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Apparat ohne Seele

Kommunismus und Kommunisten
im Moskau der 30-er Jahre
Tanja Stern - Der Apparat und die Seele
1. Auflage 2012, edition tanja stern
ISBN 978-3-938105-18-4
Leseprobe: Der Apparat und die Seele, Seiten 158 bis 168

Tanja Stern

Tanja Stern

 

   

Als mein Großonkel Imanuel Stern, der im Zusammenhang mit der Slansky-Affäre unschuldig im Gefängnis saß, 1958 zur Beerdigung seines Bruders Viktor nach Kleinmachnow kam, waren gerade die ersten Enthüllungsbücher zum stalinistischen Terror erschienen, und sein Neffe Ludwig, Viktors Sohn aus zweiter Ehe, fragte den Onkel, was er davon halte. Onkel Manni zögerte nicht mit der Antwort: Wer solche Bücher schreibt, donnerte er, der hat zu Recht im Lager gesessen! Mir ist, als fühlte ich durch die Jahrzehnte seine Wut, nicht etwa Wut auf Stalin, der die Idee des Kommunismus in den Dreck zog und ad absurdum führte, nicht etwa Wut auf seine willigen Vollstrecker, die Millionen unschuldiger Menschen töteten und im Gulag quälten, nein, Wut auf diejenigen, die das thematisierten und die Wahrheit darüber öffentlich machten.

Die meisten Kommunisten vertraten diesen Standpunkt, auch dann, wenn sie selbst, wie Onkel Manni, zu den Opfern des Stalinismus zählten – ja, gerade dann galt ihr Schweigen sogar noch als besondere kommunistische Tugend. Bloß nicht dran rühren! Bloß nicht drüber sprechen! Bloß die Fassade wahren und „dem Gegner“ keine Argumente in die Hände spielen! Mag sein, es wurden Fehler gemacht, doch das ändert nichts an der prinzipiellen Richtigkeit des sozialistischen Weges. Es ist diese Haltung, die das Phänomen der Großen Säuberung ermöglicht und getragen hat. Ich spreche hier nicht von den Gründen dieses Phänomens; das würde in mehr als einer Hinsicht den Rahmen meines Buches sprengen. So viele Historiker haben sich schon ausführlich und gescheit zu diesem Thema verbreitet, doch nicht einem ist es gelungen – nein, nicht einem kann es gelingen, eine schlüssige Erklärung für das zu finden, was sich während der Terrorjahre 1936 bis 1938 in der Sowjetunion ereignet hat. Dass ein Herrscher im tiefsten Frieden gegen sein Volk so drastisch wütet, so bar jeden Rechtsgrunds Abertausende von Menschen töten und einsperren lässt, die Fabriken von den Fachleuten entblößt, die Armee von den Führungsoffizieren und selbst die eigene Ideologie von ihren treuesten Anhängern, das alles lässt sich in seiner Monstrosität und Sinnlosigkeit kaum begreifen. Wie immer man es auch erklärt, immer bleibt ein Element des Irrationalen, des persönlichen und kollektiven Wahnsinns.

Unstrittig ist, dass der Persönlichkeit Stalins, seinem paranoiden Verfolgungs- und Machtwahn, bei diesen Vorgängen eine große Rolle zukommt. Doch wie war es möglich, dass dieser Mann mit derart gottgleicher Souveränität über Tod und Leben verfügen konnte, ohne je auf Widerstand zu stoßen? Wie war es möglich, dass die Kommunisten, die zu jener Zeit weltweit auf dem politischen Vormarsch waren, sehenden Auges sich selbst vertilgten? Die Furcht vor dem Terror allein erklärt das nicht. Gerade von den europäischen Kommunisten, die damals
in Moskau lebten, hatten viele zuvor bewiesen, dass sie fähig waren, sich gegen ein Terrorregime aufzulehnen. Namentlich unter den Deutschen gab es etliche Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, die sich in Konzentrationslagern oder Gestapohaft tapfer gehalten hatten. Das waren keine Feiglinge, keine autoritätshörigen Mitläufer des jeweils herrschenden Systems.

