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COMPUTER GLEICH
KULTURSCHOCK ??

04. März 1997, Dienstag, Hanoi

 

In den vergangenen Tagen gab es entsetzliche Probleme mit dem Dateimanager. Studenten und Lehrer sind hervorragend motiviert und machen fast übereifrig mit. Aber niemand kann eine Datei auf die Diskette sichern und scheinbar lernt es auch keiner !! Ich konnte mir nicht anders helfen: Ich habe einen Zettel in English und Vietnamesich ausgegeben: Wie sichere ich in 10 Schritten eine Datei auf Diskette? Ich zeige nur noch auf diesen Zettel und rede nicht mehr darüber. Keine Zeit und keine Nerven.

Um 9 Uhr war mein Zettel heute übersetzt, vervielfältigt und ausgegeben. Am Vormittag habe ich drei Stunden nur ARRANGE mit DECOS gemacht. Fast das abstrakteste Bedienproblem bei diesem Programm. Fast alle haben es begriffen und waren in der Lage, das minimalste ARRANGE zu programmieren. Auf dem Monitor waren die entsprechenden Bilder zu sehen. Absolut erstaunlich.

Kurz vor Schluß fragte ein Mädchen: ‚Sie haben alles erklärt, aber nicht das Speichern mit dem Filemanager!?' Darauf habe ich nur gewartet: ‚In diesem Kurs sind nur Spezialisten versammelt. Am Anfang habe ich gesagt: Spezialist ist, wer mindestens mit dem Norton Commander oder dem Filemanager umgehen kann. Das wird hier vorausgesetzt. Wir werden auf keinen Fall hier über den Filemanager reden: Keine Zeit! Aber ... wer es nicht kann, für den gibt es einen Zettel sehr nützlichen Zettel …! Herrlich, ich bin das Ding los!!

Eines ist mir aber klar geworden: Ich glaube, hier wird ein fundamentales und kulturelles Problem sichtbar. In dieser Kultur, die archaischer Agrarwirtschaft noch so nahe ist, kommt es nicht vor, dass formale Arbeitsschritte von 1. bis 10. exakt abzuarbeiten sind. Tauch hier ein Problem auf, dann ist die erste und einzige Problemlösungsstrategie das Palaver (nicht abwertend gemeint)! In der Gruppe wird solange geredet und gehandelt, bis das Problem gelöst ist.

Am Computer aber funktioniert diese ganz natürlich Technik nicht nicht. Vor dem Computer sitzt jeder allein. Der Computer ist absolut intolerant gegen kleinste Fehler und er versteht nur eine völlig ungewohnte, abstrakte Sprache, die auch noch die Benutzung von Maus und Tastatur erfordert. Palaver oder zufälliges Probieren (wie bei Computerspielen) hilft überhaupt nicht weiter. Diese völlig fremde Kulturtechnik muß wie ein Schock wirken. Nur die Wendigsten, Intelligentesten und Flexibelsten können sich auf die neue Technik schnell einstellen. Die meisten brauchen für diese Umstellung Zeit. Viel Zeit. Und nur ganz wenige werden am Ende die Übungen wie gefordert auf ihrer Diskette gespeichert haben.

Das liefert auch eine Erklärung für den typischen Umgang mit Computern in Vietnam: Viele können mit unterschiedlichen Softwaresystemen umgehen, Corel, WinWord, Exel, sogar AutoCAD. Kaum einer aber weiß, was Objekte sind, dass und wie man sie sichern kann. Kaum jemand nimmt am Abend das auf Diskette mit nach Hause, was er am Tage erarbeitet hat. Und das Verrückteste daran ist: Kaum jemanden stört es, daß er immer wieder von vorne anfängt, wenn der Computer am nächsten Tag neu gestartet wird! Man weiß überhaupt nicht, dass es diese Möglichkeit gibt.

Der Computer ist in diesem Stadium nicht mehr als ein Spielzeug. Daß man ihn wie ein Werkzeug benutzen und sinnvoll damit arbeiten und produzieren kann, ahnt noch kaum jemand. Dieses naive Herangehen ist faszinierend. Eine interessante Frage ist, was besser, nützlicher ist: Spielerisch, naiv und auf Entdeckungsreise, wie in Vietnam? Gehemmt und ängstliche wegen der angeblichen Intelligenz der Computer, wie es in Europa zu beobachten ist?

Schon wieder eine Verabredung mit einer schönen Frau! Sie heißt Flower (sagt sie), kommt aus Hanh Hoa und wohnt im Zimmer 308 des Studentenwohnheims der Hochschule für ausländische Sprachen in Hanoi. Gegen 18:30 waren wir endlich zu Hause und mußten was essen. Also auf zu der Garküche, in der wir die großen Verständigungsprobleme hatten. Inzwischen ist Scharno dort Stammgast, weil die Pho Xe Mau dort angeblich unvergleichlich gut schmeckt. Ich habe dort heute nachmittag eine Xe Mau gegessen, er eine Pho Ga - am Abend machen wir es umgekehrt.

