BACK

 

HOCHSCHULEN
UND CHOLON

08. März 1997, Sonnabend, Saigon

 

Kaum ein Vietnamese benutzt das Wort 'Saigon'. Die Amerikaner haben diesen Begriff diskreditiert. Diese Stadt heißt jetzt offiziell Ho-Chi-Min-City und dieser Begriff hat sich eingebürgert, obwohl darin ja auch die Sprache der Amerikaner vorkommt. HCMC ist die offizielle Abkürzung. Für westliche Zungen ist das umständlich, ich habe nicht feststellen können, was die Vietnamesen umgangssprachlich zu dieser Stadt sagen.

Um 8:30 sind wir in der Hochschule für Architektur. Der Vice-Rector empfängt uns. Man weiß aber hier mit uns nichts anzufangen: Van hat uns übermittelt, wir sollen hier einen Vortrag halten. Jetzt erklärt man uns, das geht nicht, weil die Studenten beschäftigt sind, kein Raum dafür frei ist, usw. Wir unterhalten uns über Studentenzahlen und die Ausbildungsrichtungen. Der Vice-Rector verabschiedet sich bald und die beiden anderen Lehrer führen uns durch die Schule. Sehr viele Mopeds und Motorräder stehen auf dem Hof: Nichts geht mehr. Ein Lehrer macht Unterricht in einer Klasse mit ca. 100 sehr jungen Studenten. Fenster und Türen offen. Holzbänke, Lenin an der Rückfront. Freundliche, helle Gebäude, die Sonne scheint.

80 Studenten arbeiten in einem Bildhauer-Atelier: Naturstudium, Akt mit Badehose. Große Freude über die Abwechslung, als wir fotografieren.

In der Computerabteilung, 30 PCs, es läuft AutoCAD 12. Wir bekommen einen selbst geschriebenen AutoCAD-Lehrbrief. Eine Frau (50) und ein Techniker (30), beide können kein English. Einige Studenten sprechen English. Man stellt mir einen Rechner zur Verfügung. Menschentrauben um mich herum. Nach dem dritten Anlauf läuft DECOS. Ich mache eine kleine Vorführung. Die Studenten sind begeistert, die Lehrer sind nicht mehr da. Wie an der Hochschule in Hanoi. Ich lasse DECOS hier und verweise auf die readme.doc und auf Mr. Van in Hanoi.

Um 14 Uhr kommen wir mit der Taxe in der Kunsthochschule an. Der Rector begrüßt uns, es sind auch schon vier Studenten da. English. Wir telefonieren ergebnislos mit der Privatschule. Schade, das wird nichts werden. Ein TV mit Video wird installiert. Ich bekomme einen Computer . Scharno zeigt ein Video und hält einen kleinen Vortrag. In dieser Zeit installiere ich DECOS unter Windows 95 - gut, daß ich meine ersten Erfahrungen damit bei der Schwägerin gemacht habe! Aber DECOS läuft, ich führe es vor und schenke dann die Software der Hochschule zum heutigen Internationalen Frauentag. Große Freude! Nach einer guten Stunden sind wir einschließlich der angeregten Diskussion fertig, die Studenten klatschen. Ungefähr 40 Studenten und einige Lehrer haben diese lebendige Veranstaltung besucht. Und das am Sonnabendnachmittag!!

Anschließend sprechen wir noch intensiv mit dem Rektor und dem Computermann. Hier ist man sehr interessiert und will mit DECOS arbeiten. Große Zustimmung als ich sage, ich komme in meinem Urlaub wieder und mache einen DECOS-Lehrgang. Wir fahren mit der Taxe zurück und sind um 16 Uhr wieder im Hotel. Eine Stunde Siesta.

Am Abend wollen wir nach Cholon fahren, das Chinesenviertel von HCMC. Um 18 Uhr fahren wir mit einer Taxe nach Cholon. Es kostet 35.000 Dong und bei der halbstündigen Fahrt wird es dunkel. Wir kommen vom Ngo Gia Tu Boulevard und lassen uns an einem großen Kreisel absetzen.

Riesiger Mopedverkehr um diesen Kreisel. Hier ist es richtig gefährlich, über die Straße zu gehen. Die Leute fahren aus europäischer Sicht viel zu schnell und dabei noch ohne System und Verstand! Aber es passiert nichts, meistens. Ein kulturelles Phänomen. Dieses Verkehrssystem ist offensichtlich organisch über Jahre und Jahrzehnte aus dem Fahrradsystem heraus gewachsen. Ohne Gesetze und ohne Führerschein. Es basiert nur auf zwei Regeln:
1. Keiner darf den anderen berühren.
2. Der Stärkere hat die Vorfahrt.
Alles andere ist erlaubt. Im Rahmen dieser zwei Regeln kann jeder machen, was er will und was für ihn nützlich und praktisch ist. Bis zu fünf Leute (Vater, Mutter, 3 Kinder, Baby schläft) auf einem Moped, auf der linken Strassenseite, unbeleuchtet gegen den (mehr oder weniger) Rechtsverkehr. Wenden im dichtesten Verkehrsstrom. Gegenseitige Durchdringung mehrerer Mopedströme an Kreuzungen (!!!). Damen in langen Kleidern mit Hut, Mundschutz und 80 Zentimeter langen, hochmodischen Handschuhen im Damen-Reitsitz hinter dem Driver. Ein wirklich bemerkenswertes System, weil es mit diesen zwei Regeln unfallfrei und sehr zügig funktioniert.

