Nachdem im vergangenen Dezember die
Führungsspitze des Zentralrats der Juden gewählt worden war,
prophezeite die vom Zentralrat herausgegebene, von Geschäftsführer
Michel Friedman geleitete Jüdische Allgemeine dem neuen Präsidium
„ein bisschen Kopfschmerzen“. Wenn nämlich, so der Leitartikler,
nicht an den „jüdischen Traditionen“ festgehalten werde, „könnte die
wahrlich unvernünftige Spaltung des Judentums in Deutschland
vorprogrammiert sein.“ Die Zuwanderung osteuropäischer Juden hat die
Gemeinden rasch anwachsen lassen. Damit aber stellt sich die
dringliche Frage nach dem Pluralismus innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft: Welches Bild vom Judentum soll den Neuankömmlingen
vermittelt werden? Ein orthodoxes, liberales, konservatives? Michel
Friedman hat durch sein weltmännisches Auftreten, das von der
Öffentlichkeit auf diffuse Art mit seinem Judentum verbunden wurde,
die Debatte verdeckt. Nun wird sie vehement zurückkehren.
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Einen Tag vor Friedmans Pressekonferenz
forderte Präsidiumsmitglied Nathan Kalmanowicz den Rücktritt seines
Kollegen. Ähnlich hatten sich zuvor der Rabbiner Walter Homolka und
der Schriftsteller Rafael Seligman geäußert: Friedman sei im
Präsidium des Zentralrats untragbar, falls er Rauschgift konsumiert
habe. Seligman griff auf den Titel seines jüngsten Werks zurück und
nannte Friedman einen „Musterjuden“, der sich als „zweiter Nathan
der Weise“ geriert habe. Er, Seligman, könne durchaus verstehen,
dass manche Juden sich „vielleicht einen etwas konservativeren
Vizepräsidenten“ wünschen. Damit ist der Streitpunkt ausgesprochen,
der die Debatte um Friedmans Nachfolge bestimmen wird: Wie
schillernd darf, wie konservativ muss ein hoher Repräsentant des
deutschen Judentums sein?
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Nathan Kalmanowicz gehört wie die verbliebene
Vizepräsidentin des Zentralrats, Charlotte Knobloch, der
Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München an. Diese ist stark
orthodox ausgerichtet. Als vor zwei Jahren die liberale Gemeinde
„Beth Shalom“ von der Stadt München finanzielle Förderung erbat,
scheiterte der Antrag auch an einem Schreiben der IKG. Dem
Oberbürgermeister wurde mitgeteilt, die Liberalen stünden außerhalb
des Judentums – eine abenteuerliche Behauptung, befinden sich doch
weltweit die „progressiven“ Juden in der Mehrheit. Dass in
Deutschland ähnlich wie in Israel und im Gegensatz zum
angelsächsischen Raum die Orthodoxen dominieren, hat historische
Gründe. Die wenigen Juden, die den Holocaust überlebten und nicht
emigrierten, waren orthodox geprägt, ebenso die damaligen
Flüchtlinge aus Osteuropa.
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Seit 1990 beginnt sich die Situation zu
ändern; deshalb befürchtet der Leitartikler der Jüdischen
Allgemeinen einen Verlust „jüdischer Traditionen“, will heißen:
einen schwindenden Einfluss der Orthodoxie. Die
„Kontingentflüchtlinge“ aus den ehemaligen GUS-Staaten sind fast
alle säkularisiert. Der Sozialismus hat ihre religiösen Wurzeln
weitgehend gekappt. Diejenigen, die noch an den Gott der Väter
glauben, sympathisieren meist mit den Liberalen. Nur eine kleine
Minderheit rechnet sich der orthodoxen Richtung zu. Wenn die
Flüchtlinge, die zwischen 70 und 90 Prozent der Gemeindemitglieder
ausmachen, ihr Judentum hier neu entdecken wollen, tritt ihnen aber
meist ein orthodoxer Rabbiner gegenüber. Die wenigen nicht dem
Zentralrat angehörenden liberalen Gemeinden profitieren vorerst nur
unterproportional vom Zuzug, obwohl ihnen die größte Sympathie
entgegengebracht wird.
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Wofür stand aber Friedman? Zunächst einmal
war er das perfekte Siegel auf eine Selbstbeschwörung. Diese
Selbstbeschwörung besagt, dass der Zentralrat eine politische und
insofern säkulare Interessensvertretung sei. Er betreibt aber auch –
in den Worten des niedersächsischen Landesvorsitzenden Michael Fürst
– „ein religiöses Geschäft“. Fürst wandte sich BUBIS TOD]gegen die
Wahl Friedmans zum Vizepräsidenten, weil Friedman damals dem
Vorstand der „christlichen“ CDU angehörte. Auch in der
Auseinandersetzung mit den liberalen Gemeinden, von Paul Spiegel
zuweilen „jüdisch-christliche Vereinigungen“ genannt, zeigt sich
eine religiöse Tiefenspur. Der Zentralrat lässt die von Teilen des
Reformjudentums vertretene These nicht gelten, Jude könne sein, wer
von einem jüdischen Vater abstamme; an der Matrilinearität führt
nach Ansicht des Zentralrats kein Weg vorbei. Es kann nicht
verwundern, dass die Spitzenorganisation orthodox dominierter
Gemeinden eher der Orthodoxie als den Reformern zuneigt.
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Friedman versuchte sich nicht nur, wie es das
jüdische Wochenmagazin tachles schrieb, am „Spagat zwischen seinen
politischen Funktionen und dem frivolen Promi“. Friedman beherrschte
auch den Spagat zwischen Orthodoxie nach innen und Liberalität nach
außen. Für Andreas Nachama, von 1997 bis 2001 Vorsitzender der
jüdischen Gemeinde Berlin, stand Friedman der Orthodoxie nahe.
Nachamas Amtsnachfolger Alexander Brenner widerspricht, sieht
Friedman durch die persönlichen Eigenschaften „Dynamik, Würde,
Energie“ charakterisiert. Auch Daniel Ajszenstejn von der Hamburger
Gemeinde hält nur Friedmans Begabung, „das Unangenehme konsequent
auszutragen“, für wesentlich.
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Tatsache ist, dass Orthodoxe wie
Reformorientierte mit Friedman sehr gut leben konnten. Friedmans
polyglotte Intellektualität ließ die Frage nach seiner spezifischen
Haltung zum liberalen, orthodoxen oder konservativen Judentum gar
nicht aufkommen. Auf diese Weise wirkte der große Polarisierer
integrierend. Vom neuen Vizepräsidenten kann dergleichen nicht
unbedingt erwartet werden. Der Zentralrat muss sich entscheiden, bis
zu welchem Grad er der Orthodoxie die Treue hält und inwieweit er
sich weiter öffnet für liberale Strömungen. Einmalig ist der
Vizepräsident Friedman gewesen, einmalig wird wohl auch der Spagat
bleiben.>
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