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06. April 2004

 

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Aus dem Schlummer erwacht

Wie gross ist die Bedrohung Europas durch den jihadistischen Terrorismus? Nach den Anschlägen in Madrid vom 11. März wollen die Regierungen der europäischen Staaten die innere Sicherheit erhöhen und die Grenzen besser bewachen. Zuvor schien sich Europa indes in Sicherheit zu wiegen. Hat Europa die Gefahr des Terrorismus unterschätzt? Ein Diskussionsbeitrag von Bassam Tibi.

Hat Europa keinen Selbsterhaltungstrieb mehr? Hat es seine Abwehrkräfte gegen die Feinde der Freiheit eingebüsst? Bei der Suche nach Antworten hierauf habe ich ein Europa-Buch mit der Frage «Europa ohne Identität?» (Bertelsmann, 1998) veröffentlicht. In den vergangenen Jahren spürte ich stets die Neigung, die Frage eher in eine Feststellung umzuwandeln, weil ich als Sozialwissenschaftler Entwicklungen beobachte, die in diese Richtung gehen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs waren sich die Europäer mit Sir Karl Popper und seinem damaligen Buch «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» einig, dass die Demokratie und Kultur der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde verteidigt werden müssen. Diese Feinde waren damals innereuropäisch: Der NS-Faschismus und der Stalinistische Kommunismus. Heute kommen diese Feinde aus anderen Zivilisationen nach Europa und schleichen sich ein unter Migranten und Asylsuchenden: Es sind Islamisten, die - obwohl sie «Feinde der offenen Gesellschaft» sind - Geltung für sich im Namen von Toleranz verlangen. Ich selbst bin ein arabischer Muslim und habe im freiheitlichen Europa eine Heimat gefunden, in der meine Freiheit geschützt wird. Der Islam ist eine Weltreligion, der Religionsfreiheit auch in Europa zu gewähren ist - nicht aber den Islamisten. Sie politisieren den Islam, verwandeln ihn dadurch in einen Islamismus, der nichts anderes ist als ein neuer Totalitarismus (vgl. mein neues Buch «Der neue Totalitarismus. Heiliger Krieg und westliche Sicherheit»). Das Europa der Freiheit ist heute zur Ruhezone für den Islamismus geworden. Aber: Soll die Freiheit auch für die Feinde der Freiheit gelten? Kürzlich hat ein deutsches Gericht einen der Al Qaida nahestehenden Islamisten freigesprochen, der auf einer Datenbasis im Umfang von zwölf Aktenordnern verdächtigt wird, sich an der Vorbereitung der Anschläge des 11. Septembers beteiligt zu haben. Das hohe Mass an formaler Rechtsstaatlichkeit behindert jede strafrechtliche Verurteilung. Dies veranlasste kürzlich den Labour-Innenminister David Blunkett, sich dahingehend zu äussern, dass Europa andere, also weniger formale rechtsstaatliche Grundsätze anstreben müsse, um eine rechtliche Verfolgung der Islamisten überhaupt zu ermöglichen. Dies ist deshalb vonnöten, weil man dem neuen Totalitarismus sonst nicht beikommen kann. Der Rechtsstaat schützt rechtlich die Aktionsfreiheit der totalitären Islamisten, aber er soll lieber die offene Gesellschaft vor ihren Feinden schützen.

