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Wo sind die Intellektuellen? 2/4

Wirklich lesenswert sind die Rückgriffe des Autors auf das sozialistische Ungarn und seine Bemerkungen über die Einstellungen der Menschen zu diesem System. Der Autor kokettiert heftig mit seinem Status als Dissident Nr. 666, als Mitglied der 'Nachwende-' Regierung und damit, dass er schon immer wusste, was gut und richtig war. Leider hat ihm das damals keiner geglaubt, jetzt ist es nicht viel anders und ausserdem zu spät. Trotzdem ist seine Sicht gerade auf die letzten zwanzig Jahre hoch interessant und deshalb ist dieser Reiseführer auch ein erstaunlich politisches Buch.

Geradezu faszinierend ist, wie in diesem Reiseführer mit dem Begriff 'Intellektueller' umgegangen wird. Mindestens einmal kommt auf jeder der 262 Seiten der Intellektuelle in verschiedenen Abwandlungen vor. Ständig ist von Intellektuellen die Rede, ihren Vorlieben, ihren bevorzugten Lokalen, Bädern und Zeitungen, ihren Zirkeln und Cafés. Auf Seite 246 tritt sogar ein 'Erzintellektueller' auf! Das muss einen Grund haben und es hat auch einen: In Budapest gab und gibt es tatsächlich eine besondere Spezies: Die Intellektuellen !!

Intellektuelle sind Menschen, die selbstlos und heftig ihren Verstand gebrauchen. Sie benutzen ihn in erster Linie, um über die schlechten Zeiten zu räsonieren und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man sie mit Vernunft ändern könnte, müsste und sollte. Intellektuelle machen Zeitungen, schreiben Bücher, spielen Theater, drehen Filme, malen Bilder, komponieren Musik, sie sind Dissidenten, sind dagegen und sie sind immer die schlauen Menschen, die wissen, wo es eigentlich lang gehen müsste. Nur eines sind Intellektuelle nicht: Revolutionäre. Für eine richtige Revolution fehlen ihnen der Mut und die überschäumenden Emotionen. Deshalb auch erschrecken sie fürchterlich, wenn sie sich plötzlich an der Macht sehen. Intellektuelle sind Theoretiker, Macher sind sie nicht.

Aber Intellektuelle sind für die Gesellschaft ausserordentlich wichtig. Sie sind Sensoren, sie haben das Ohr an der Masse, sie sind die Negation der Negation. Nur sie haben die Antennen, mit denen die Signale aus der Zukunft abzuhören sind. Ich kenne einige wenige der Budapester Intellektuellen, werde mich aber hüten, hier ihre Namen preis zu geben. Einer von ihnen hat 1987 mit mir gewettet, dass wir spätestens in fünf Jahren gemeinsam durch das Brandenburger Tor spazieren werden. Ich habe ihn ausgelacht, denn für mich war das genau so unwahrscheinlich, wie ein grosser Meteoriteneinschlag am Brandenburger Tor. Aber der Mann hatte Recht! Vielleicht ahnte er auch damals schon, dass die Ungarn am 19. August 1989 mit einem grossen Seitenschneider den 'Eisernen Vorhang' aufschneiden werden, was den Mauerfall in Berlin entscheidend beschleunigt hat. Jedenfalls werde ich das den Ungarn nie vergessen: DANKE !! Nichts beweist besser, über welche erstaunlichen Fähigkeiten Budapester Intellektuelle verfügen.

Und den Intellektuellen begegnet man auch heute in Budapest auf Schritt und Tritt: Sie stehen mit dem Buch in der Hand auf den Rolltreppen der Metro, sie spielen Schach und liegen gleichzeitig im warmen Wasser des Szechenyi Bades, sie lesen Zeitung im Kávéház, abwesend und durchgeistigt, sie sitzen mit einem Buch in der noch schwachen Frühlingssonne an der Moldau, ihre markanten, ergrauten Köpfe sieht man im Parkett der Zeneakademia sitzen und sogar einige der vielen Budapester Obdachlosen sprechen ein vorzügliches English. Das Buch von András Török ist wahrscheinlich kein Einzelfall. Zum Beispiel wird man auch durch die Texte in der Metro Linie 1 von Intellektuellen angesprochen. In Berlin sieht so ein Text völlig anders aus.

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