Und dennoch saßen sie Nacht für Nacht zitternd wie die Hasen im Hotel Lux und warteten mit Schicksalsergebenheit, wen es wohl diesmal treffen würde. Nicht einer stellte das Prinzip der Großen Säuberung in Frage. Im Gegenteil: Die meisten wurden, wie Viktor, zu aktiven Stützen dieses Prinzips, setzten geradezu ihren Ehrgeiz darein, Verdächtige in den eigenen Reihen aufzuspüren und weiterzumelden. Nach dem Ehrenkodex in ihren Heimatländern war der Verrat die schlimmste Schande. Eher hatte man sich totschlagen zu lassen, als einen Genossen an „den Feind“ zu verraten. Das Problem war nur, dass man die Sowjetunion und das NKWD nicht als Feind ansah, nicht als Feind ansehen durfte. Was anderswo Verrat hieß, galt hier als „revolutionäre Wachsamkeit“.

In diesen Denkschablonen verwirrten sich die Fronten und Begriffe, bis es am Ende keine Grenze zwischen falschem Verdacht und echter Schuld mehr gab. Deshalb geben die Kommunisten in Moskau so erbärmliche Figuren ab: nicht weil sie Angst hatten – wer hätte die in einer solchen Lage nicht –, sondern weil ihnen selbst der innere Widerstand fehlte, den doch eigentlich noch der schwächste Mensch der Tyrannei entgegensetzt.

Aus der historischen Entfernung fragt man sich, wo diese Leute ihren Verstand und ihre Urteilskraft gelassen hatten. Das waren doch keine Schwachsinnigen. Sie konnten doch nicht ernsthaft glauben, dass es in Moskau so viele Tausende von trotzkistischen Agenten und Verschwörern gab. Dass ihre eigenen Freunde und Kampfgefährten, die sich zum Teil jahrzehntelang unter Entbehrungen und Opfern für die kommunistische Partei engagiert hatten, plötzlich einem „Antikomintern-Block“ angehörten. Dass all die Geständnisse und Todesurteile auf juristisch einwandfreie Weise zustande gekommen waren. Was ging denn bloß in ihren Köpfen vor?

Ich habe meine Eltern danach gefragt – nicht in Bezug auf die Große Säuberung, sondern auf die „Ärzteverschwörung“, Stalins letztes großes Wahnbild Anfang der 1950er Jahre. Damals lebten meine Eltern als Journalisten in Ostberlin. Was hatten sie gedacht, als sie die Artikel von der aufgedeckten „Ärzteverschwörung“ lasen? Hatten sie ernsthaft geglaubt, dass Hunderte, ja Tausende von Ärzten in einer groß angelegten Verschwörung die sowjetische Staatsführung vergiften wollten?

Mein Großvater Viktor, klar, der hatte das geschluckt. Aber meine klugen, aufgeklärten Eltern? Sie konnten mir die Frage nicht beantworten. Es war einfach kein klares Ja oder Nein aus ihnen herauszuholen. Anscheinend hatten sie nicht mit Überzeugung an eine Ärzteverschwörung geglaubt, sie aber auch nicht bewusst in Zweifel gezogen. Sie waren dem Konflikt aus dem Weg gegangen, indem sie einfach nicht darüber nachgedacht hatten.

Bei einem Außenstehenden würde das nicht funktionieren; doch fühlt man sich als Teil einer Bewegung und sieht man die Welt aus deren Perspektive, so ist es offenbar möglich, den Verstand gewissermaßen anzuhalten, wenn man auf Widersprüche stößt. Schon der achtzehnjährige Heinz Stern, der mit Erstaunen die vielen Verhaftungen im Hotel Lux konstatierte, muss schnell begriffen haben, dass man diesen Dingen besser nicht so genau auf den Grund ging, nicht vor anderen und auch nicht vor dem eigenen Gewissen. Hätte er den Verdacht geschöpft, die Vorgänge, die er hier beobachtete, könnten mit Terror und Unrecht zu tun haben, so wäre sein schönes kommunismusgläubiges Bild von der Sowjetunion erschüttert worden, und das durfte nicht geschehen.

Der Glaube ist es, der den unliebsamen Fakten den Einlass in die Gehirne verwehrt. Auch ein Christ muss mit seinem Glauben einiges an Absurditäten schlucken, und auch er wird besser nicht so genau hinterfragen, wie der Heilige Geist Maria schwängern konnte oder woraus Gott Himmel und Erde schuf – er wird einfach den Verstand blockieren, um zu glauben, was ihn zu glauben verlangt. Und die marxistische Weltanschauung – ich bin nicht die Erste, die das feststellt– trug in jenen Jahren ganz den Charakter einer strengen, sektenhaften Religion.

