Aus dem Schlummer erwacht
Wie gross ist die Bedrohung Europas
durch den jihadistischen Terrorismus? Nach den Anschlägen
in Madrid vom 11. März wollen die Regierungen der europäischen
Staaten die innere Sicherheit erhöhen und die Grenzen
besser bewachen. Zuvor schien sich Europa indes in Sicherheit
zu wiegen. Hat Europa die Gefahr des Terrorismus unterschätzt?
Ein Diskussionsbeitrag von Bassam Tibi.
Hat Europa keinen Selbsterhaltungstrieb
mehr? Hat es seine Abwehrkräfte gegen die Feinde der
Freiheit eingebüsst? Bei der Suche nach Antworten hierauf
habe ich ein Europa-Buch mit der Frage «Europa ohne
Identität?» (Bertelsmann, 1998) veröffentlicht. In den
vergangenen Jahren spürte ich stets die Neigung, die
Frage eher in eine Feststellung umzuwandeln, weil ich
als Sozialwissenschaftler Entwicklungen beobachte, die
in diese Richtung gehen.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs
waren sich die Europäer mit Sir Karl Popper und seinem
damaligen Buch «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde»
einig, dass die Demokratie und Kultur der offenen Gesellschaft
gegen ihre Feinde verteidigt werden müssen. Diese Feinde
waren damals innereuropäisch: Der NS-Faschismus und
der Stalinistische Kommunismus. Heute kommen diese Feinde
aus anderen Zivilisationen nach Europa und schleichen
sich ein unter Migranten und Asylsuchenden: Es sind
Islamisten, die - obwohl sie «Feinde der offenen Gesellschaft»
sind - Geltung für sich im Namen von Toleranz verlangen.
Ich selbst bin ein arabischer Muslim und habe im freiheitlichen
Europa eine Heimat gefunden, in der meine Freiheit geschützt
wird. Der Islam ist eine Weltreligion, der Religionsfreiheit
auch in Europa zu gewähren ist - nicht aber den Islamisten.
Sie politisieren den Islam, verwandeln ihn dadurch in
einen Islamismus, der nichts anderes ist als ein neuer
Totalitarismus (vgl. mein neues Buch «Der neue Totalitarismus.
Heiliger Krieg und westliche Sicherheit»). Das Europa
der Freiheit ist heute zur Ruhezone für den Islamismus
geworden. Aber: Soll die Freiheit auch für die Feinde
der Freiheit gelten? Kürzlich hat ein deutsches Gericht
einen der Al Qaida nahestehenden Islamisten freigesprochen,
der auf einer Datenbasis im Umfang von zwölf Aktenordnern
verdächtigt wird, sich an der Vorbereitung der Anschläge
des 11. Septembers beteiligt zu haben. Das hohe Mass
an formaler Rechtsstaatlichkeit behindert jede strafrechtliche
Verurteilung. Dies veranlasste kürzlich den Labour-Innenminister
David Blunkett, sich dahingehend zu äussern, dass Europa
andere, also weniger formale rechtsstaatliche Grundsätze
anstreben müsse, um eine rechtliche Verfolgung der Islamisten
überhaupt zu ermöglichen. Dies ist deshalb vonnöten,
weil man dem neuen Totalitarismus sonst nicht beikommen
kann. Der Rechtsstaat schützt rechtlich die Aktionsfreiheit
der totalitären Islamisten, aber er soll lieber die
offene Gesellschaft vor ihren Feinden schützen.
