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Ein Treffen der Heuristiker

Systematische Heuristik in der DDR - Was wurde daraus?

 

   
Was ist Systematische Heuristik?

Die Systematische Heuristik für Naturwissenschaftler und Ingenieure ist eine Technologie der geistigen Arbeit. Sie ist ein Methodensystem zur Bewältigung von Problemlösungsprozessen aus den Bereichen Naturwissenschaft und Technik.

Das Prinzip der Systematischen Heuristik besteht darin, wiederkehrende Problemklassen mit Methoden zu bearbeiten, die sich in der Vergangenheit als effektiv erwiesen haben. Diese Methoden werden Programme genannt und in einer Programmbibliothek zur Wiederverwendung bereitgestellt. Das Verfahren der Problemlösung wird durch das Oberprogramm der Systematischen Heuristik vorgeschrieben und für die jeweilige Aufgabe spezifiziert. Die Systemwissenschaftliche Arbeitsweise regelt die Arbeitsmethoden und den Begriffsapparat der Systematischen Heuristik.

Das Konzept der Systematischen Heuristik wird von Johannes Müller im Jahr 1967 an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) entwickelt. Prof. Dr. Johannes Müller analysierte in den Jahren 1964 bis 1966 das methodische Vorgehen von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Diese Arbeiten gehen in seine Habilitationsschrift (1966) ein.

1969 wird auf Veranlassung von Walter Ulbricht die Systematische Heuristik institutionalisiert. Die Abteilung Systematische Heuristik, Sitz Karl-Marx-Stadt, wird Teil der Akademie für marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft (Akademie MLO, Berlin). Die Abteilung SH arbeitet unter Leitung von Prof. Dr. phil. habil. Johannes Müller mit 25 aus Universitäten, Technischen Hochschulen und der DDR-Industrie rekrutierten Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Sie hat die Aufgabe, die Systematische Heuristik in vier Großforschungszentren der DDR einzuführen und Industriekader methodisch zu qualifizieren, um damit den Wirkungsgrad der wissenschaftlichen Arbeit zu erhöhen. Mehr dazu bei www.storyal.de ... und bei http://de.wikipedia.org ...

Prof. Dr.-phil. Johannes Müller, 28. Februar 1972

Prof. Dr.-phil. Johannes Müller, 28. Februar 1972

 

Systematische Heuristik in der DDR

Die Anwendung der Systematischen Heuristik in den Grossforschungszentren der DDR (die gab es tatsächlich ...!) war erfolgreich. Es konnte nachgewiesen werden: Wenn wissenschaftliche Bearbeiter durch ihre Leiter mehr oder weniger sanft gezwungen und durch Spezialisten angeleitet werden, nach diesem System zu arbeiten, sind sie tatsächlich effektiver, als vorher. Allerdings entspricht dieser Arbeitsstil nicht der menschlichen Mentalität! Der Mensch schätzt die Routine und bewältigt damit den grössten Teil seines Lebens. Seinen Verstand benutzt der Mensch nur dann, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Er vermeidet systematische Problemlösungen, wie sie die Systematische Heuristik vorschreibt, so lange wie möglich, denn systematische, strategische Problemlösung bedeutet bewusstes Arbeiten, Stress und Aufwand. Deshalb legen Forscher und Entwickler in der Regel das schöne Methodensystem wieder beiseite, sobald der Druck von oben nachlässt. Eine ganz wesentliche Erkenntnis aus der industriellen Anwendung der Systematischen Heuristik.

