Leichen
als Spektakel und Geschäft 1/2
Endlich scheint die Sonne! Durch das frühlingshafte Berlin fahre ich mit dem Fahrrad zum Ostbahnhof. Dort will ich mir vor meinem Abflug nach Canada im Postbahnhof noch die Ausstellung 'Körperwelten' ansehen. Aber daraus wird nichts: 45 Minuten Wartezeit, Menschenmassen und das Jahrmarktstreiben schrecken mich ab. Ich kaufe mir den Ausstellungskatalog und werde nach seiner Durchsicht entscheiden, ob ich heute abend noch einmal hier her fahre. Die Ausstellung ist von 9 bis 23 Uhr geöffnet, am Abend ist es nicht so voll, erklärt mir einer der vielen Helfer. Bei einer Tasse Kaffee und Klezmer Musik aus Budapest, blättere ich den reich bebilderten Ausstellungskatalog durch. In der Ausstellung werden anatomische Modelle gezeigt. Durch ein patentiertes Verfahren können die Körperflüssigkeiten durch Kunststoffe ersetzt werden. Dadurch entstehen 'Plastinate', pflegeleichte und dauerhafte anatomische Modelle des menschlichen Körpers. Der begnadete Präparator Gunter von Hagen, Erfinder des Verfahrens, hat diese Technik bis zur absoluten Grenze des Machbaren ausgereizt. Alles, was man mit dem menschlichen Körper als Objekt anstellen kann, wurde gemacht: Einzelpräparate, Ganzkörperpräparate, Längs- und Querschnitte, Muskeln, Skelett, Nervensystem, Krankheiten, Missbildungen und Implantate ... |
Es gibt nichts, was es hier nicht gibt. Sogar die Reaktionen auf die Ausstellung wurden schon wissenschaftlich und statistisch untersucht, denn sie ist schon in Tokyo, Wien und Köln vor Berlin gelaufen. Die Faszination der Ausstellung entsteht zu allererst durch die ganz natürliche Neugier auf den eigenen Körper. Auf der anderen Seite stellt diese Schau aber einen ziemlich heftigen Tabubruch dar. Das Sterben, der Tod und der leblose Körper eines Menschen sind ungewöhnlich und mit vielen Moralvorstellungen verknüpft. Vieles davon war früher durch die christlichen Kirchen mit Tabus belegt. Auch heute gibt es zahlreiche Tabus auf diesem Gebiet, aber sie haben sich stark verändert. Das Alter, Krankheiten, das Sterben und der Tod werden in der heutigen Gesellschaft so lange es geht verdrängt. Der Tod existiert im öffentlichen Leben und der gegenwärtigen Kultur praktisch nicht. Dafür gibt es viele Gründe: Jugend und Schönheit ist 'IN' und nicht das Alter. Die Familie löst sich auf und die allein gelassenen Alten sorgen mindestens für ein schlechtes Gewissen bei den Jungen. Alle Probleme scheinen heute lösbar, die Existenz der vielen ungelösten und unlösbaren Probleme wird verdrängt. Vor allen Dingen aber sind mit den Alten, den Krankheiten und dem Tod nur anrüchige (aber gute) Geschäfte zu machen. Vom Bruch dieser vielen Tabus und der menschlichen Neugier lebt diese Ausstellung. |
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