Kommunist zu sein, bedeutete nicht, in einer politischen Partei zu wirken, so wie wir das heute kennen. Es bedeutete einen Lebensinhalt, das Aufgehen der eigenen Persönlichkeit im Dienst an einer gewaltigen Mission. Die Kommunisten verstanden sich als Pioniere und Erbauer eines gänzlich neuen Universums. Sie behaupteten von sich, Atheisten zu sein, aber gläubigere Menschen hat es nie gegeben. Sie hatten ihr Dogma: eine strikte Parteilinie, die ihnen vorschrieb, wie sie das Weltgeschehen beurteilen sollten. Sie hatten ihre Gebote: die Parteidisziplin, die ihr Verhalten bis in den privaten Bereich hinein reglementierte. Sie hatten ihre Märtyrer, die sie in kulthafter Heiligenverehrung erhoben, und hatten ihre Ketzer, die „Abweichler“ vom alleinseligmachenden Kurs der Partei, die sie leidenschaftlicher hassten als die Andersgläubigen. Ihr Paradies war der Kommunismus. Und ihr Gott war Josef Stalin.

Liest man heute die Dokumente, die den Stalin-Kult belegen, vor allem die Gedichte *) aus jener Zeit, so fragt man sich einfach fassungslos, wie ein Mensch ein solches Übermaß an Verehrung auf sich ziehen konnte. Dass ein Volk in verblendeter Liebe jeder noch so absurden Eingebung seines Staatsoberhaupts freudig folgt und den Gipfel der Weisheit darin erblickt, kann überall auf der Welt passieren; in Deutschland und mit Adolf Hitler ist es definitiv passiert. Doch in Bezug auf Stalin nimmt sich das Wort Liebe fast noch schwach und harmlos aus. Man hat ihn überirdisch erhöht, man hat ihn als hehre Lichtgestalt gesehen. Stalin herrschte über die Massen wie ein alttestamentarischer Gott.

Wie ein solcher wurde er angebetet, und wie ein solcher wurde er gefürchtet. Immer ist die Liebe zu Gott gebunden an die Gottesfurcht. Je mehr die Menschen Gott zu fürchten haben, desto inbrünstiger wünschen sie ihn zu lieben. Sie lieben ihn, um sich des Schutzes seiner Allmacht zu versichern. Sie lieben ihn in der zitternden Hoffnung, ihn dadurch gnädig gegen sich zu stimmen. Wo er ihnen Gutes tut, werden sie ihn preisen und ihm überströmend danken. Und wo er in seinem unerforschlichen Ratschluss ein Strafgericht über sie verhängt, werden sie es ohne Murren ertragen und zum Anlass nehmen, seine Gebote künftig nur noch eifriger zu erfüllen. Gott hasst man nicht, wie immer er auch wütet. Gott kritisiert man nicht, auch wo der Sinn seines Tuns dem menschlichen Verstand verschlossen ist. Gefällt es Gott, ein Erdbeben zu senden, das ein paar tausend Menschen das Leben kostet, dann hat er dafür seine guten Gründe, über die es nichts zu rechten gibt.

Stalin hat seinen ergebenen Jüngern eine Menge Erdbeben gesandt. Und trotzdem wollten sie nicht von ihm lassen. Sie wussten genau, was in der Lubjanka und im Lefortowo-Gefängnis ablief. Aber desto vehementer klammerten sie sich an den Glauben, in einer guten und gerechten Welt zu leben, wo es keine Folter, keinen Antisemitismus und keine Justizwillkür gab.

Ein schönes Beispiel ist Johannes R. Becher, unter Deutschlands Dichtern der Rhapsode Stalins, der ihm die devotesten Hymnen schrieb. Doch auch Becher hat im Hotel Lux gewohnt, und ausgerechnet er hat mit besonderer Eindringlichkeit die Angst formuliert, trotz aller Devotion durch Gottes unergründlichen Ratschluss hinweggefegt zu werden:

 

Der Aufzug nächtlich. Aller Fragen bängste:
klopft es vielleicht heut nacht an deiner Tür?
Verschwinden, spurlos, ihr Verruchten Ängste.
Gewitterangst? Die Angst vor dir und mir.