Wider den Multikulturalismus
Der politische Wille hierzu
fehlt und auch die öffentliche Meinung tritt nicht dafür
ein. Es ist die Rede von kultureller Vielfalt. Diese
gehört zur Freiheit, aber das Einnisten des neuen, religiös
legitimierten Totalitarismus unter Instrumentalisierung
der Demokratie gehört nicht zu dieser Freiheit, auch
nicht zur Religionsfreiheit. Europäische Multikulturalisten,
die die Islamisten verteidigen, sind Kulturrelativisten,
die alle Werte - selbst die der Demokratie - relativieren,
indem sie die kulturelle Differenz zur Quasi-Religion
erheben und verabsolutieren. Eben diese kulturelle Differenz
nutzen die Islamisten (sie fordern z.B. «Schari'a»-Recht
im Namen der Differenz statt europäisch positives Recht),
um sich Geltung in Europa zu verschaffen. Kann man diese
weiterhin gewähren lassen, ohne dass die «offene Gesellschaft»
in Europa dadurch Schaden nimmt? Es gilt zu vermitteln,
dass der Islamismus eine weltpolitische Bedrohung der
offenen Gesellschaft ist. Die wichtigsten Zentren der
Islamisten befinden sich in ihrer Ruhezone in Europa.
Ich wiederhole die Differenzierung, dass der Islamismus
- wohl nicht der Islam als Religion - die Bedrohung
ist. Die Bewegung für einen Kalifats-Staat des Islamisten
Kaplan, der sich einst mit Bin Laden in Afghanistan
traf, ist ein Beispiel für eine solche totalitäre Weltanschauung.
Demokraten müssen verstehen, dass kein Widerspruch vorliegt,
wenn Toleranz für den Islam befürwortet wird, aber parallel
islamistische Gruppen, die in kämpferisch-aggressiver
Weise gegen die Demokratie, den Rechtsstaat und die
Menschenwürde agieren, mit einem Verbot belegt werden.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sind viele
Europäer irritiert, wenn sie auf Islamisten stossen,
die ihren Geist nicht so offen zur Schau tragen, wie
Kaplan es beispielsweise tut. Andere, auch sunnitische
Islamisten, haben von den Schiiten die Praxis der «Taqiyya»
(Täuschung durch Verstellung) gelernt und präsentieren
sich als brave Demokraten so, dass selbst eine so wichtige
deutsche Zeitung wie «Die Zeit» den von Islamisten täuschend
vorgetragenen «Jihad für die Demokratie» für bare Münze
nimmt und diese Formel als Titel für einen zentralen
Artikel heranzieht, in dem die Islamisten gut davonkommen.
Der Weg vom Jihad zum Jihadismus als totalitärer Ideologie
ist jedoch sehr kurz und er ist seit Al Qaida Weltrealität,
also nicht nur eine Geisteshaltung der neuen Totalitaristen.
Wo bleibt der Kampf für
die Freiheit?
Es ist möglich, den Islam
im Sinne der Freiheit demokratisch als «zivilen Islam»
zu deuten. Ein Euro-Islam wäre ein solcher demokratischer
Islam. Wird dies getan? Nein. Dies muss aber im Sinne
der Integrität gesagt werden. Das Gegenteil tun die
Islamisten, die den Islam totalitär als Gottesherrschaft
(die Lehre von der «Hakimiyyat») verstehen. Das Problem
ist, dass die Europäer - gleich ob Deutsche oder Schweizer
- anscheinend verlernt haben, für die Freiheit kämpferisch
einzustehen. Meinen Studenten an der islamischen Hidayatollah
State University Jakarta im grössten islamischen Land
der Erde, Indonesien, erklärte ich kürzlich als ihr
Gastprofessor, um welchen Systemwettbewerb es im 21.
Jahrhundert geht; sie stehen vor drei alternativen Modellen.
Erstens: einer amerikanisch dominierten Weltordnung
(Pax Americana). Zweitens: einer Erweiterung von «Dar
al-Islam» (Haus des Islam) auf die gesamte Erde als
so genanntes islamisches Friedensmodell (Pax Islamica),
oder drittens: einem pluralistischen Frieden zwischen
den Demokratien, also dem Kantschen Modell des demokratischen
Friedens. Ich fragte meine indonesischen Studenten,
die alle Muslime sind, was sie bevorzugen würden. Die
Antwort meiner aufgeklärten muslimischen Studenten war
klar: «Wir wollen einen demokratischen Frieden.» Die
Islamisten haben jedoch eine andere Antwort und gehen
nicht konform mit diesen indonesischen Verfechtern eines
liberalen «civil Islam». Wir haben mit institutionellen
sowie jihadistischen Islamisten neben den orthodoxen
saudischen Wahhabiten Kräfte, die heute leider international
das Gesicht des Islam prägen.
