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Ein offener Brief an J.K.
- Unveränderter Text -

 

 

Dr.-Ing Jürgen Albrecht
Leipziger Straße 47/16.03
O - 1080 BERLIN

 

Herrn
Prof. Jürgen Kuczynski
Parkstraße 94

O - 1120 BERLIN

 

 

Berlin, 02. März 1992

 

Betrifft:

Jürgen Kuczynski:
Große Fehler und kleine Nützlichkeiten

Elefanten Press 1991

 

 

Sehr geehrter Herr Prof. Kuczynski,

ich habe mir die Zeit genommen, Ihr neuestes Buch zu lesen. Ich wollte wissen, was J.K., von den Fesseln der Zensur befreit, nun wirklich denkt. Und ich muß sagen, Sie sind sich selbst treu geblieben. Was ich im Sozialismus zu Ihren Gunsten als Tarnung angesehen habe, der 'schärfste öffentliche Kritiker' (J.K. über sich selbst) glaubt offensichtlich das, was er schreibt.

Mich haben vor allen Dingen die Fehler interessiert, die Sie rückblickend selber erkennen. Zwei 'große Fehler' erkennen Sie bei sich. Der erste 'große Fehler' ist nach Ihrer Ansicht, daß man versäumt hat, vom Kapitalismus etwas zu lernen, auf ihn den Sozialismus aufzubauen. Nun frage ich mich, was ist das für ein 'Wissenschaftler', der ein so elementares Gesetz der Dialektik nicht beachtet (Dialektische Negation). Das 'einfache' Volk hat immer vom Kapitalismus gelernt, ja, es hat ihn als Maßstab für die Güte einer Gesellschaftsordnung genommen und wollte deshalb vom realen Sozialismus nichts mehr wissen. Aber das Volk versteht ja nichts vom täglichen Leben und von der Wissenschaft. Sie mußten dem Volk diese Welt - möglichst einfach - erklären. Sie haben - mit allen Gesellschafts'wissenschaftlern' der DDR - eine Vorstellung von Wissenschaft entwickelt, die viel mit Ideologie und Gesinnung und nichts mit den (in der Wissenschaftswissenschaft seit langem ausreichend beschriebenen) Kriterien gemein hat, die man in Kreisen seriöser Geistesarbeiter an eine Wissenschaft stellt. Sie haben Wissenschaft auf ein Werkzeug der Propaganda reduziert, und noch dazu auf ein sehr primitives.

Ihr zweiter 'große Fehler' ist für alle Menschen, außer Ihnen, völlig ohne Belang. Es geht darum, daß Sie Anfang der 30-er Jahre aus pragmatischen Gründen der Meinung waren, die Wirtschaftskrise besteht noch, obwohl sie schon am Abklingen war. Hier geht es nebenbei auch wieder um die Frage, was das für eine 'Wissenschaft' ist, die nach ideologischen Opportunitäten fragt. Aber lassen wir das. Ein anderer Aspekt ist hier viel interessanter. Der ironische Leser kann diesen zweiten Fehler augenzwinkernd nämlich auch ganz anders lesen: Als 'großen Fehler' hat J.K. endlich selber erkannt, daß er sich immer und ständig selbst überschätzt. So ist er doch tatsächlich der Ansicht, der Gang der Weltgeschichte wäre ab 1933 anders verlaufen, hätte er nur propagiert, die Weltwirtschaftskrise ist zuende. Wenn Sie den zweiten Fehler so sehen, stimme ich Ihnen tatsächlich einmal zu.

Warum lese ich ein Buch, an das ich, zugegeben, bereits vorgespannt herangehe? Es gibt einen ganz einfachen Grund. Sie sind für mich der Repräsentant der Leute, die 40 Jahre die Macht hatten zu bestimmen, was ich zu denken, zu lesen und zu tuen hatte und die allein wußten, was gut für mich ist. Auch wenn Sie nicht direkt an der Macht beteiligt waren, so waren und sind Sie ein exemplarischer Ideologe des verflossenen Systems. Mit Ihnen setze ich mich stellvertretend mit all denen auseinander, die für den real existierenden Sozialismus Verantwortung tragen.

Ich versuche, meine Vergangenheit zu bewältigen. Dabei bemühe ich mich, emotionale Regungen durch Vernunft zu unterdrücken. Haß und Zorn helfen nicht, denn durch nichts und von keinem ist meine und unsere Vergangenheit rückgängig zu machen. Das einzigste was ich will, ist zu erkennen, warum die Geschichte so und nicht anders abgelaufen ist und welche Lehren man seinen Kindern und Enkeln daraus vermitteln sollte.

