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Das andere Amerika
Szenen aus dem Bible Belt - Von Thomas Noga

Eine Sendung des Deutschlandfunk am 22.12.2003
>> ungekürzte, nicht kommentierte Kopie des Manuskripts <<

ZUM ORIGINAL

 


Mehr als ihr halbes Leben verbringen die Dyals nun schon in dem hellblauen Haus, knapp vier Kilometer außerhalb von Section. Sie zogen zwei Kinder auf, die ihnen fünf Enkel geschenkt haben. Und sie haben hart geschuftet. Dorothy als Verkäuferin, wann immer es Arbeit gab. JL als Packer, Lastwagenfahrer, auf dem Bau und zuletzt als Schweißer. Bis eine Walze seinen rechten Fuß zerquetschte und sein Chef ihn entließ, weil die Genesung ein halbes Jahr dauerte.

Der drahtige Schnauzbart mit indianischen Vorfahren erzählt diese Geschichte, als spräche er über jemand anderen. In den 52 Jahren seines Lebens hat er zu viele Tiefschläge einstecken müssen, um sich von solchen Dingen aus der Fassung bringen zu lassen. Nur eines macht ihn immer noch wütend: Wenn jemand das Wort Gottes falsch wiedergibt oder missinterpretiert.

Ich bin der erste, der sagt: Stop Bruder, lies das noch mal nach. So war ich schon immer. Auch in der Kirche. Wenn der Pastor die Bibel falsch zitiert hat, bin ich aufgestanden und habe ihn zurechtgewiesen. Denn eines glaube ich von ganzem Herzen: Die Bibel sagt, was sie sagt, und meint, was sie meint. Von der ersten Silbe des Buchs Genesis bis zur letzten der Offenbarung des Johannes. Jedes Wort stammt von Gott, und so müssen wir es nehmen: als absolute Wahrheit.

Oft hat JL die Konfession gewechselt, wenn der Pastor seinen Einwänden nicht folgen wollte: Er war Baptist und Adventist. Später gehörte er der Church Of Christ und der Holiness Church an, Gruppierungen der Pfingstbewegung, für die sich das Empfangen des Heiligen Geistes in übernatürlichen Erfahrungen wie Gesundbeten und Zungenrede äußert. Immer wieder hat JL im Garten seines Hauses selbst Gottesdienste abgehalten. So genannte "Revivals", Kirchenfeste, bei denen die Gläubigen durch ein gemeinsames spirituelles Erlebnis Gott neu erfahren sollen. Und "Brush Arbors", Messen, wie die ersten Siedler im Süden sie abhielten, bevor die Kirchen ihnen folgten.

Dazu hat JL aus Gestrüpp und einer Spindel ein primitives Kreuz gebastelt, es in seinem Garten aufgebaut und alle Bekannten eingeladen. Laut ging's her, oft bis in die frühen Morgenstunden. Manchmal drohten Polizisten mit Anzeigen wegen nächtlicher Ruhestörung. Doch davon hat JL sich nie beirren lassen.

Die wahre Kirche lebt in meinem Herzen. Mein Körper ist ein Tempel für den Herrn. Ihn zu preisen - darum geht es.

Dorothy ergänzt:

Jeden Tag lebe ich für Gott. Sonst könnte ich den Heiligen Geist nicht empfangen. Wie die Bibel sagt: Wir leben in dieser Welt, aber wir gehören nicht zu ihr. Wenn Gott uns nämlich den Heiligen Geist gibt, macht er uns zu einem Teil seiner selbst. Und es gibt nichts Schöneres, als den Heiligen Geist zu empfangen. Absolut nichts.