Die naiven Europäer
Es ist bedauerlich, wie Islamisten
naive Europäer missbrauchen, um ihr Anliegen im falschen
Rahmen der Religionsfreiheit voranzutreiben, obwohl
es um etwas anderes geht. In unserer Zeit entsteht ein
Bündnis zwischen salafistisch-orthodoxen Wahhabiten
und halbmodernen Islamisten als Einsatz für eine Gottesherrschaft,
die weniger mit Religion als mit dem neuen Totalitarismus
zu tun hat. Ich frage: Gehört es zur Religionsfreiheit
und zur kulturellen Vielfalt zu dulden, dass - laut
Pressemeldungen (u.a. «Der Spiegel») - die saudische
Fahd-Akademie in Bonn islamische Kinder im Geist des
Jihadismus erzieht? Gehört es zur Öffnung der Europäer
für den Islam, wenn die von AKP-Islamisten regierte
Türkei in die EU als Vollmitglied aufgenommen wird?
Die türkische Innenpolitik wird nach Deutschland exportiert.
Als der zum Premierminister aufgestiegene Islamist Tayep
Erdogan Berlin besuchte, ging er nicht zu liberalen
Muslimen, er empfing keine Alawiten (diskriminierte
islamische Minderheit in der Türkei). Wohl aber ging
er zu Milli Görüs, einer Organisation, die im Jahresbericht
des Bundesverfassungsschutzes als «extremistisch» eingestuft
wird. Warum werden europäische Demokraten dadurch nicht
wachgerüttelt? Der Aussenminister der AKP Abdullah Gül
forderte die Bundesregierung auf, Milli Görüs anzuerkennen.
Und niemand erhebt die Stimme. «Europa ohne Identität?»,
frage ich. Wie würden die türkischen Islamisten reagieren,
wenn Deutschland sie im Namen der Religionsfreiheit
auffordert aufzuhören, islamische und nicht-islamische
Minderheiten (Alawiten und Christen) zu diskriminieren?
Nun trifft es zu, dass nicht alle Islamisten Anhänger
von Bin Laden sind. In der Tat muss man nicht nur zwischen
Islam und Islamismus, sondern auch zwischen friedlichen
und gewaltbereiten Islamisten unterscheiden. Die Ersteren
sind dazu bereit, in demokratischen Institutionen zu
arbeiten, jedoch mit dem langfristigen Ziel im Hinterkopf,
ihren «islamischen Staat», wenn auch mit friedlichen
Methoden, durchzusetzen. Der Staat der Gottesherrschaft
ist jedoch kein demokratischer Staat und Demokratie
ist mehr als eine Abstimmung. Der Unterschied zwischen
friedlichen institutionellen Islamisten und den Jihadisten
(gewaltbereiten Islamisten) bezieht sich allein auf
die Mittel, nicht auf das Ziel. Jihadisten greifen zum
irregulären Krieg des Neo-Jihad, um ihre Ordnungsvorstellung
voranzutreiben; die institutionellen Islamisten wollen
dies friedlich erreichen, doch sind beide Feinde der
offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers. Demokraten
sollten sich nicht Sand in die Augen streuen und durch
«Taqiyya» täuschen lassen. Europa hat das Recht, seine
Freiheit und seine Prosperität gegen seine Feinde zu
verteidigen. Der Feind ist aber nicht Amerika, wie viele
Europäer zu glauben scheinen. Der Feind ist der neue
Totalitarismus der Islamisten. Nur in einem transatlantischen,
d.h. europäisch-amerikanischen Bündnis kann Europa der
Herausforderung des neuen Totalitarismus begegnen.
Bassam Tibi
ist Professor an den Universitäten
Göttingen und St. Gallen (Islamologie). Sein neues
Buch heisst «Der neue Totalitarismus. Heiliger Krieg
und westliche Sicherheit».
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