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VORLESUNG UND
NOCH EIN FEST

21. Februar 1997, Freitag, Hanoi

 

Nur bis 4 Uhr habe ich geschlafen. Dann bin ich hellwach. Ich gehe im Kopf die Vorlesung durch, die ich mit Scharno heute halten werde. Gegen 4:30 steige ich auf's Dach. Es könnte ja sein, daß Mond und Sterne zu sehen sind. Ist aber nicht: Wie immer liegt eine dicke Wolkendecke über Hanoi. Ich rasiere mich, dusche und gehe gegen 6 Uhr wieder ins Bett und kann jetzt eine Stunde sehr schön schlafen. Dann das übliche Frühstück mit Scharno.

Gegen 8 Uhr werden wir mit Mopeds abgeholt. Ich fahre mit Luc schon los, Scharnos Übersetzer ist noch nicht da. Er kommt auch nicht, sodaß sich Scharno ein Moped von der Straße greifen muß - was hier immer ohne Probleme funktioniert - um pünktlich in der Hochschule zu sein. Später stellt sich dann heraus, daß sein Dolmetscher Khan festgestellt hat, daß er ein außerordentlich schlechtes Horoskop für heute und die nächsten Wochen hat, das ihn ausdrücklich vor Kontakt mit Ausländern und dem Mopedfahren warnt. Da kann er (mindestens) heute für Scharno unmöglich übersetzen.

Für 8:30 ist unsere Vorstellung und die Einführungsvorlesung angekündigt. Die Studenten sind zu 90 Prozent anwesend, ihr Chef Sah (wir nennen ihn den Kommissar) nicht. So gegen 8:45 geht es dann ‚fließend' los. Es klappt ganz gut. Wir sprechen abwechselnd zu drei Punkten: Vorstellung, Fach in Halle, Lehre in Hanoi. Die Übersetzung klappt mit Luc besser, als erwartet. Scharnos Dolmetscher ist zwar inzwischen auch angekommen, er übersetzt aber nicht. Eine einzige Katastrophe ist die Technik: Ein permanente Wackelkontakt läßt ständig den Overheadprojektor ausgehen, der Diaprojektor funktioniert gar nicht. Die Tafel soll mit Filzstift beschreibbar sein, aber man sieht kaum etwas, die Lautsprecheranlage ist nicht mehr als ein krächzendes Spielzeug. Aber wir sind ja Routiniers, wir überspielen das alles charmant und überstehen dieses Chaos.

Eine Diskussion kommt im Plenum nicht zustande, Konfuzius läßt grüßen. Aber im Anschluß an die offizielle Veranstaltung gibt es mit Studenten und Lehrkräften interessante Gespräche. Es kommen auch gleich drei Studenten, die sich gerne DECOS auf ihre privaten Computer kopieren möchten! Es ist schwer ihnen klar zu machen, daß es Software gibt, die man nicht einfach kopieren kann, ohne die Urheber zu fragen. Es ist aber offensichtlich ein großes Interesse vorhanden, allerdings vorwiegend auf der Seite der Studenten.

Von 11:30 bis 14 Uhr ist Mittagszeit, sie wird von den Lehrkräften und Studenten strikt eingehalten. Diese Siesta gehört zur Kultur dieser Hochschule. Niemand ist zu bewegen, in dieser Zeit zu arbeiten. Unter keinen Umständen! Es ist schon ein Erfolg, dass der PC-Raum in dieser Zeit nicht verschlossen wird. Das funktioniert aber nur, weil ich einfach den Raum nicht verlasse. Aber ich bin allein. Auch die eifrigsten Studenten machen Mittag.

Auch ich muss etwas essen. Auf der Straße vor der Hochschule, 150 Meter nach rechts: Eine große Garküche. ‚Simai, Pho Ga!', langsam bin ich perfekt in Vietnamesisch. Das heißt in der Langfassung: ‚Ich möchte bitte eine Nudelsuppe mit Hühnerfleisch!' Die Suppe schmeckt, sie ist gut, die Leute freuen sich, daß der lange Mensch die Suppe ordentlich mit Stäbchen essen kann. Hier kostet dieses reichliche Mittagessen 5.000 Dong, weniger als einen halben Dollar. Dann gehe ich wieder zurück in den Computerraum.

Dort teilt mir Mr. Ho offiziell mit, daß der Computerraum nur zwischen 8:30 und 11:30 und am Nachmittag von 14 bis 17 Uhr offen sein wird. Aus organisatorischen Gründen ist es nicht möglich, diese Zeiten zu verlängern! Außerdem hält es die Hochschulleitung für nicht durchführbar, daß ich eine Vorlesung in der Mittagspause von 12 bis 13:30 halte. Das ist die Zeit der vietnamesischen Hauptmahlzeit, Ruhepause, heilig, Tradition ... Ich verstehe soviel, das ist auf keinen Fall machbar. Ich hatte vorgeschlagen, die Vorlesung in die Zeit zu legen, in der der Computerraum verschlossen ist. Unser Hauptproblem besteht z.Z. darin zu begreifen, daß hier die Uhren anders laufen. Wir können uns hier nur einordnen, den Rhythmus an dieser seltsamen Hochschule können wir durch einen dreiwöchigen Aufenthalt nicht verändern.