 

Es wäre zu einfach, hier von Heuchelei und Doppelzüngigkeit zu sprechen. Vielmehr spiegelt der Widerspruch in Bechers Versen nur die Dualität von Furcht und Liebe, beide gleichermaßen ehrlich, die damals die meisten Kommunisten in Stalins Machtbereich beherrschte. Nur wenn man diese Dualität erkennt, kann man verstehen, warum sie die Säuberungen so demütig, so nahezu bereitwillig hinnahmen, sie mittrugen, auch auf die Gefahr hin, selbst zu ihren Opfern zu zählen. Es war nicht allein die Furcht, sondern auch die Liebe, die sie regierte. Der physischen Gewalt hätten sie vielleicht noch trotzen oder entfliehen können. Doch was wäre ihren Seelen geblieben, wenn sie sich aufgelehnt, sich abgewandt hätten? Die meisten von ihnen waren es seit ihrer frühesten Jugend gewohnt, in den Kategorien der Partei zu denken. Sie hatten viele Jahre ihres Lebens in die Parteiarbeit investiert, mit Einsatz, Herzblut, Selbstzerfleischung. Verloren sie die Partei, so verloren sie nicht nur die große Glaubensgemeinschaft, die dem religiösen Menschen Schutz und Halt gibt, sie verloren wirklich den Boden unter den Füßen, den ganzen Sinn ihrer Existenz. Selbst der Gulag war offenbar leichter zu ertragen als der Gedanke, dass sich der göttliche Stalin als Massenmörder erweisen könnte und das eigene Lebensziel als Schimäre.

Nur die wenigsten haben es vermocht, für sich einen Weg aus dieser Sektenwelt zu finden. Die Hartnäckigkeit, mit der die Überlebenden die Tatsachen verbogen und verleugneten, mag psychologisch verständlich sein, doch es fällt schwer, in praxi damit umzugehen. Es fällt sogar schwer, für sie das Mitleid zu empfinden, das man verfolgten und gequälten Menschen doch immer bereitwillig spenden will. Wer könnte wohl mehr Mitgefühl verdienen als die deutschen Opfer des Stalinismus, wem hat je eine Überzeugung soviel Leid, soviel Verfolgung von allen Seiten eingebracht, erst von den Nazis und dann auch noch von den Russen, zu denen sie vertrauensvoll geflüchtet waren? Doch so gern sie unser Mitgefühl in Anspruch nehmen, wenn es sich auf die Verfolgung durch das Naziregime bezieht, so verschämt und verärgert weisen sie es zurück, sobald von Gulag und Säuberung die Rede ist. Hier kennen sie auch keine Solidarität mit ihren eigenen Kameraden, die im Gulag starben. Eher sind sie bereit, sie zu Verbrechern zu stempeln, als zuzugeben, dass sie schuldlos einem Gesellschaftswahn zum Opfer fielen.

Aber hätten die Opfer nicht genauso gehandelt, wenn das Glück auf ihrer Seite gewesen wäre? Hing es nicht vom bloßen Zufall ab, ob jemand Opfer oder Täter wurde? Das ist auch so ein Gedanke, der dem Mitgefühl entgegensteht. Man will Opfer gern gut sehen und Täter böse, aber das funktioniert hier nur in seltenen Fällen. Die Absurdität der Situation im Moskau der 1930er Jahre bewirkte eine chaotisch-irrationale Durchmischung, ja teilweise sogar Personalunion von Tätern und Opfern.

Wer heute eifrig denunzierte und gegen die Trotzkisten geiferte, konnte morgen selbst in der Lubjanka landen; wer jahrelang im Gulag saß, ließ später diejenigen einsperren, die den Sozialismus in Zweifel zogen. Ich habe mit großer Anteilnahmeüber Leo Flieg recherchiert, den meine Großtante geliebt und den mein Vater als „feinen Kerl“ bezeichnet hat. Doch ich muss auch eines im Kopf behalten: Wäre Leo Flieg am Leben geblieben, so wäre er vielleicht, ja wahrscheinlich in die DDR gegangen, und dort wäre er vielleicht, ja wahrscheinlich ein verbohrter Dogmatiker und feister Großbonze geworden, den ich zum Kotzen gefunden hätte.

Oder nicht? Oder hätte es anders kommen können? Wäre der DDR-Sozialismus menschlicher, flexibler und intelligenter, wäre er durchführbar geworden, wenn ihn eine andere oder eine stärkere Besetzung getragen hätte? Wenn all die Tausende von deutschen Kommunisten, die im Zuge der Säuberung ermordet wurden, das Moskauer Exil überlebt und ihre Tatkraft in das neue Land eingebracht hätten? Aber nein, wie hoch auch immer ihre Zahl gewesen wäre, sie hätte niemals ausgereicht, um eine kommunistische Partei durch Wahlen demokratisch an die
Macht zu bringen.