Die Dyals sind Südstaatler durch und durch, und wo sie leben, schlägt das Herzen des Südens. Dies ist "Alabama, the heart of Dixie". Genauer: Sand Mountain, ein windgepeitschtes Hochplateau zwischen Tennessee River und Big Wills Valley, auf dem Orte nicht viel mehr sind als Straßenkreuzungen: Tankstelle, Imbiss, Supermarkt - schon ist man durch. 10.000 Menschen leben hier. Am Sand Mountain ist der wirtschaftliche Aufschwung, an dem sich Amerika zehn Jahre lang erfreute, scheinbar spurlos vorübergegangen. Offiziell beträgt die Arbeitslosenquote in Rainsville, dem regionalen Zentrum, lediglich vier Prozent. Doch das Einkommen jedes fünften Haushalts liegt unterhalb der Armutsgrenze. Der Großteil der Beschäftigten ist ungelernt und verdient kaum mehr als den Mindestlohn von 5 Dollar 15 pro Stunde. Nur eines gibt es hier im Überfluss: Kirchen. 96 listet das Wochenblatt "Weekly Post" für Rainsville und Umgebung auf - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wie groß die Anzahl der Schuppen irgendwo in den Wäldern ist, in denen selbsternannte Prediger zur Messe rufen, weiß ohnehin niemand. Die Highways sind gesäumt von haushohen Reklametafeln mit religiösen Botschaften: Bereue! Kehre um! Jesus rettet Dich! Autohändler weisen in Zeitungsanzeigen darauf hin, dass ihre Verkäufer aufrechte Christen sind, Hausbesitzer stellen sich Schilder mit den Zehn Geboten in den Garten. Auf dem Sand Mountain in Alabama lässt sich das andere Amerika in Reinkultur besichtigen. Jenes Amerika, das seine Existenz nicht zupackendem Fortschrittsglauben verdankt, sondern religiösem Sektierertum und messianischem Eifer. Jenes Amerika, das George W. Bush in seinem Wahlkampf umwarb.

Sonntags von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags geben sich bei WVSM, einem der zahlreichen christlichen Radiosender auf Sand Mountain, Kirchenmänner die Klinke in die Hand. Gerade hat Hugh Edmundson, ein selbsternannter Prediger, seinen halbstündigen Monolog beendet. Nun ist die Highpoint Church of God auf Sendung: Anrufer "bestellen" Gebete für Menschen, die ihnen nahe stehen. Später preisen Tina und Richard Hodges den Herrn. Bis vor wenigen Wochen waren sie Baptisten, nun haben sie ihre eigene Kirche gegründet, eine konfessionslose. "Das ist die Zukunft", meint Tina.

Es folgt Charles Bells, der Vorsitzende des Kreisrates. Bells sieht aus als käme er direkt vom Ball der Ölbarone. Er trägt ein graues Business-Hemd zum hellblauen Maßanzug und auf dem Kopf einen riesigen Stetson. Doch sobald er das abstellkammergroße Studio betritt, in dessen Mitte ein Mahagonipult mit der Aufschrift "Jesus Saves" steht, geht eine seltsame Verwandlung mit ihm vor.

Charles Bells predigt vom Teufel, und der Teufel lauert überall. Er ist im Spiel, wenn wir ohne Grund den Kirchenbesuch versäumen und wenn wir Autoritäten anzweifeln, wenn wir fluchen und ehebrechen. Und überhaupt: Es gibt keine Alternative zu Gott.

Draußen im Vorraum ist es derweil voll geworden. Carl Moody und James Hatfield bereiten sich auf ihre Show vor. Bruder Carl schleppt eine akustische Gitarre herein, Bruder James eine Fender-Stratocaster, Baujahr 1962, und einen kleinen Röhrenverstärker.

Ich bin hier, um den Herrn zu preisen. Und ich habe nichts geplant. Der Heilige Geist wird mich leiten, wie er mich auch durchs Leben führt. Er sagte mit anderen Worten: Macht Musik auf Euren Instrumenten! Preist Ihn mit lauter Stimme! Preist Ihn mit reinem Herzen! Auch David hatte Musiker. Und in der Bibel heißt es: Preist ihn auf Euren Harfen! Preist ihn mit Euren Instrumenten!

Früher war Hatfield ein echter Rabauke und Trunkenbold. Kaum eine Prügelei ließ er aus, und manch einer auf Sand Mountain hat einen weiten Bogen um ihn gemacht, wenn er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Heute ist der mächtige, rotgesichtige Mann ständig im Dienst. Wo er geht und steht, preist er den Herrn: bei WVSM, in seiner Kirche am Old Straight Creek liest, im Gespräch. Seit er Gott gefunden hat, scheint er kaum noch fähig zu normaler Kommunikation.

James Hatfield ist kein wohlhabender Mann. Seit einem Arbeitsunfall vor fünfzehn Jahren schlägt er sich mit einer bescheidenen Rente durch. Mit Joyce, seiner Frau, wohnt er in einem heruntergekommenen Wohnwagen. Wenn der klapprige Chevy mal wieder nicht anspringt, bleibt er gleich am Old Straight Creek. Ist ja alles vorhanden in seiner Kirche: Doppelsofa, Kühlschrank, Wasserkocher. Auch Bruder Carl hat's nicht eben leicht gehabt. Er hat geschuftet für zwei, und das sieht man ihm an. Nun graben die Sorgen um seine Frau Maxine noch ein paar Furchen mehr in sein Gesicht. Maxine hat kürzlich einen Schlaganfall erlitten. Doch den Kirchgang lassen sich die Moodys nicht nehmen. Und wenn Bruder James bei WVSM sendet, ist Bruder Carl immer dabei. Komme, was wolle.

