BACK

 

EINLADUNG
ZUM ABENDESSEN

09. Februar 1997, Sonntag, Hanoi

 

Das TET-Fest ist der Anlaß: Heute sind wir bei Mr. Uynh eingeladen, ein großes Abendessen. Von Van brachte Scharno gleich noch eine Einladung mit: Um 16 Uhr bei Mr. Ho, um 17 Uhr bei Mr. Uynh. Wir steigen in die Taxe, unterwegs stelle ich fest, daß wir die Blumen vergessen haben. Wenn wir Blumen auf der Straße sehen, werden wir mal anhalten. Ein paar Meter weiter schreit Scharno auf: 'Mensch, ich hab' doch die Geschenke für Uynh im Hotel gelassen!' Da hilft nichts anderes, wir müssen umdrehen.

Das ist problematisch, denn der Fahrer will nicht begreifen, daß wir plötzlich das Fahrziel um 180 Grad ändern wollen. Er spricht kein Wort english, aber wir machen ihm klar, erst zurück, dann wieder hier lang. Im dichtesten Verkehrsgewühl, gleich hinter der Eisenbahnschranke, wendet er im Zeitlupentempo bei fließendem Moped Verkehr auf die Gegenspur (wenn es so etwas wie Spuren überhaupt in Hanoi gibt). Ein Bild für einen Slapstick-Film. Zurück, Geschenke holen, Blumen kaufen und dann ein neuer Start in Richtung Hochschule.

Ho und Uynh sind Lehrer an der Hochschule und wie wie viele Hochschulangehörige wohnen sie auf dem Hochschulgelände. Die Grundstücke haben sie praktisch als Deputat erhalten und darauf ihre Häuser im 3-Meter-Raster gebaut. Auch Van hat hier 30 Quadratmeter Bauland, aber noch nichts gebaut. Jetzt kommen wir dort mit der Taxe auch wirklich an. Bei der Begrüssung stellen wir fest, dass die Taxe mit unseren schönen Blumen weggefahren ist.

Aber das ist kein Problem, denn diese Story ist bei Mr. Ho ein Lacherfolg und mindestens soviel wert wie die Blumen. Ho spricht weder Deutsch noch English, er empfängt uns mit Frau und Tochter, Verständigung mit Zeichen- und Körpersprache. Mit der Tochter werden wir morgen nach Mai Chau fahren. Nur sie spricht English, allerdings mit schwer verständlicher Aussprache - typisch für alle Vietnamesen. Erst wenn sie aufschreiben, was sie zu sagen meinen, versteht man, um was es geht. Wir diskutieren über die Hochschule und über den Ausflug. Wir haben Mühe, uns zu verabschieden, um pünktlich nebenan bei Mr. Uynh anzukommen, aber gegen 17:15 gelingt uns das. Bei Onkel Ho gab es kein Essen, dafür aber Schnaps.

Herr Uyhh erwartet uns mit seiner Frau schon ungeduldig: 'Ich bin immer pünktlich!' sagt er zur Begrüssung in wirklich gutem Deutsch. Er hat jede Taxe, die hier vorbeikam, nach uns abgesucht. Blumen hat aber keiner abgegeben. Herr Uynh war der erste vietnamesische Student an der Burg Giebichenstein. Von 1961 bis 1968 hat er in Halle studiert. Ein freundlicher Empfang, die Geschenke werden überreicht, bei Schnaps und Bier werden große Reden gehalten, vor allen Dingen aber wird gegessen. Schon 20 Minuten nach unserer Ankunft beginnt das Abendessen. Wir essen pausenlos, bis wir wieder gehen.

Herr Uynh steuert das Gespräch und es ist anstrengend. Wo hat Mr. Uynh was studiert? Was alles hat er gemacht und erfunden? Woran war und ist er beteiligt? Welche Preise hat Mr. Uynh bekommen? Wie wenig verstehen andere von Mr. Uynh's Ideen !! Das nervt. Seine Frau sagt wenig oder gar nichts, sie füllt mit stoischer Zielstrebigkeit und in permanenter Kleinarbeit unsere Schüsseln von den Tellern auf, die in großer Zahl auf dem Tisch stehen. Es werden immer mehr, halbvolle Teller werden durch neue ersetzt, die im Hintergrund (von wem?) aufgefüllt werden. Der Tisch reicht nicht aus, ein Beistelltisch wird hereingeschoben. Uynh's Frau hat immer das gleiche unbewegliche, asiatische Lächeln auf dem Gesicht, während sie unsere vollen Schälchen durch leere ersetzt, die sie aber gleich wieder zu füllen beginnt. 'Das größte Glück für eine vietnamesische Frau ist, den Mann mit Essen zu versorgen!', sagt Uynh. Sie hat diese Maxime wahrscheinlich so verinnerlicht, daß sie kein größeres Glück kennt, als die Schüsseln der Gäste aufzufüllen. Auch nervig.

Es gibt Bier dazu und Schnaps. Auch wenn man längst satt ist, nicht mehr ißt und trinkt, werden Schüsseln und Gläser ab- und aufgetragen, sie füllen sich automatisch. Nach zwei Stunden mache ich den ersten Anlauf, dieses gastliche Haus zu verlassen. Der Sohn kommt mit vier oder fünf jungen Burschen, alle ca. 20 Jahre alt. Die müssen doch Hunger haben und hier gibt es so viel zu essen!? Nein, sie haben keinen Hunger und keine Zeit. So müssen wir vor der Verabschiedung erst noch die letzten Gänge essen: Es gibt Obst, Kaffee, Tee und Süßigkeiten. Es wird eine spezielle Maracuja Sorte serviert, die hervorragend schmeckt, aber nicht eine so trockene Schale hat, wie in Sumatra.

Mr. Uynh überreicht mir zum Studium eine dicke Akte mit Schriftverkehr über die Konstruktion einer von ihm erfundenen Sorte von Windmühlen mit vertikaler Achse. Gebaut ist in Vietnam davon noch keine. Aber ich kenne das Prinzip und das wundert ihn nicht. Er bittet mich um die Durchsicht der Unterlagen. Händeringend wird ein Investor gesucht. Inzwischen ist noch ein weiterer Lehrer der Hochschule zu dieser Runde gestoßen. Einer von vielen Nachbarn.

Gegen 20 Uhr schaffen wir es, das Haus zu verlassen. Große Verabschiedung, erneute Einladung, alle reden durcheinander, Hektik, Chaos. Endlich sind wir draußen und können uns wieder frei bewegen. Um zu entspannen beschließen wir, ins Hotel zurück zu laufen. Aber auf der Straße geht die Hektik weiter: Es ist dunkel, wir laufen und stolpern zwischen Garküchen, Gemüseständen, Schrott, Müll und Eisenläden auf unser Hotel zu. In beiden Richtungen entsetzlich viele Mopeds auf der Straße, alle mit aufgeblendetem Licht. Fahrräder, Rikschas, Autos hupen pausenlos und von allen Seiten. Hätten wir den Kulturschock nicht schon hinter uns, würde er jetzt einsetzen.

Eine Stunde später kann ich endlich die Tür zu meinem schönen, fensterlosen und deswegen ruhigen Zimmer Nr. 105 hinter mir zumachen.

 

03. September 2002

 

BACK