Und was den qualitativen Aspekt betrifft: Selbst vorausgesetzt, dass es die „besten Köpfe“ der Partei waren, die Stalin abgeschlagen hat – schon an sich eine recht zweifelhafte Prämisse –, sie hätten nicht bewirken können, dass die Geschichte anders verlaufen wäre, als sie tatsächlich verlaufen ist. Auch sie hätten sich einfügen müssen in einen gesellschaftlichen Apparat, der die lebendige Wirklichkeit in starre Denkschablonen presst und an dem alles ehrliche Bemühen zerschellt.

Als ich ein Kind war, pflegte meine Mutter zu sagen: Der Sozialismus ist so gut, wie wir ihn machen. Aber schon in den 1970er Jahren habe ich das nicht mehr von ihr gehört. Es gab etliche Versuche von Gutgesinnten, noch bis ins Jahr 1990 hinein, den Sozialismus „besser“ zu machen, sein System mit Leben zu erfüllen. Doch ein System, das von vornherein auf Lüge und Gewalt beruht, das nur bestehen bleiben kann durch Lüge und Gewalt, das lässt sich niemals mit Leben erfüllen.

Die Lüge hat sich, wie bei jeder Religion, aus dem Wunsch ergeben, die Diskrepanz zwischen Weltbild und Wirklichkeit zu korrigieren; die Gewalt aber ist ein spezifischer und offen propagierter Teil der kommunistischen Theorie. Sie ist geradezu Voraussetzung für die ungeahnte Menschlichkeit, die der Kommunismus einmal freisetzen soll. Spätestens als Lenin 1918 das gewählte Parlament auseinanderjagen ließ, um seine „Diktatur des Proletariats“ zu etablieren, waren die Weichen für die praktische Umsetzung der kommunistischen Ideologie gestellt: Nicht durch Überzeugung, sondern durch Gewalt hat sich die Revolution ihren Weg zu bahnen. Durch Gewalt besiegt sie ihre Gegner. Durch Gewalt hält sie die eigenen Reihen zusammen.

Güte und Liebe werden später regieren, wenn der Kommunismus erreicht und seine Überlegenheit für alle klar erkennbar ist. Jetzt kommt es erst mal darauf an, die Macht nicht wieder aus den Händen zu geben, und dafür ist jedes Mittel recht.

Das Gewaltkonzept war damals nicht nur politisch von Erfolg gekrönt, es fand auch ideologisch Anklang bei den Linken in der ganzen Welt. Besonders die Jugend war begeistert von der bedenkenlosen Radikalität, mit der die Bolschewiki alle hergebrachten demokratischen Spielregeln brachen, um sich ihren Weg frei zu schlagen. Die Jugend liebt das Radikale; Gewaltfiktionen ziehen sie magisch an. Weg mit dem verlogenen demokratischen Mief! Weg mit dem weichlichen Pazifismus, der skrupulösen bürgerlichen Laschheit, die immerfort Bedenken trägt und nie die Kraft zum Handeln findet! Endlich macht eine Partei einmal Nägel mit Köpfen, endlich lässt sie ihren Worten konsequente Taten folgen, jetzt, sofort und nicht irgendwann!

Noch jahrzehntelang wird gerade die Brutalität der Revolution als eine Art „reinigendes Blutbad“ auch von bedeutenden Dichtern gefeiert. Das bekannteste Beispiel in dieser Hinsicht ist wohl „Die Maßnahme“ von Bertolt Brecht: die Geschichte eines jungen Kommunisten, der von seinen eigenen Leuten liquidiert wird, weil er zuviel Mitleid und zu wenig Parteidisziplin an den Tag legt. Als er die Maske des Apparates zerreißt und allen sein„nacktes Gesicht / Menschlich, offen und arglos“ zeigt, ist sein Todesurteil besiegelt – völlig zu Recht, wie der Dichter meint:

 

Furchtbar ist es, zu töten.
Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut.
Da doch nur mit Gewalt diese tötende
Welt zu ändern ist, wie
Jeder Lebende weiß.
Noch ist es uns, sagten wir
Nicht vergönnt, nicht zu töten. Einzig mit dem
Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern, begründen wir
Die Maßnahme.