Wider den Multikulturalismus

Der politische Wille hierzu fehlt und auch die öffentliche Meinung tritt nicht dafür ein. Es ist die Rede von kultureller Vielfalt. Diese gehört zur Freiheit, aber das Einnisten des neuen, religiös legitimierten Totalitarismus unter Instrumentalisierung der Demokratie gehört nicht zu dieser Freiheit, auch nicht zur Religionsfreiheit. Europäische Multikulturalisten, die die Islamisten verteidigen, sind Kulturrelativisten, die alle Werte - selbst die der Demokratie - relativieren, indem sie die kulturelle Differenz zur Quasi-Religion erheben und verabsolutieren. Eben diese kulturelle Differenz nutzen die Islamisten (sie fordern z.B. «Schari'a»-Recht im Namen der Differenz statt europäisch positives Recht), um sich Geltung in Europa zu verschaffen. Kann man diese weiterhin gewähren lassen, ohne dass die «offene Gesellschaft» in Europa dadurch Schaden nimmt? Es gilt zu vermitteln, dass der Islamismus eine weltpolitische Bedrohung der offenen Gesellschaft ist. Die wichtigsten Zentren der Islamisten befinden sich in ihrer Ruhezone in Europa. Ich wiederhole die Differenzierung, dass der Islamismus - wohl nicht der Islam als Religion - die Bedrohung ist. Die Bewegung für einen Kalifats-Staat des Islamisten Kaplan, der sich einst mit Bin Laden in Afghanistan traf, ist ein Beispiel für eine solche totalitäre Weltanschauung. Demokraten müssen verstehen, dass kein Widerspruch vorliegt, wenn Toleranz für den Islam befürwortet wird, aber parallel islamistische Gruppen, die in kämpferisch-aggressiver Weise gegen die Demokratie, den Rechtsstaat und die Menschenwürde agieren, mit einem Verbot belegt werden. Bei der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sind viele Europäer irritiert, wenn sie auf Islamisten stossen, die ihren Geist nicht so offen zur Schau tragen, wie Kaplan es beispielsweise tut. Andere, auch sunnitische Islamisten, haben von den Schiiten die Praxis der «Taqiyya» (Täuschung durch Verstellung) gelernt und präsentieren sich als brave Demokraten so, dass selbst eine so wichtige deutsche Zeitung wie «Die Zeit» den von Islamisten täuschend vorgetragenen «Jihad für die Demokratie» für bare Münze nimmt und diese Formel als Titel für einen zentralen Artikel heranzieht, in dem die Islamisten gut davonkommen. Der Weg vom Jihad zum Jihadismus als totalitärer Ideologie ist jedoch sehr kurz und er ist seit Al Qaida Weltrealität, also nicht nur eine Geisteshaltung der neuen Totalitaristen.

Wo bleibt der Kampf für die Freiheit?

Es ist möglich, den Islam im Sinne der Freiheit demokratisch als «zivilen Islam» zu deuten. Ein Euro-Islam wäre ein solcher demokratischer Islam. Wird dies getan? Nein. Dies muss aber im Sinne der Integrität gesagt werden. Das Gegenteil tun die Islamisten, die den Islam totalitär als Gottesherrschaft (die Lehre von der «Hakimiyyat») verstehen. Das Problem ist, dass die Europäer - gleich ob Deutsche oder Schweizer - anscheinend verlernt haben, für die Freiheit kämpferisch einzustehen. Meinen Studenten an der islamischen Hidayatollah State University Jakarta im grössten islamischen Land der Erde, Indonesien, erklärte ich kürzlich als ihr Gastprofessor, um welchen Systemwettbewerb es im 21. Jahrhundert geht; sie stehen vor drei alternativen Modellen. Erstens: einer amerikanisch dominierten Weltordnung (Pax Americana). Zweitens: einer Erweiterung von «Dar al-Islam» (Haus des Islam) auf die gesamte Erde als so genanntes islamisches Friedensmodell (Pax Islamica), oder drittens: einem pluralistischen Frieden zwischen den Demokratien, also dem Kantschen Modell des demokratischen Friedens. Ich fragte meine indonesischen Studenten, die alle Muslime sind, was sie bevorzugen würden. Die Antwort meiner aufgeklärten muslimischen Studenten war klar: «Wir wollen einen demokratischen Frieden.» Die Islamisten haben jedoch eine andere Antwort und gehen nicht konform mit diesen indonesischen Verfechtern eines liberalen «civil Islam». Wir haben mit institutionellen sowie jihadistischen Islamisten neben den orthodoxen saudischen Wahhabiten Kräfte, die heute leider international das Gesicht des Islam prägen.

