eigentumsgarantie. Mit dem Hinweis auf zu geringe Steuereinnahmen greift der Staat in durch Eigenleistung rechtmäßig erworbenes Eigentum ein: Nach »Hartz IV« steht das Arbeitslosengeld II erst dann zu, wenn vorher notfalls Eigentum – Eigenheim, Lebensversicherung, Sparbuch, Bargeld, Schmuck usw. – aufgezehrt wird. Der Bezugszeitraum des Arbeitslosengeldes wird auf ein Jahr verkürzt, selbst wenn durch jahrzehntelange Einzahlung viel weitergehende Ansprüche erworben wurden. Die ganze Dimension wird zudem erst deutlich, wenn alle gleichzeitigen Einschränkungen (Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) zusammen gesehen werden.

 

Verfassungsklage ?

Eine Verfassungsklage wegen dieser kumulativen (gehäuften, mehrfachen) Grundrechtsverletzung steht an. Dabei käme es nicht nur auf die rechtliche Prozedur an, sondern vor allem auf die öffentliche Diskussion und darauf, daß ein wachsender Teil der Bevölkerung seine Rechte und seine Würde einfordert.

Die gleichzeitig eingeführten Überwachungssysteme wie die »Telekommunikations-Überwachungs-Verordnung (TKÜV, Erweiterung der Überwachung der Festnetztelefone auf die Handys mit Erfassung aller PIN- und PUK-Nummern) und die Krankenkassen-Chipkarte sollen hier nur erwähnt werden.

 

kopiert von Al, 28. September 2004

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