Wenn ich mich unter dieser Sicht frage, was die entscheidenden Fehler waren. die Ihnen und Ihren mächtigen Freunden unterlaufen sind, dann sind von den hunderten von Fehlern drei entscheidend:

 

Am beschränkten Weltbild festgehalten

Sie hatten die Macht und den Willen, die Marx'sche Vision von einer besseren Gesellschaftsordnung in die Realität umzusetzen. Sie haben die Welt immer durch die Brille von Marx gesehen und parteilich nur das wahrgenommen, was sie sehen wollten. Sie haben nicht bemerkt, daß die heutige Welt nicht die von Marx ist und ganz andere Wertigkeiten von entscheidender Bedeutung sind. Spätestens seit den 60-er Jahren gibt es ein Bewußtsein dafür, daß globale Probleme die menschliche Existenz bedrohen. Hätten Sie - wie immer behauptet - die fortschrittlichste Gesellschaftsordnung repräsentiert, wäre diese Erkenntnis von Ihnen gekommen. Mindestens hätten Sie dieses Problem sofort aufgreifen und Lösungsvarianten entwickeln müssen. Genau das Gegenteil ist geschehen. Sie haben die globale Sicht nie gehabt, sie haben Lösungsansätze bekämpft (Club of Rome, Null-Wachstum) und erst recht keine Kontrastrategien entwickelt. Die Beschränkung auf Marx führt zwangläufig zu Ihrer eigenen Beschränktheit.

Mir ist auch völlig unverständlich, warum in Ihren Schriften die Philosophie kaum eine Rolle spielt. Ich kann mich nicht erinnern, in Ihren Büchern je den Begriff 'Dialektischer Materialismus' gefunden zu haben. Zumindestens spielt er in Ihrem Denken keine Rolle. Sicher werden Sie das vehement bestreiten. Aber: Wie kann man solche gravierenden Fehler machen und gleichzeitig behaupten, auf der Grundlage des Dialektischen Materialismus zu handeln? Ich nehme vielmehr an, Sie haben sehr zeitig bemerkt, daß man diese Philosophie nur schwer oder überhaupt nicht für ideologische Tagesprobleme instrumentalisieren kann. Wahrscheinlich haben Sie Ihren seltsamen Begriff von Wissenschaftlichkeit gerade deshalb so strapaziert. In den letzten Jahren habe ich nur noch darauf gewartet, daß diese Philosophie auf den Index gesetzt wurde, denn jeder Oberschüler konnte damit Ihre Tagespolitik aus den Angeln heben. Mindestens in den letzten 10 Jahren gab es in der DDR keine Philosophie mehr, sondern nur noch Ideologie.

Diese beiden Faktoren, Marx statt aktueller, globaler Sicht und Ideologie statt Geisteswissenschaft haben zu einem beschränkten Weltbild geführt, das früher oder später an seinen eigenen Widersprüchen scheitern mußte. Aber Ihnen sind noch weitere Fehler unterlaufen:

Sie haben Marx nicht weiterentwickelt. Wo ist die Analyse der gesellschaftlichen Realität der letzten 50 oder auch nur der letzten 20 Jahre ? Die gibt es, aber sie stammt nicht von Marxisten. Als Literatur kann ich Ihnen dazu u.a. empfehlen: Brown u.a., STATE OF THE WORLD 1992, Worldwatch Institute, 1776 Massachusetts Ave., N.W. Washington, D.C. 20036

An die Stelle gesellschaftlicher Ideale haben Sie Dogmen gesetzt, die mit der Realität nicht übereinstimmten. An sie hatte man zu 'glauben', rational waren sie nicht zu erklären: Die ehemalige Vision war zur Ideologie und zum Religionsersatz verkommen.

Sie haben von Anfang an ganz offen auf ein diktatorisches Regime gesetzt (Diktatur des Proletariats). Auf demokratische und auf intelligente, selbstregelnde Mechanismen haben Sie verzichtet. Für eine erste Übergangszeit ist das vielleicht zu tolerieren. Es ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum sich Sozialismus und Demokratie ausschließen sollen. Im Gegenteil.

Aber das sind Folgeerscheinungen ihres eingeschränkten Weltbildes. In der Summe ist die hehre Idee von einer sozial gerechten Gesellschaftsordnung durch den 'Real existierenden Sozialismus' irreparabel diskreditiert worden.

