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9. November 1989 ... Seite 1/2
 

Um diese Zeit (17:04) war vor drei Jahren noch überhaupt nichts los. Am 09. November 1989 war ich auch an der Hochschule hier in Halle. Es lief ein DECOS-Lehrgang, der erste und einzige, den wir für Industriepartner organisiert hatten.

Die politische Situation war heiss. In Ungarn war die Grenze offen und mit einigen Zügen waren die 'Botschaftsflüchtlinge' durch die DDR in die Bundesrepublik ausgereist. Honecker war schon als erster Sekretär der SED abgelöst worden. Egon Krenz war der oberste Steuermann der DDR und der Partei. Von Wiedervereinigung und offenen Grenzen war weder die Rede noch haben wir irgendwelche Gedanken daran verschwendet. Aber allen war klar: SO kann es unmöglich weitergehen! Vor allen Dingen durch die offene Grenze in Ungarn waren Prämissen gesetzt, die mindestens hinsichtlich der Liberalisierung der Reisen aller Bürger in das NSW (Nicht Sozialistisches Ausland ... wer weiss das in 10 Jahren noch?!) Folgen haben mussten. Es war eine Situation, die lebendig und interessant war, denn jedem war klar, hier wird jetzt was passieren. Aber keiner hatte eine Vorstellung davon, wie dieser Staat und diese Partei darauf reagieren würden. Es war nur klar, dass jetzt auf Gorbatschows Reformkurs reagiert werden musste, obwohl man sich fünf Jahre standhaft geweigert hatte, 'die Tapeten zu wechseln' (Hager). Auf der anderen Seite aber war auch eindeutig, wer in diesem Staat die Macht hatte und wo der Hammer hängt. Dieses Bewusstsein war nicht direkt mit dem Gedanken an die STASI verbunden, denn dieser Staat hatte jede Menge Möglichkeiten, den einzelnen Menschen bis in die Intimsphäre hinein zu gängeln. Aus diesem Grunde waren Gedanken an die Wiedervereinigung, die Abschaffung des Sozialismus und den Fall der Mauer keine denkbaren Überlegungen. Alle, die in der DDR aufgewachsen waren und hier lebten, hatten das diktatorische System so verinnerlicht, dass höchstens der Gedanke an Reformen aufkam. Der Erwartungsdruck auf diesem Gebiet war allerdings riesengross, hervorgerufen und befördert durch Gorbatschow.

Und in dieser Situation fiel 'plötzlich und unerwartet' und ganz von allein die Mauer innerhalb einer Nacht in sich zusammen.

Wir haben an diesem Abend länger hier gearbeitet. Aber wir hatten einen Fernseher in unseren Arbeitsräumen. Die Zeit war zu spannend, um darauf zu verzichten. Um 19:30 sendete das Fernsehen der DDR Nachrichten: Die aktuelle Kamera. Diese Sendung habe ich mir in dieser Zeit immer angesehen (die ganzen Jahre davor eigentlich nie, denn es war so borniert, dass es nicht zum Aushalten war.) Jetzt musste man diese Nachrichten sehen, weil man nur so seine Informationen aus den anderen Kanälen vergleichen und verifizieren konnte.

Ausserdem war es höllisch interessant zu sehen, wie die DDR-Oberen versuchten, sich um die Fakten herum zu mogeln.

An diesem Abend gab Schabowski eine Pressekonferenz. Er berichtete über die Ergebnisse einer ZK-Tagung. Das Protokoll dieser Tagung habe ich als Kopie zu Hause (ganz geheim ...). Der Mauerfall kommt darin nicht mit einem Wort vor, obwohl die Tagung vom 9. bis zum 11. November 1989 lief !! Zum Schluss der Pressekonferenz wurde Schabowski von einem (italienischen?) Journalisten gefragt, ob es Neues zur Reiseverordnung gibt. Da zog Schabo einen Zettel aus der Tasche und las einen verklausulierten Text vor (ohne Betonung, lustlos und nuschelnd), dessen Sinn wir vor dem Fernseher alle nicht begriffen haben. Eine neue Reiseregelung sollte in Kraft treten. Wann, fragte einer und gilt das auch für Berlin? Das gilt ab sofort und auch für Berlin.

Stutzig wurde ich erst hinterher als ich sah, dass viele Journalisten im Laufschritt die Pressekonferenz verliessen. Offensichtlich wollte sie alle mit dieser Nachricht möglichst schnell zum Telefon rennen. Wir aber konnten diese Nachricht gar nicht decodieren. In meinem Tagebuch steht: 'Aktuelle Kamera: Nicht viel Neues.'

Um 20 Uhr fand eine Beratung im Kirschbergweg zur Perspektive der Designwissenschaft an der Burg statt. Gegen 22:30 war ich zu Hause und sah die Tagesthemen mit Hajo Friedrichs. Dort wurde von Menschenmassen aus Ostberlin vor den Grenzübergängen nach Westberlin berichtet. Die DDR-Bürger versuchen, auf Grund der angeblich neuen Grenzregelung, mit ihrem Personalausweis nach Westberlin zu kommen. An den Grenzübergängen Bornholmer Strasse und Invalidenstrasse soll das schon ohne jede Formalität möglich sein. Keine klaren Informationen zur Zeit.

Das kann unmöglich wahr sein! In meinem Tagebuch steht: 'Aprilscherz ?!! Ich kann es nicht glauben !!! Aber es scheint wahr zu sein !? 23:40 ins Bett mit vielen Fragezeichen.' Das alles war so unvorstellbar, dass man es nicht mal denken konnte. Aber, sagte ich mir, interessanter kann es kaum werden, mal sehen, was sich bis morgen früh bei der Nachrichtenlage getan hat. Mit den 6-Uhr Nachrichten aus dem Radio gab es dann Gewissheit: Tatsächlich, nicht zu fassen: Die Mauer ist für uns problemlos passierbar !!

Im Fernsehen sah ich dann, was in dieser Nacht in Berlin los gewesen war. Ein Ostberliner sagte: 'Wer heute nacht schläft, der ist tot !!' Tot war ich nicht, im Gegenteil. Ich stand voll unter Strom und es gab nur eines: Ich musste so schnell wie möglich nach Berlin.

Jürgen Albrecht, 09. November 1992

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