Es ist gegen 18:45 und wir gehen erst mal Essen. Eine einladende, chinesische Gaststätte. Eine große Pho mit einem Ei für jeden, Scharno ein Bier, ich einen Tee. Es schmeckt, aber etwas Besonderes ist es nicht... bis auf den Preis: 54.000 Dong. Wir bezahlen, sagen der Dame aber, daß wir wissen, daß dieser Preis mindestens 100% zu hoch ist und wir das nächste Mal zur Konkurrenz gehen werden. Sie lächelt das asiatische Lächeln. Genau das wußte sie schon vorher. Unser Fehler: Wir hatten vorher keinen Preis vereinbart. Geschenkt.

Dann laufen wir die Nguyen Tri Phuong hinunter, weil diese Straße relativ hell ist. Das war ein Fehler, es wäre besser gewesen, den Boulevard runter zu laufen, auf dem wir gekommen sind. Aber er sah so dunkel und unbelebt aus. Mir war schon hier das Ganze zu viel: Zu laut, zu dreckig, zu dunkel, zu wenig Chinatown (Ich hatte als Bild von Chinatown in Penang, Malaysia im Kopf ... kein Vergleich hier !). Die Gegend hat nichts Originelles, es ist die Architektur von Hanoi, nur vielleicht noch einen Zahn dreckiger. Außerdem konnten wir schlecht orten, wo wir überhaupt sind, es gab kaum Straßenschilder. Wir einigten uns auf das System ‚Ariadne-Faden' und gingen bis zur Kreuzung Tran Phu / Nguyen Trai. Diese Kreuzung (in sehr spitzem Winkel) war so markant, daß ich meinte, man müßte sie auf der Loose-Karte erkennen. Jetzt war Scharnos Ehrgeiz geweckt. Er behauptete (zu Recht), unseren Standort identifiziert zu haben, ich zweifelte. Wegen der Dunkelheit und der falschen Brille konnte ich auf dem Plan die Straßennamen nicht lesen. Wir gingen zurück und mir paßte diese ganze Situation überhaupt nicht, am liebsten wäre ich sofort wieder in eine Taxe gestiegen und ins Hotel zurück gefahren. Scharno aber wollte weiter und er findet auch den richtigen Weg .

Jetzt kommen wir wirklich nach Cholon. Einbahnstraßen, Geschäft an Geschäft, enge Straßen, kleine Häuser aber nicht das Chinesenviertel von Bangkok oder Penang. Vor allen Dingen die unzähligen Mopeds gehen mir mit Lärm, Gestank und der unvernünftigen, lebensgefährlichen und aggressiven Fahrweise auf die Nerven. Ich habe ein wirkliches Problem, als wir an dieser wahnsinnigen Kreuzung stehen: Es kann einfach nicht wahr sein, daß der Mensch auf dieser Erde existiert, um nachts auf dem Moped mit der ganzen Familie spazieren zu fahren!! Nie haben wir bisher einen solchen Wahnsinnsverkehr erlebt! Im Gegensatz zu mir ist Scharno begeistert, er filmt diesen Verkehr mit der Videokamera.

Wir laufen auf dem Hung Vuong Boulevard zum Kreisel zurück, dort setzen wir uns an die Straße und trinken zu zweit eine 'formatierte' Kokosnuß: 4.000 Dong und sehr gut. Jetzt wollen wir zurück. Der erste Taxi-Driver ist ohne jede Ahnung, er weiß nicht, wo wir hin wollen und er kann kein Wort English. Wir steigen gleich wieder aus. Der zweite Versuch klappt, um 21:15 sind wir wieder im Hotel.

Heute gehe ich nicht mehr spazieren: Auf dem Le Loi Boulevard vor unserem Hotel Mopeds in zwölf Spuren nebeneinander. 12 x 150 Mopeds vor der roten Ampel! Superstau, Krach und Dreck. Heute ist der Internationale Frauentag: Nichts ist schöner, als ihn mit Familie oder Freundin auf dem Moped zu verbringen!! Jetzt vom Balkon des Hotels aus zu sehen: Rundherum auf allen Straßen, nur Mopeds und Motorräder !

 

23. Oktober 2002

 

BACK