 

Ein System für nicht existierende Menschen

Eines der am meisten gebrauchten Schlagwörter in der DDR war die Floskel: Im Mittelpunkt steht der Mensch. In zweierlei Hinsicht wurde dieser Grundsatz von der Tagespolitik ins Gegenteil verkehrt:

Die Tatsache, daß ein 'Neuer Mensch' Voraussetzung für das Funktionieren des Sozialismus ist, macht ihn zur gesellschaftlichen Utopie. Offensichtlich sind Sie auch noch heute der Ansicht, daß dieser 'Neue Mensch' in absehbarer Zeit existiert. Im Vorwort zu Ihrem 'Urenkel' liefern Sie geradezu ein Paradebeispiel dafür: Sinngemäß schreiben Sie dort: 'Der Sozialismus ist als Gesellschaftssystem hervorragend, nur die Menschen passen noch nicht zu diesem System.' Sie stellen praktisch fest, die Hauptarbeit ist mit der theoretischen Konstruktion des Systems geschafft, nun brauchen wir 'nur' noch 'unsere Menschen' an das System anzupassen. Mir ist völlig unverständlich, warum Sie nicht auch den simplen Umkehrschluß in Betracht ziehen, daß mit den jetzt auf der Erde lebenden Menschen ein solches System einfach nicht funktioniert. Heute weiß man viel deutlicher als vor 20 Jahren, wie stark der Mensch genetisch determiniert ist. Aber auch ohne dieses Wissen kommt man doch bei einer objektiven Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche zu dem Ergebnis: Das System muß an den Menschen angepaßt werden und nicht umgekehrt. Für jeden Techniker ist das ein selbstverständlicher Grundsatz.

Zu dem fundamentalen Irrtum, ein System für nicht existierende Menschen aufzubauen, kommt noch ein zweiter. Sie haben die Bedürfnissen der Menschen sträflich vernachlässigt und wieder das Gegenteil behauptet. Individuellen Fähigkeiten, Intelligenz, Kreativität und Unternehmungsgeist sind gravierende Persönlichkeitsmerkmale, die menschliches Verhalten und Handeln bestimmen. Was passiert, wenn man diese individuellen Triebkräfte lahm legt? Das führt zu einer fatalen Reaktionsspirale: Der Wirtschaft sind die entscheidenden Antriebskräfte genommen, eine solche Wirtschaft kann mit dem kapitalistischen System nicht im Ansatz konkurrieren, das Besitzstreben der Menschen kann nicht befriedigt werden, die Menschen sind zweifach frustriert: Sie können weder Ihre persönlichen Fähigkeiten zum Einsatz bringen noch werden ihre Konsumwünsche befriedigt. Beides schlägt sich in der Arbeitsmoral nieder, womit wir wieder am Anfang der Kette wären. Das alles wußte jeder in der DDR seit Jahrzehnten. Sie müssen es auch gewußt haben. Warum haben Sie daraus keine Konsequenzen für die Tagespolitik gezogen? Hier hätten sie sogar bei einem Klassiker das richtige Rezept gefunden! Sinngemäß hatte schon Lenin erkannt, daß letztlich die wirtschaftliche Effektivität über den Wert eines Gesellschaftssystems entscheidet. Ganz einfach deshalb, weil die Menschen nicht danach fragen, wie das System heißt, sondern nur danach, welche Vorteile es ihnen ganz persönlich und heute verschafft. Welche Vorteile es ihnen möglicherweise in Aussicht stellt. ist fast ohne Belang. Es zählt nur die Realität.

 

Wahrheit und Realität geschönt

Da Sie sich entschlossen hatten, die zwei soeben beschriebenen Fehler zu begehen, ist der dritte Fehler nur eine logische Konsequenz. Mit Palmström postulierten Sie 'messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.' Es gibt genug geradezu klassische Exempel dafür, wie Sie die Wahrheit der Parteilichkeit geopfert und wie Sie gegen jede Vernunft und Realität gehandelt haben. Ich spare mir deshalb die Beispiele. Es bedarf keiner weiteren Beweise.

Mich interessiert die Umkehr dieses Problems. Wenn Sie bei der Wahrheit und beim Dialektischen Materialismus geblieben wären (Die objektive Realität ist das Kriterium der Wahrheit), dann wären Ihnen die beiden o.g. Fehler und uns die sozialistischen Experimente, mindestens in diesem Ausmaß, erspart geblieben.

