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Zehn Jahre nach der Mauer ... Seite 2/3
 

Vierzig Jahre in einem grundsätzlich anderen Gesellschaftssystem zu leben, prägt nicht nur eine Generation von Menschen. Schon wer in der DDR die Schule besucht und eine Berufsausbildung oder ein Studium abgeschlossen hat, wird diese DDR-Erfahrung bis an sein Lebensende nicht mehr los. Deshalb fällt es vielen 'Ossis' so schwer, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Das ist auch kein Problem der unterschiedlichen Länder und Regionen. Die regionalen Unterschiede kommen noch dazu und sie werden auf Dauer zum Beispiel zwischen Baden-Württemberg und Brandenburg bestehen. Der Unterschied zwischen Ossi und Wessi aber wird in etwa 50 Jahren nicht mehr existieren. Die DDR-Prägungen haben sich dann auf biologische Weise erledigt.

Heute aber kann man diese Prägung auch als Vorteil betrachten. Denn damit ist es uns Ossis gegeben, die Unterschiede zwischen diesen beiden Gesellschaftssystemen viel deutlicher wahrzunehmen, als es den Wessis je gelingen kann. Und wer ist schon in der glücklichen Lage, in seinem kurzen Leben zwei qualitativ unterschiedliche Gesellschaftssysteme hautnah kennen zu lernen?

Viele Dinge in der heutigen Bundesrepublik sind für Ossis sehr schwer zu ertragen. Nur ein paar Stichworte: Es geht nur um's Geld. Alle Mittel sind erlaubt, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Das grosse Ausmass von Lüge und Betrug in allen Bereichen des täglichen Lebens. Show und viel mehr Schein als Sein. Unsolide Bildung und Qualifikation. Die satte, oberflächliche und leistungsfeindliche Fun-Gesellschaft. Die nur unvollkommen aufgearbeitete, nationalsozialistische Vergangenheit ... Dass in dieser Hinsicht in der DDR andere Spielregeln herrschten, war das Positive an der DDR.

Ausser diesen systemimmanenten Problemen gibt es in den neuen Ländern noch viele Schwierigkeiten, die aus dem Prozess der Wiedervereinigung resultieren. Auch hier nur Stichworte: Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand. Rückgabe vor Entschädigung. Arbeitslosigkeit und besonders hohe Jugendarbeitslosigkeit. Unzureichendes Lehrstellenangebot. Schlechte Infrastruktur. Fehlendes Eigenkapital. Kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Unbelehrbare DDR-Nostalgiker ...

Warum ist die DDR untergegangen? Aus meiner Sicht ist diese Frage schon heute ziemlich klar zu beantworten. Im Gegensatz zu den oben genannten Stichpunkten gibt es dafür objektive Ursachen und nicht nur subjektive Meinungen. Um so erstaunlicher ist, dass trotzdem niemand in Ost und West mit einem so schnellen Bankrott der 'Diktatur des Proletariats' gerechnet hat:

Der Sozialismus kann nicht funktionieren, weil er von unrealistischen Voraussetzungen ausgeht: Es ist unmöglich, ein Staatswesen zentralistisch zu führen, es ist zu komplex. Zentralismus und Demokratie schliessen sich aus. Die Menschen sind nicht gleich, man kann sie nur mit Gewalt gleich machen. Unterbindet ein Staat das Streben seiner Bürger nach Gewinn, Karriere und Status, so ruiniert er damit seine Wirtschaft. Und nicht zuletzt hat sich erwiesen, dass der Dialektische Materialismus zwar eine sehr schöne und in die Realität passende Philosophie ist, sich aber nicht als 'wissenschaftliche Weltanschauung' und Staatsdoktrin missbrauchen lässt.

Aus dem Zusammenbruch des 'sozialistischen Lagers' könnte die Menschheit die Lehre ziehen, dass nun endgültig bewiesen ist, dass schon der Sozialismus eine Utopie ist. Vom Kommunismus ganz zu schweigen. Damit aber wird von den Menschen zuviel verlangt. Es wird immer wieder versucht werden, eine Alternative zur Marktwirtschaft zu entwickeln, auch wenn mit diesen Unternehmungen nur Illusionen nachgejagt und Bauernfängerei betrieben wird. Aber der Mensch glaubt viel lieber an Utopien, als dass er sich mit der Realität abfindet.

 

Im November 1992 schrieb ich auf, wie ich den Mauerfall erlebt habe. Aus diesem Text spricht noch etwas von der Euphorie, die die Deutschen damals ergriffen hatte. Davon ist heute nichts mehr übrig geblieben.

Interessant ist auch, wieviel man noch in Berlin-Mitte von der seit zehn Jahren vergangenen DDR sieht. Aber auch die Spuren des II. Weltkriegs sind noch unübersehbar. Diktaturen und Kriege wirken lange nach.

Jürgen Albrecht, 06. Juli 1999


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