 

Ein unerwartet schnelles Ende

Schon nach zwei Jahren war alles vorbei. Die Arbeit der Abteilung Systematische Heuristik war zwar erfolgreich, aber das zählte in der DDR nicht. Für einige bornierte Genossen des Politbüros (allen voran Kurt Hager) war die Reinheit der Lehre und der 'unerschütterliche Klassenstandpunkt' wichtiger als wissenschaftliche Erkenntnisse und tatsächliche Erfolge. Es durfte nicht sein, dass der Sozialismus mit 'technokratischen' (ideologiefreien!) Methoden aufgebaut werden sollte. Die hoch spezialisierte Beratergruppe wurde aus rein ideologischen Gründen aufgelöst. Jedem von uns wurde noch ein Orden an die Brust geheftet, dann wurden wir nach Hause geschickt. Damit war mit dem Jahr 1972 auch die industrielle Anwendung der Systematische Heuristik beendet.

die Mitarbeiter der Abteilung Systematische Heuristik am 20. Dezember 1971

Die Mitarbeiter der gerade aufgelösten Abteilung Systematische Heuristik am 20. Dezember 1971

 

Heute vergessen

Prof. Johannes Müller und die ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung SH haben auch ohne Institution weiter mit der Systematischen Heuristik gearbeitet. Sie haben diese Technologie an ihrem Arbeitsplatz in vielfältiger Form angewandt, modifiziert und weiterentwickelt. Aus dem Literaturverzeichnis werden die Entwicklungsrichtungen deutlich.

Aber spätestens mit der Wiedervereinigung geriet die Systematische Heuristik völlig ins Abseits. Wieder vollkommen unverständlich. Denn in der Bundesrepublik sind hunderte von Beratungsfirmen gut im Geschäft. Nicht eine arbeitet mit der Systematischen Heuristik. Auch keiner der ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung SH konnte eine Beratungsfirma erfolgreich am Markt platzieren. Abgesehen davon, dass diese Technologie in Westdeutschland völlig unbekannt war und ist, der entscheidende Grund ist folgender: Alle Beratungsfirmen befassen sich vorrangig mit Lobbyarbeit oder mit der Ertragsmaximierung. Es gibt auch heute keine Beratungsfirma, die sich die Optimierung des Problemlösungsprozesses im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften auf die Fahne geschrieben hat. An wissenschaftlich-technischen Grossprojekten sind Methodik-Coaches, die sich mit der Optimierung der Forschungsstrategie befassen, weitgehend unbekannt. Genau in diesem Bereich waren die Mitarbeiter der Abteilung Systematische Heuristik tätig.

Eine erstaunliche Tatsache. Sie hat mehrere Ursachen: Der Wert optimaler Problemlösungsstrategien wird nicht erkannt und entsprechende Methoden sind unterentwickelt. Auf der anderen Seite benötigt man dafür naturwissenschaftliches Fachwissen und hoch qualifizierte Coaches. Wo kriegt man solche Leute her? Hier geht es um rein technisch-wissenschaftliche Problemlösungen und nicht (nur ...) um die "kreative Buchführung" eines Unternehmens.

 

Ein paar Veteranen leben noch

Einige ehemalige Mitarbeiter der Abteilung Systematische Heuristik treffen sich auch heute noch ab zu an den legendären Orten der Vergangenheit: In Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, oder im Erzgebirge mit der Sicht auf den Bärenstein, wo viele Heuristik-Lehrgänge stattgefunden haben. Die aktive Zeit der Systematischen Heuristik liegt mehr als 40 Jahre zurück. Die Akteure sind bald 80 Jahre alt und viele können nicht mehr zu so einem Treffen kommen. Prof. Johannes Müller ist leider schon vor vier Jahren verstorben.

Heuristiker 2012

Ehemalige Mitarbeiter der Abteilung SH auf der Dittersdorfer Höhe am 03.11.2012,

Foto Kurt Peter Hofmann (Mitte) - www.sehhecht.de

Auf der Zusammenkunft im November 2012 wurde zum wiederholten Male die Frage diskutiert, warum der Stellenwert der Methodik in der Forschung und Entwicklung so gering ist. Wahrscheinlich ist dafür das genetisch vorprogrammierte menschliche Verhalten verantwortlich: Der Mensch hat aus seiner animalischen Vergangenheit das Verfahren Trial and Error in das hoch technisierte Zeitalter mitgebracht: Es wird gepröbelt und nicht probegehandelt: "Es ist nicht des Menschen Natur, geistig zu arbeiten," fasste Prof. Johannes Müller letztlich seine Erfahrungen zusammen. Der Mensch benutzt erst dann seinen Verstand, wenn es anders wirklich nicht mehr geht. Meine Worte.