Die naiven Europäer

Es ist bedauerlich, wie Islamisten naive Europäer missbrauchen, um ihr Anliegen im falschen Rahmen der Religionsfreiheit voranzutreiben, obwohl es um etwas anderes geht. In unserer Zeit entsteht ein Bündnis zwischen salafistisch-orthodoxen Wahhabiten und halbmodernen Islamisten als Einsatz für eine Gottesherrschaft, die weniger mit Religion als mit dem neuen Totalitarismus zu tun hat. Ich frage: Gehört es zur Religionsfreiheit und zur kulturellen Vielfalt zu dulden, dass - laut Pressemeldungen (u.a. «Der Spiegel») - die saudische Fahd-Akademie in Bonn islamische Kinder im Geist des Jihadismus erzieht? Gehört es zur Öffnung der Europäer für den Islam, wenn die von AKP-Islamisten regierte Türkei in die EU als Vollmitglied aufgenommen wird? Die türkische Innenpolitik wird nach Deutschland exportiert. Als der zum Premierminister aufgestiegene Islamist Tayep Erdogan Berlin besuchte, ging er nicht zu liberalen Muslimen, er empfing keine Alawiten (diskriminierte islamische Minderheit in der Türkei). Wohl aber ging er zu Milli Görüs, einer Organisation, die im Jahresbericht des Bundesverfassungsschutzes als «extremistisch» eingestuft wird. Warum werden europäische Demokraten dadurch nicht wachgerüttelt? Der Aussenminister der AKP Abdullah Gül forderte die Bundesregierung auf, Milli Görüs anzuerkennen. Und niemand erhebt die Stimme. «Europa ohne Identität?», frage ich. Wie würden die türkischen Islamisten reagieren, wenn Deutschland sie im Namen der Religionsfreiheit auffordert aufzuhören, islamische und nicht-islamische Minderheiten (Alawiten und Christen) zu diskriminieren? Nun trifft es zu, dass nicht alle Islamisten Anhänger von Bin Laden sind. In der Tat muss man nicht nur zwischen Islam und Islamismus, sondern auch zwischen friedlichen und gewaltbereiten Islamisten unterscheiden. Die Ersteren sind dazu bereit, in demokratischen Institutionen zu arbeiten, jedoch mit dem langfristigen Ziel im Hinterkopf, ihren «islamischen Staat», wenn auch mit friedlichen Methoden, durchzusetzen. Der Staat der Gottesherrschaft ist jedoch kein demokratischer Staat und Demokratie ist mehr als eine Abstimmung. Der Unterschied zwischen friedlichen institutionellen Islamisten und den Jihadisten (gewaltbereiten Islamisten) bezieht sich allein auf die Mittel, nicht auf das Ziel. Jihadisten greifen zum irregulären Krieg des Neo-Jihad, um ihre Ordnungsvorstellung voranzutreiben; die institutionellen Islamisten wollen dies friedlich erreichen, doch sind beide Feinde der offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers. Demokraten sollten sich nicht Sand in die Augen streuen und durch «Taqiyya» täuschen lassen. Europa hat das Recht, seine Freiheit und seine Prosperität gegen seine Feinde zu verteidigen. Der Feind ist aber nicht Amerika, wie viele Europäer zu glauben scheinen. Der Feind ist der neue Totalitarismus der Islamisten. Nur in einem transatlantischen, d.h. europäisch-amerikanischen Bündnis kann Europa der Herausforderung des neuen Totalitarismus begegnen.

Bassam Tibi

ist Professor an den Universitäten Göttingen und St. Gallen (Islamologie). Sein neues Buch heisst «Der neue Totalitarismus. Heiliger Krieg und westliche Sicherheit».

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