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Drucken 10.07.2003

Das Ende eines Spagats

Der Zentralrat der Juden nach Michel Friedmans Rücktritt

 

Nachdem im vergangenen Dezember die Führungsspitze des Zentralrats der Juden gewählt worden war, prophezeite die vom Zentralrat herausgegebene, von Geschäftsführer Michel Friedman geleitete Jüdische Allgemeine dem neuen Präsidium „ein bisschen Kopfschmerzen“. Wenn nämlich, so der Leitartikler, nicht an den „jüdischen Traditionen“ festgehalten werde, „könnte die wahrlich unvernünftige Spaltung des Judentums in Deutschland vorprogrammiert sein.“ Die Zuwanderung osteuropäischer Juden hat die Gemeinden rasch anwachsen lassen. Damit aber stellt sich die dringliche Frage nach dem Pluralismus innerhalb der jüdischen Gemeinschaft: Welches Bild vom Judentum soll den Neuankömmlingen vermittelt werden? Ein orthodoxes, liberales, konservatives? Michel Friedman hat durch sein weltmännisches Auftreten, das von der Öffentlichkeit auf diffuse Art mit seinem Judentum verbunden wurde, die Debatte verdeckt. Nun wird sie vehement zurückkehren.


Einen Tag vor Friedmans Pressekonferenz forderte Präsidiumsmitglied Nathan Kalmanowicz den Rücktritt seines Kollegen. Ähnlich hatten sich zuvor der Rabbiner Walter Homolka und der Schriftsteller Rafael Seligman geäußert: Friedman sei im Präsidium des Zentralrats untragbar, falls er Rauschgift konsumiert habe. Seligman griff auf den Titel seines jüngsten Werks zurück und nannte Friedman einen „Musterjuden“, der sich als „zweiter Nathan der Weise“ geriert habe. Er, Seligman, könne durchaus verstehen, dass manche Juden sich „vielleicht einen etwas konservativeren Vizepräsidenten“ wünschen. Damit ist der Streitpunkt ausgesprochen, der die Debatte um Friedmans Nachfolge bestimmen wird: Wie schillernd darf, wie konservativ muss ein hoher Repräsentant des deutschen Judentums sein?


Kein Geld für Liberale


Nathan Kalmanowicz gehört wie die verbliebene Vizepräsidentin des Zentralrats, Charlotte Knobloch, der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München an. Diese ist stark orthodox ausgerichtet. Als vor zwei Jahren die liberale Gemeinde „Beth Shalom“ von der Stadt München finanzielle Förderung erbat, scheiterte der Antrag auch an einem Schreiben der IKG. Dem Oberbürgermeister wurde mitgeteilt, die Liberalen stünden außerhalb des Judentums – eine abenteuerliche Behauptung, befinden sich doch weltweit die „progressiven“ Juden in der Mehrheit. Dass in Deutschland ähnlich wie in Israel und im Gegensatz zum angelsächsischen Raum die Orthodoxen dominieren, hat historische Gründe. Die wenigen Juden, die den Holocaust überlebten und nicht emigrierten, waren orthodox geprägt, ebenso die damaligen Flüchtlinge aus Osteuropa.


Seit 1990 beginnt sich die Situation zu ändern; deshalb befürchtet der Leitartikler der Jüdischen Allgemeinen einen Verlust „jüdischer Traditionen“, will heißen: einen schwindenden Einfluss der Orthodoxie. Die „Kontingentflüchtlinge“ aus den ehemaligen GUS-Staaten sind fast alle säkularisiert. Der Sozialismus hat ihre religiösen Wurzeln weitgehend gekappt. Diejenigen, die noch an den Gott der Väter glauben, sympathisieren meist mit den Liberalen. Nur eine kleine Minderheit rechnet sich der orthodoxen Richtung zu. Wenn die Flüchtlinge, die zwischen 70 und 90 Prozent der Gemeindemitglieder ausmachen, ihr Judentum hier neu entdecken wollen, tritt ihnen aber meist ein orthodoxer Rabbiner gegenüber. Die wenigen nicht dem Zentralrat angehörenden liberalen Gemeinden profitieren vorerst nur unterproportional vom Zuzug, obwohl ihnen die größte Sympathie entgegengebracht wird.


Wofür stand aber Friedman? Zunächst einmal war er das perfekte Siegel auf eine Selbstbeschwörung. Diese Selbstbeschwörung besagt, dass der Zentralrat eine politische und insofern säkulare Interessensvertretung sei. Er betreibt aber auch – in den Worten des niedersächsischen Landesvorsitzenden Michael Fürst – „ein religiöses Geschäft“. Fürst wandte sich BUBIS TOD]gegen die Wahl Friedmans zum Vizepräsidenten, weil Friedman damals dem Vorstand der „christlichen“ CDU angehörte. Auch in der Auseinandersetzung mit den liberalen Gemeinden, von Paul Spiegel zuweilen „jüdisch-christliche Vereinigungen“ genannt, zeigt sich eine religiöse Tiefenspur. Der Zentralrat lässt die von Teilen des Reformjudentums vertretene These nicht gelten, Jude könne sein, wer von einem jüdischen Vater abstamme; an der Matrilinearität führt nach Ansicht des Zentralrats kein Weg vorbei. Es kann nicht verwundern, dass die Spitzenorganisation orthodox dominierter Gemeinden eher der Orthodoxie als den Reformern zuneigt.


Friedman versuchte sich nicht nur, wie es das jüdische Wochenmagazin tachles schrieb, am „Spagat zwischen seinen politischen Funktionen und dem frivolen Promi“. Friedman beherrschte auch den Spagat zwischen Orthodoxie nach innen und Liberalität nach außen. Für Andreas Nachama, von 1997 bis 2001 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Berlin, stand Friedman der Orthodoxie nahe. Nachamas Amtsnachfolger Alexander Brenner widerspricht, sieht Friedman durch die persönlichen Eigenschaften „Dynamik, Würde, Energie“ charakterisiert. Auch Daniel Ajszenstejn von der Hamburger Gemeinde hält nur Friedmans Begabung, „das Unangenehme konsequent auszutragen“, für wesentlich.


Tatsache ist, dass Orthodoxe wie Reformorientierte mit Friedman sehr gut leben konnten. Friedmans polyglotte Intellektualität ließ die Frage nach seiner spezifischen Haltung zum liberalen, orthodoxen oder konservativen Judentum gar nicht aufkommen. Auf diese Weise wirkte der große Polarisierer integrierend. Vom neuen Vizepräsidenten kann dergleichen nicht unbedingt erwartet werden. Der Zentralrat muss sich entscheiden, bis zu welchem Grad er der Orthodoxie die Treue hält und inwieweit er sich weiter öffnet für liberale Strömungen. Einmalig ist der Vizepräsident Friedman gewesen, einmalig wird wohl auch der Spagat bleiben.>


ALEXANDER KISSLER



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Quelle: Flife  
 
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