Die Kirche am Old Straight Creek umgibt eine gespenstische Atmosphäre. Die Häuser darum herum sind verlassen, und auch der Schrottplatz nebenan hat schon lange keinen Besucher mehr gesehen. Zufällig kommt hier niemand vorbei. Auch absichtlich kaum: Nur Maxine und Carl Moody sind zum Gottesdienst erschienen. Für James Hatfield kein Problem: "Besser eine Handvoll Christen als eine Horde Teufel."

Hatfield preist Gott im Stil des Südens: eindringlich, bildhaft, besessen. So wie die Missionare der großen Kirchen einst die Siedler zu ekstatischen Gemeinschaftserlebnissen trieben - und damit bekehrten. War Gott nicht immer gut zu ihm? Hat er ihn nicht sicher durchs Leben geleitet? "Es braucht drei Männer wie mich, um Ihn so zu lobpreisen, wie Er es verdient." Dann erzählt Hatfield von dem Wunder, das er mit Gottes Hilfe an seiner Schwägerin vollbracht hat. Sie wurde von einer Klapperschlange gebissen. Medizinische Behandlung lehnte sie ab. Also bat Hatfield Gott um Beistand, legte seine Hand auf die Wunde - und der Zeh fiel ab. Noch heute bewahrt sie ihn in einem Krug auf: als Beweis für Gottes Güte.

Dann singt Schwester Joyce das Lied vom "Lost Highway". Wie sie hungrig und durstig über die Straße der Verlorenen irrte. Bis sie zu einem Lebensmittelgeschäft kam. Irgendetwas zog sie hinein. Sie füllte ihren Korb, und als sie zahlen wollte, lehnte der Inhaber ab: "Jesus hat Ihre Rechnung schon vor langer, langer Zeit beglichen." Bruder James und Burder Carl summen im Hintergrund die Melodie - ein Moment voller Magie und Spiritualität.

Auch Michael Tucker hat lange im Radio gepredigt. Bei einem Sender in Chattanooga oben in Tennessee, knapp 100 Kilometer vom Sand Mountain entfernt. Die Sache hat er nicht etwa aufgegeben, weil ihm die Fahrerei lästig geworden wäre. Im Gegenteil: Um das Wort Gottes zu verkünden und Sünder zur Umkehr zu bewegen, ist ihm kein Weg zu weit. Es war vielmehr eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Von einem Tag auf den anderen wollte ihm der Sender 75 statt 30 Dollar für das Privileg abknöpfen, eine halbe Stunde live zu predigen. Tucker ist Staplerfahrer bei einem Sockenhersteller in Fort Payne, am Rande des Sand Mountain, seine Frau Loreen Näherin in derselben Firma. Fort Payne nennt sich stolz "sock capital of the world", weil hier ein Viertel aller in den USA verkaufter Strümpfe hergestellt werden. Auch nach der Schicht tragen die Tuckers Arbeitskleidung: Michael eine blaue Latzhose und Loreen, ungeschminkt und unfrisiert, ein knöchellanges Jeanskleid. Sie gehören der New Apostolic Church an, einer Gemeinde der Pfingstbewegung. Und für Pfingstkirchler gelten Kleidung und Aufmachung als Tand. Was Ende des Monats an Geld übrig bleibt, stellen die Tuckers ihrer Gemeinde zur Verfügung. Das ist nicht wenig. Sie bescheiden sich, wo sie nur können, leben in einem Wohnwagen, fahren nur ein Auto, gehen nie aus. "Aber es ist nur ein geringes Entgelt für das, was Gott für uns getan hat", sagt Michael.

Die Tuckers haben viel Pech im Leben gehabt. Loreen wurde als
junges Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt, ihr erster Mann betrog sie mit der Nachbarin und ihr Sohn aus dieser Ehe sitzt im Gefängnis. Michael rebellierte, so sieht er das heute, in jungen Jahren gegen Gott. Er soff, warf alle möglichen Drogen ein und führte ständig eine Motorradkette mit sich, für den Fall, dass sich die Gelegenheit für eine Schlägerei auftat. Bis zu jenem Abend vor zwölf Jahren.