An einen der Nachbartische setzt sich eine junge Frau mit einem Soldaten zum Essen. Beide sind groß, gut gewachsen, klare Gesichter, gepflegtes Äußeres. Die Frau sitzt noch nicht ganz, da spricht sie mit uns schon English im vietnamesischen Stil: Der letzte Konsonant wird unbeirrt weggelassen. Zwei Minuten später saß sie neben mir und drei Minuten später waren wir schon auf das Zimmer 308 eingeladen! ‚Da wohnen 13 Leute, alle freundlich, alles Mädchen, keine Boy's. Wir sind sehr glücklich, wenn Ihr uns in unserem Zimmer besuchen kommt!' Ihr Boyfriend (kein Widerspruch von ihr, als wir ihn so nennen) setzt sich auch an unseren Tisch. Er hat Medizin studiert und ist jetzt als Mediziner bei der Armee.

Flower redet pausenlos. Wir verabreden uns: Nach Saigon, Montag 19 Uhr, hier in dieser Kneipe. Anschließend gehen wir auf's Zimmer 308! Sicher verstehen wir wieder das Signalsystem völlig falsch und unsere Phantasien laufen in die verkehrte Richtung. Aber wahrscheinlich ist es für alle einfach ein großer Spaß, wenn zwei Ausländer auf diesem Zimmer auftauchen. Und dabei lernen alle auch noch English!

Als wir aus Saigon zurück waren, hatten wir diese Verabredung längst vergessen. Es war viel zu viel los. Erst Tage später fiel uns ein, daß uns ein schönes Erlebnis entgangen war.

Wir wohnen in einer sehr lauten Umgebung. Überall entsetzlicher Krach von unzähligen Mopeds, Motorrädern, von Hupen und den hämmernden Geräuschen der Eisenstraße. Heute früh habe ich hier beobachtet, wie zwei Leute mit einem mindestens 6 Meter langen Eisenprofil die Straße (starker Verkehr in beiden Richtungen !!) im 90-Grad-Winkel überquerten. Die ganze Straße ist nur 8 m breit - abenteuerlich!

Auch wie der Stahl hier transportiert wird, ist eine eigene Photoserien wert: Rohre, Armierungsstahl, Stahlprofile, Blech in riesigen Tafeln: Alles wird mit Spezial-Lasten-Cyclos weg- und herangefahren. Unglaublich!

Ein fünfjähriger Junge rennt bei dicht in beiden Richtungen fließendem Mopedverkehr schräg über die Eisenstraße. Den Verkehr um ihn herum scheint er nicht zu bemerken. Mir stockt der Atem. 'Im nächsten Moment wird er gleich dreimal hintereinander überfahren', denke ich. Was passiert? Nichts. Dieses Verkehrssystem verkraftet solche Situationen. Die Geschwindigkeit ist relativ gering und jeder rechnet ständig mit einem abrupten Kurswechsel.

Unter Mittag testen wir unsere neue Erkenntnis: Ich laufe langsam aber zielstrebig quer über die große, belebte Kreuzung an der Eisenstraße, auf der sich vier Verkehrsströme durchdringen !! Scharno filmte das Experiment mit der Videokamera. Das ist der Beweis und es zeigt, wie man so etwas gefahrlos macht: Man muß stetig, unbeirrt und gerade laufen und sich absolut nicht um den Verkehr kümmern. Für alle ist dann zu erkennen, womit zu rechnen ist. In 99,99% aller Fälle passiert nichts. Darauf sind hier alle geeicht.

Es ist 21:15 und der Tag geht zuende. Ich verabschiede mich von Van, Lan und der Schwägerin und laufe durch die lange Straße, an der Hochschule vorbei, zum Hotel zurück : Viel Dreck, viel Lärm, keine Straßenbeleuchtung. Die Hälfte der Geschäfte sind noch offen. Wer will, der kann auch jetzt noch eine Stahlplatte von drei Quadratmetern hier kaufen, fünfzig Meter Aufzugsseil, ein altes Baggergetriebe, ein Differential vom W-50 oder einen mannshohen Hydraulikzylinder. Es könnte ja gerade jetzt einer kommen, der genau das sucht und braucht.

Schlechte Wege für Fußgänger, wenn überhaupt. Pfützen vom gestrigen Gewitter. Keine Kanalisation, alles läuft in ein kleines Nebenflüßchen des Red River. Was nicht alleine läuft, wird hingefahren und reingekippt. Jetzt am Abend leeren alle ihre Mülleimer auf der Straße aus. Straßenkehrer (mit Mundschutz, meistens Frauen) schippen das Zeug in große Müllkarren. Die werden in der Nacht von einem Müllauto geleert. Wohin das dann gefahren wird - sicher in den Red River oder auf eine Mülldeponie mit Grundwasserdichtung nach DIN-1234!? Viele Mopeds mit aufgeblendetem Licht sind unterwegs. Alle Fahrräder unbeleuchtet. Die wenigen Motorräder fahren mit 50 oder 60 km/h in diesem Gewühl. Artistische Einlagen nach rechts und links. Es ist faszinierend, daß fast nichts passiert. Wir haben bisher nicht einen Verkehrsunfall, aber tausende Beinah-Unfälle gesehen.

 

23. Oktober 2002

 

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