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Real Utopia in der Salzwüste von Utah 3/5

Der Mormon Tabernacle Choir
Beim Frühstück am nächsten Morgen habe ich keine Ruhe: Ich will das Sonntagskonzert im Tabernacle nicht verpassen. Kurz vor 8:30 Uhr sind die Türen für alle Besucher offen. Ich steige auf die Empore und setze ich mich vorne auf der rechten Seite auf eine Bank. Ein wunderbarer Platz, um eine Stunde lang die Proben des Chors zu beobachten.

Der Mormon Tabernacle Choir wurde 1869 gegründet und hat heute 325 Mitglieder, zur Hälfte Männer und Frauen. Allerdings stehen nur ungefähr 120 davon aktiv auf der Bühne. Zwei Dirigenten, zwei Organisten und ein kleines Orchester gehören zu diesem Chor. Die Orgel ist riesig (11.623 Pfeifen) und nach europäischen Massen und Qualitätsmassstäben von 1863 bis 1867 gebaut. Ein wunderbares Instrument in einem einfachen Raum: Der Grundriss des Tabernacle besitzt die Form einer Ellipse. Der ganze Raum ist von einer glatten Kuppel bedeckt, deren Querschnitte in den Spiegelachsen auch wieder Ellipsen darstellen. Von aussen sieht das Ganze unauffällig und wie ein flaches Ei aus, quer in einem Eierbecher. Die Akustik ist hervorragend. Bei Vorführungen wird demonstriert, dass man eine fallende Nadel im ganzen Raum hören kann! Die Bänke aus Pinienholz sind hart. Ich schätze, dass bis zu 2000 Menschen in diesem Auditorium Platz finden.

Gleichzeitig mit dem Chor probt auch das Fernsehteam. Die wöchentliche Sendung 'Music and the Spoken Word' ist in den USA bekannt und eingeführt. Alle Konzerte, die hier stattfinden sind kostenlos. Offenbar nimmt man mit diesem Chor genug Geld durch Rundfunk-, Fernsehsendungen und über andere Medien ein. Heute findet die 3.760 Sendung statt und im Faltblatt steht: 'Longest Continuing Network Broadcast in the World'. Wenn mein Kalenderprogramm richtig gerechnet hat, dann wurde die erste dieser Sendungen am 18. August 1929 ausgestrahlt. Das Radio war schon erfunden, aber nicht eingeführt. Das geschah erst mit der 'Goebbelsschnauze' (dem 'Volksempfänger') nach 1933.

Dann ist es kurz vor 9:30 Uhr und bevor die Life Sendung beginnt, wechsle ich den Sitzplatz. Ich setze mich soweit oben und hinten hin, wie es möglich ist. Von dort aus hat man die Orgel, den Chor und vor allen Dingen auch den mit Menschen gefüllten Raum als Ganzes im Auge und kann sich am besten auf die Musik und die Stimmen dieses Chores konzentrieren. Es ist Kirchenmusik, die sich an europäischen Vorbildern aus dem 18. Jahrhundert orientiert. Allerdings werden hier neue Lieder gesungen, die mit Texten ausgestattet sind, die das Verständnis der Mormonen vom Evangelium widerspiegeln. Mit Sicherheit hat der Chor auch ein klassisches Repertoire, denn er geht weltweit auf Reisen. Heute aber ist die Sendung dem 100. Geburtstag von Alexander Schreiner gewidmet. Er war über 50 Jahre lang Organist hier im Tabernacle. Das Konzert ist sehr beeindruckend. Es ist ein starker Ausdruck des Lebensgefühls der Mormonen. Musik, Blumen, Ästhetik und Kunst gehören offensichtlich existentiell zu ihrem Verständnis von einem Leben, das nach ihren Massstäben erstrebens- und lebenswert ist.

 

Sister Sarah
Nach dem Konzert stehen 25 Sisters in einer Reihe vor dem Tabernacle. Alle haben ein Schild in der Hand das ausweist, aus welchem Land sie kommen. Jede begrüsst die Besucher in ihrer Landessprache und lädt sie zu einer Führung in ihrer Muttersprache ein. Viel Beifall, als sie der Reihe nach Ihre Einladung ausgesprochen haben. Dann halten alle das Schild hoch und warten auf ihre Gäste.

Ich warte auch, denn ich will sehen, wie gross die deutsche Gemeinde ist, die sich an diesem Sonntag hier zusammenfindet. Nicht einer kommt, sodass ich dann die armen Sister mit den Worten erlöse: 'Sie sind ja so völlig alleine gelassen, an diesem schönen Morgen!' Wir kommen schnell ins Gespräch, aber mehr als ich gestern schon gesehen haben, kann mir Sister Sarah auch nicht zeigen. Ich frage sie nach den Mormonen in Deutschland. Es gibt ungefähr 40.000 Anhänger in Germany. Sie sind gut organisiert und auch in jedem Stadtbezirk von (West-) Berlin vertreten. Es gibt bei den Mormonen keine Nonnen oder Mönche. Sarah kommt aus Berlin und ist einer Einladung aus Salt Lake City gefolgt. Sie ist hier nur Sister auf Zeit, ihre 18 Monate in den USA sind bald um. In Berlin sind wir fast Nachbarn, Sarah wohnt in der Französischen Strasse!

Ich frage sie nach dem 'Buch Mormon', weil mich der Unterschied zur Bibel interessiert. Das Buch kann man weder kaufen noch hier anders erhalten. Das Buch wird mir in deutscher Sprache zugeschickt. Als ich Sarah noch einmal meine Adresse gebe weise ich darauf hin, dass ich zwar sehr von dem beeindruckt bin, was ich hier gesehen habe, aber mich wird man nur sehr schwer missionieren können. Für mich ist die Story von Jesus ist zu schön und zu einfach, um wahr zu sein. Das zu diskutieren, haben wir jetzt keine Zeit. Sarah will sich im November bei mir erkundigen, ob das Buch angekommen ist. Das ist eine gute Idee und bei dieser Gelegenheit lade ich sie ein, bei mir in der Leipziger Strasse eine Tasse Kaffee zu trinken. Mit dieser Vereinbarung verabschieden wir uns, mal sehen, ob sich Sarah meldet. Ein Gespräch mit Ihr und ihren Freunden könnte sehr interessant werden. Allerdings wird es dabei keinen Kaffee geben, denn inzwischen weiss ich, dass Mormonen weder Alkohol, Kaffee noch Tee trinken.

Protest gegen die LDS
Jetzt will ich mir das West Visitor Center ansehen. Dort soll ein grosses Taufbecken stehen, dass ich als Modell schon im Museum gesehen haben. Aber wegen Bauarbeiten ist dieses Visitor Center geschlossen. Direkt vor dem Zaun zum Temple Square und gegenüber der Mall stehen zwei Protestierer mit Plakaten. Der eine hat Angst, dass die Russen kommen. Diese Nachricht hat er aus der Bibel. Er ist aber auch gegen die Aufrüstung des Weltraums durch die USA und ausserdem auch gegen die Abtreibung. Der andere setzt sich in einem vierseitigen Papier kritisch mit den 'falschen Sehern' der LDS und ihren religiösen Überzeugungen auseinander. Auf einem Schild beschweren sich beide darüber, dass man das korrupte IOC mit den Olympischen Winterspielen nach Salt Lake City gelockt hat. Lieber sollte man sich doch dafür engagieren, dass die Polygamie wieder eingeführt wird! Ich rede mit beiden und lasse mir ihre Protestpapiere geben. Wir sind hier in einem freien Land, wo jeder seine Meinung äussern kann.

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