Wir saßen mal wieder zusammen und verhackstückten unsere Probleme. Plötzlich sprach Gott durch Loreen zu mir. Er sagte: "Ich habe eine Aufgabe für Dich, aber Du hast nicht viel Zeit." Wäre ich damals nicht umgekehrt, hätte Er Seine schützende Hand von mir genommen. Dass ich heute noch lebe, verdanke ich seiner Gnade. Nur seiner Gnade. ... Was hat Du gesagt, fragte ich Loreen. Sie verstand nicht, was ich meinte. Da wusste ich: Es war Gott. Und ich beschloss zu Ihm zurückzukehren. Ich ging ins Schlafzimmer, fiel auf die Knie und betete - und Gott ließ mich den Heiligen Geist empfangen. Ich sprach in fremden Zungen. Ich weinte wie ein kleines Kind. Und ich fühlte mich so rein und sauber wie lange nicht mehr.

An diesem Tag änderte sich das Leben der Tuckers von Grund auf. Bald wurde auch Loreen wiedergeboren und lernte mit ihren Wunden zu leben. Die libertären Ideen ihrer Generation, die auch ihre eigenen waren - Pluralismus, Emanzipation, sexuelle Freizügigkeit - entsorgten sie auf der Müllhalde der Geschichte.

Mein Denken ist konservativ, ja biblisch: Ich bin gegen Abtreibung. Die Schrift gibt uns nicht das Recht, ungeborenes Leben zu nehmen. Das Kind hat nicht darum gebeten, gezeugt zu werden. Zwei erwachsene Menschen waren dafür verantwortlich. Natürlich müssen wir uns Gedanken machen, wie wir mit Inzucht oder Vergewaltigung umgehen. Aber es muss andere Lösungen geben als Abtreibung. Und ich habe ein Problem mit Homosexualität, nicht mit Homosexuellen, weil laut Bibel auch Gott ein Problem mit Homosexualität hat.

42 Prozent der Amerikaner denken wie Michael Tucker. Für sie ist die Bibel unmittelbare Handlungsanweisung, der Teufel Realität und die finale Schlacht zwischen Gott und dem Antichristen am Tag des Jüngsten Gerichts gewiss. Sie kämpfen für das Aufhängen von Kreuzen in Klassenzimmern, für das obligatorische Gebet vor Sportveranstaltungen, für die Verbannung der Evolutionslehre aus Schulbüchern und gegen die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe. Sie leiten aus der Bibel die Verpflichtung ab, Verbrechen wie Mord mit der Todesstrafe zu sühnen. Und sie wissen ein mächtiges Netzwerk hinter sich. Es besteht aus politischen Interessengruppen, Anwaltsvereinigungen, Zeitungen, lokalen Radio- und landesweiten TV-Sendern. "Durch diese Graswurzelpolitik", schreibt Peter Applebome, Reporter bei den New York Times, in seinem Buch "Dixie Rising", "sind die Werte des Südens die Werte Amerikas geworden."

Billy Summerford sieht aus, als würde er jeden Moment kollabieren. Das Gesicht puterrot angelaufen, hüpft er auf und ab. Wann immer er den Heiligen Geist erwähnt, zuckt er zusammen, als führe ein Stromschlag durch den Körper. Seine Gemeinde untermalt die bizarre Predigt mit Verzückung: "Amen", "Oh sweet Jesus". Die Old Rockhouse Holiness Church steht in einen der entlegensten Winkel auf Sand Mountain. Sie ist in keinem Telefonbuch verzeichnet. Das hat seinen Grund. Genau genommen ist Billy Summerford nämlich gar kein Pastor. Er hat weder Theologie studiert noch eine Bibelschule besucht. Gott hat ihn erwählt. Es ist keine große Gemeinde, die er um sich geschart hat. JL Dyal und seine Frau Dorothy, das bibelfeste Paar aus dem hellblauen Haus in Section, gehören ihr an. Billy Summerford predigt ganz nach ihrem Geschmack streng nach der King-James-Bible, der ersten Übersetzung ins Englische. Er fügt kein Wort hinzu und lässt keins aus. Und wenn er wünscht, der Präsident würde den Heiligen Geist empfangen, weil es dann weder Gewalt, noch Unrecht, noch Armut gäbe, dann spricht er den Menschen auf Sand Mountain aus dem Herzen. Wie gerne würde Billy Summerford im Weißen Haus predigen. Aber sie lassen ihn nicht. Warum nur will der Rest der Welt nicht verstehen, dass dies der einzige Weg zum Heil ist?

Jimmy predigt weiter (nun bereits ziemlich erschöpft): "... Wow! l love the Lord tonight. Praise God! I'd put this in the White House if they'd let me. Amen. Praise the Lord!"


Jürgen Albrecht, 23. Dezember 2003

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