Was ist der Grund für die konsequente Verleugnung der Realität? Sie zählen sich noch heute zu den 'Siegern der Geschichte', obwohl offensichtlich ist, daß man dieses System nur durch Kasernierung der angeblich herrschenden Klasse stabilisieren konnte, wirtschaftlich auch nicht annähernd konkurrenzfähig war und keine Fähigkeiten zum systemübergreifenden, globalen Denken entwickelt hat. Wie können Sie auf der einen Seite jedem Oberschüler eintrichtern, daß Widersprüche die Triebkräfte jeder Entwicklung sind, gleichzeitig aber alle aktuell erkennbaren Widersprüche als nicht vorhanden einstufen?

Ich kann mir dieses Verhalten nur dadurch erklären, daß die staatstragenden Männer und Frauen - zu denen Sie sich eindeutig zählen lassen müssen - ganz einfach intellektuell nicht in der Lage waren, dieses System zu steuern. Inkompetenz, Selbstüberschätzung und Ignoranz haben sie die Chance verspielen lassen, etwas Neues in der Geschichte der Zivilisation zu entwickeln. Verantwortung für ein ganzes Gesellschaftssystem zu tragen, verlangt professionelle Arbeit unter Einbeziehung aller verfügbaren wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten. Der absolute Realitätsbezug ist dabei selbstverständliche Voraussetzung. Kein Fachmann wird darüber auch nur ein Wort verlieren.

Damit ist eine erschreckende Erkenntnis verbunden: Der Umfang, in dem die Wahrheit gefälscht und die Realität verdrängt wurde, ist offensichtlich ein direktes Maß dafür, wie unprofessionell dieses Gesellschaftssystem und gleichzeitig auch der Staat DDR geführt wurde. Mit dem heutigen Wissen muß man davon ausgehen, daß Laienspieler am Werk waren.

 

 

Leider kann ich es nicht anders sagen, aber Ihr persönlicher Beitrag zu diesem Thema - nachlesbar in jeder Bibliothek - untermauert diese These exemplarisch. Sie sind unbeirrbar stolz darauf, einer der führenden marxistischen Wissenschaftler dieser Welt zu sein. Daß Ihnen ein ganz normaler Ingenieur sagen muß, was Ihnen für Fehler in Ihrem 'wissenschaftlichen' Werk unterlaufen sind, weil Sie es selbst nicht erkennen, das finde ich entsetzlich. Es ist nur dadurch zu erklären, daß Ihnen jeder Bezug zur Realität verloren gegangen ist, daß Sie einen solchen Bezug wahrscheinlich niemals hatten.

Aber ich möchte noch einmal betonen, ich meine nicht in ersten Linie J.K., wenn ich 'Sie' sage. Eigentlich ist das ein offener Brief an alle Ihre 'Brüder im Geiste'. Sie hatten die Macht und haben sich die Freiheit genommen, in einem Versuchsfeld, ausgestattet mit einer schönen hohen Mauer, mit uns gesellschaftliche Experimente zu veranstalten, um sich ihre Wunschträume zu erfüllen. Auch das muß man vielleicht noch als immanent menschliches Verhalten akzeptieren. Aber absolut unverzeihlich ist, wie borniert und dilettantisch sie und Sie das angestellt haben.

Und was ist die Lehre für die nächste Imagination? Ganz einfach: Man darf diese Fehler nicht noch einmal machen. Aber ich bin sicher, auch wenn das gelingt, dann wird man andere gravierende Irrtümer begehen. Und das ist gesetzmäßig, denn die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist nicht aufzuheben.

Ich würde mich sehr gerne einmal mit Ihnen zu diesen Problemen auseinandersetzen. Es ist sehr schade, daß Sie meinen Brief vom 21.09.1989 nicht beantwortet haben. Ich habe die Situation damals ähnlich, aber viel zu emotional gesehen. Es gehörte aber im Gegensatz zu heute Mut dazu, das auch aufzuschreiben. Sie haben das damals sicher als unverschämte Kritik eines inkompetenten Technikers angesehen und sehen das vielleicht heute auch noch so. Das ist Ihr gutes Recht. Ich dagegen bin davon überzeugt, daß einer der höchsten Werte des jetzigen Systems der Pluralismus ist. Damit habe ich auch das Recht, anderer Meinung als Sie zu sein. Aber das beste dabei ist, es gibt nur einen Schiedsrichter in dieser Sache:

Die Paßfähigkeit gegenüber der objektiven Realität.

 

 

Mit freundlichen Grüßen
und den besten Wünschen für Ihre Gesundheit
gez. J. Albrecht

 

 

Anlagen: Kopie meines Briefes vom 21.09.1989

 

 

Reaktion von J.K:

 

 

 

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