"Probehandeln" ist ein Begriff, den Müller eingeführt hat und er ist sehr anschaulich: Bevor man wirklich handelt, sollte man in die Erkundung und Bewertung möglicher Strategien investieren. Investitionen in die Vorbereitung des Handelns zahlen sich in der Regel durch qualitativ bessere Ergebnisse, realistische Kostenermittlungen und Termintreue aus. Wie gravierend es genau daran heute mangelt, sieht man beispielsweise an solchen Bauprojekten wie der Hamburger Elbphilharmonie, bei Stuttgart 21 und beim Berliner Grossflughafen BER. Fehlentwicklungen im Bereich von Technik und Naturwissenschaft existieren in ähnlichen Grössenordnungen, werden aber nicht publik. Ein kleines Beispiel ist Blue Brain, s. dazu Weblog.al vom 05.12.2012.

Im Jahr 1972 gab es in der Abteilung SH erste Überlegungen zum Einsatz von Computern für die Steuerung des Problemlösungsprozesses. Damals war bereits in den Grundzügen die CAD-Entwicklung erkennbar. Wir hatten die Vorstellung, dass beim CAD-Prozess so selbstverständlich, wie es Speicher für Normteile und DIN-Vorschriften gibt, auch Methodenspeicher existieren werden. In der Weiterentwicklung dieser Speicher wäre auch ein "Dämon" vorstellbar, der den Bearbeiter entsprechend der rechnerinternen Problemlösungsmethoden anleitet und zu einem optimalen Ergebnis führt.

In den 80-er Jahren gab es auch solche Entwicklungen (z.B. an den Technischen Hochschulen Braunschweig, Ilmenau und Karl-Marx-Stadt). Sie verliefen parallel zur Software- und zur Speicher-Entwicklung. Moderne CAD/CAM Systeme aber verfügen nicht über Methodenspeicher und auch Systeme zur Optimierung der Entwicklungsstrategie existieren nicht. Dabei spielt sicher auch eine wesentliche Rolle, dass sich im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) seit 1970 fast nichts bewegt hat. In der Diskussion waren wir uns auf der Dittersdorfer Höhe einig: Hier wirken die gleichen Verhaltensweisen, die generell die Nutzung von Methoden blockieren: Der Mensch schätzt die Routine und das Verfahren Trial and Error.

An dieser genetischen Konstitution kann nur die Evolution etwas ändern. Nach 10.000 weiteren Generationen wird vielleicht der Mensch gelernt haben, mehr auf seinen Verstand, und weniger auf seinen Bauch zu hören. Vielleicht ...

 

Bilder vom schönen Erzgebirge trösten über solche menschlichen Schwächen hinweg:

Der legendäre Bärenstein

Der legendäre Bärenstein

Der legendäre Bärenstein

Pöhlberg (links) und Bärenstein (rechts) von der Dittersdorfer Höhe aus gesehen

Typisches Erzgebirge bei Zweibach

Mei Azgebirg - Wie biste schie! Typisches Erzgebirge bei Zweibach

Keilberg und Fichtelberg von der Dittersdorfer Höhe aus gesehen

Keilberg (links) und Fichtelberg (rechts) von der Dittersdorfer Höhe aus gesehen

Sicht auf Annaberg und den Bärenstein vom Fichtelberg aus

Sicht auf Annaberg und den Bärenstein (rechts) vom Fichtelberg aus

Das Fichtelberghaus

Das Fichtelberghaus

Fichtelberg, Sicht zum Keilberg

Fichtelberg, Sicht zum Keilberg

Historische Triangulationssäule

Historische Triangulationssäule

 

 

Sicht von der Dittersdorfer Höhe

Sicht von der Dittersdorfer Höhe

Sicht von der Dittersdorfer Höhe

Sicht von der Dittersdorfer Höhe in Richtung Fichtelberg - Fotos von Kurt Peter Hofmann, www.sehhecht.de

 

 

Jürgen Albrecht, 18. Dezember 2012
update: 18.12.2012

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