Ob ein Fax aus Halle an der Hochschule angekommen ist, war heute nicht festzustellen. Mai Anh heiratet morgen, das Sekretariat ist geschlossen und nur dort steht ein Faxgerät. Es ist praktisch unmöglich, an dieses Faxgerät heranzukommen, wenn Mai Anh nicht da ist, jetzt aber macht sie erst mal vier Wochen Honeymoon.

Am späten Nachmittag treffe ich mich mit Van. Ich laufe mit ihm zur Wohnung seiner Schwägerin. Der Computer ist von der Straße ins Zimmer zwischen die Betten geräumt worden. Offensichtlich nur wegen mir, weil es mir da draußen zu laut war. Ich bewundere (und bezahle) das inzwischen eingebaute CD-ROM-Laufwerk und installiere die erste Raubkopie: AutoCAD R13 unter Windows 95. Es gibt Probleme, weil ich hier keinen Dateimanager finde, aber nach 30 Minuten habe ich ein Erfolgserlebnis: Die neueste AutoCAD-Version läuft, 7.000 Dollar gespart! Bald sitzen wir schon bei der ersten Übung zu AutoCAD. Lan & Lan (Schwägerin & Tochter von Van) links und rechts von mir. Meine Lehrbriefe wurden per Moped noch schnell aus dem Hotel herbeigeschafft: Lan fährt mich hin und zurück.

Gegen 19 Uhr aber wird zum Essen gerufen. Scharno ist auch eingetrudelt, eine große Familie, mehrere Generationen, sitzen um den Tisch. Ein ganz tolles, überreichliches Abendbrot ist vorbereitet, denn heute ist der erste Vollmond nach dem TET-Fest (das findet immer am 1. Neumond im Februar statt). Auch dieser Tag muß wieder groß gefeiert werden. Neujahr gehört den Verstorbenen, der heutige Tag den Lebenden. Ich kann mich nicht zurückhalten und sage, daß ich noch nie so ein schönes Geburtstagsessen mit so vielen Freunden hatte. Große Freude! Eine Flasche Sekt wird geholt, Blumen werden nach 10 Minuten überreicht, Anstoßen, Essen, lebhafte Diskussion, heute nicht so formell, wie beim ersten Mal.

Sechzehn freudige Menschen sitzen um den Tisch. Ich bin der älteste, denn der Großvater ist zum Schachspielen ausgegangen. Die Großmutter kommt nur zur Begrüßung an den Tisch. Sie will nicht mit uns essen, weil sie erst auf den Großvater warten will. Sie hat aber maßgeblich das Essen gekocht. Es stellt sich heraus, daß sie Köchin bei Ho Chi Minh war.

Nach dem Essen will uns Van unbedingt zeigen, was an diesem Tag in den Pagoden von Hanoi los ist. Wir besuchen drei oder vier Pagoden, Scharno mit Video, ich mit Kamera. Himmel und Menschen und tatsächlich ist heute abend über Hanoi auch der Vollmond zu sehen, vereinzelt sogar die Sterne. Immer noch gibt es Wolken am Himmel, aber dazwischen auch große Löcher.

Mir fällt es schwer, alles was ich sehe aufzunehmen, ich habe zu viel gegessen und bin müde. Als wir auf dem Rückweg unsere Rucksäcke bei der Familie wieder abholen, muß noch Bambustee getrunken werden - die Frauen sitzen vor AutoCAD und haben viele Fragen - aber ich muß jetzt nach Hause, Schreiben und packen soll ich ja auch noch, denn morgen ziehen wir um! Also laufen wir, gefolgt vom Vollmond, zu unserem Hotel Elegant. Schrecklich viel los auf der Straße, immer noch alles voller Mopeds, viel Verkehr und viel laut.

Endlich sind wir im Hotel. Es ist 23 Uhr, als ich mit meinen Notizen fertig bin und ich steige auf's Dach: Der helle Vollmond fast im Zenit! Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, denke ich: Dieser helle Stern, er funkelt doch so wie der Sirius?! Ich peile, suche, gucke und tatsächlich: Aus dem Dunst der hohen Wolken taucht der Orion auf: Die vier äußeren Sterne des Orion und die drei aus dem Fragezeichen - sie verweisen direkt auf den Sirius. Der Orion liegt ca. 30 Grad schräger als in Europa, der Sirius sehr hoch, er blinkt fast genau auf der Höhe von 45 Grad. Sooo etwas Schönes schenkt man mir zum Geburtstag!

 

22. Oktober 2002

 

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