 

Heute Mörder sein, um morgen Mensch sein zu können. Heute töten, um morgen das Leben zu gewinnen. Jeder, der sich in jenen Jahren auf das Weltbild des Kommunismus einlässt, ist mit diesem Ethos der Gewalt konfrontiert. Jeder, der Kommunist wird, weiß, dass er damit aus der bürgerlichen Welt heraustritt, dass er sich einer Partei verpflichtet, die Gewalt für unerlässlich, ja sogar für heldenhaft erklärt, auch Gewalt gegen die eigenen Leute, wenn sie nicht mehr so funktionieren, wie es die Partei verlangt.

Vor diesem Hintergrund ist der Stalinismus keine Perversion und kein Irrweg. Er ist einfach nur der Sturm, den man erntet, wenn man den Wind der Gewalt aussät. Es führt eine schnurgerade Linie von Lenins „Diktatur des Proletariats“ zur Großen Säuberung in den 1930er Jahren. Eine Staatsgewalt, die jedes Recht über Bord wirft, die keine Regeln als die von ihr selbst geschaffenen gelten lässt, muss früher oder später notwendig zu schrankenloser Willkürherrschaft führen.

Es ist kein Zufall, dass von allen möglichen Nachfolgern Lenins gerade Stalin an die Macht kam, der den höchsten Grad an Brutalität und Skrupellosigkeit besaß. Alle haben sie ihm zugejubelt, die glühenden Revolutionäre Europas, alle haben sie mit ihm geglaubt, dass der Einzelne gnadenlos auszumerzen sei, wenn er der „großen Sache“ im Wege steht. Und als der Große Terror sie ereilte, diese furchtbare Rache und Strafe der Geschichte, da wurden sie zu Opfern eines Systems, dessen Gewaltpotenzial sie selbst getragen und gefördert hatten.

Liegt hier der Grund für die Wut und den Ärger, den Onkel Manni angesichts der Thematisierung dieser Vorgänge empfand? Liegt hier der Grund für die Nibelungentreue, mit der die Kommunisten heute wie damals Stalins Terror herunterspielen oder gar verteidigen? Das ist nicht nur der Vorsatz, die Fassade zu wahren, nicht nur der menschlich verständliche Wunsch, das Unfassbare weit von sich zu weisen. Da waltet zuinnerst das Gefühl der eigenen Verstrickung in den Terror, das Gefühl, dass die Schande des Kommunismus auch die Schande jedes einzelnen ist, der sich zum Kommunismus bekennt. Nach außen scheint es, als sei dieser Zwiespalt niemandem bewusst gewesen, doch ich denke, die Sensibleren haben ihn hinter der Fassade schmerzlich gespürt.

Nochmals sei hier auf Johannes R. Becher verwiesen – das ist wahrlich ein Mann, in dessen Leben und Werk sich die ganze Widersprüchlichkeit des Kommunistseins im 20. Jahrhundert spiegelt. Er hat die DDR als Dichter und Kulturminister repräsentiert, hat den Sozialismus salbungsvoll verklärt und nach außen stets genau nach dem Klischee von einem DDR-Kommunisten agiert. Doch zur gleichen Zeit hat er in heimlichen Gedichten auch die dunkle Seite festgehalten, Schuld und Angst und Zerrissenheit, und allein schon weil er das thematisierte, wenn auch nur für die eigene Schublade, ist man geneigt, ihm seine scheußlichen Stalin-Gedichte zu verzeihen.

Es heißt immer, das Konzept des Kommunismus wäre an der Undurchführbarkeit der wirtschaftlichen Prämissen gescheitert, an der Hartnäckigkeit des Privateigentums, im Grunde also an der menschlichen Habgier. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Selbst wenn das kommunistische System wirtschaftlich effektiv geworden wäre, wenn es den Westen überflügelt hätte, wie seine Jünger noch bis in die 1970er Jahre hofften, es hätte ihm nichts mehr nützen können.

In seinem ideellen Anspruch ist der Kommunismus schon in den 1930er Jahren gescheitert, in der Phase, da er der Welt am stolzesten und mächtigsten erschien. Gescheitert an eben der Gewalt, der er einst seinen Durchbruch verdankte und ohne die er niemals denkbar war. Gescheitert in den Folterkellern der Lubjanka, in den Justizfarcen der Tribunale, in den nächtlichen Stiefelschritten auf den Gängen des Hotels Lux, die den Tod bedeuteten.

 

 

*)

 

Es wird ganz Deutschland einstmals
Stalin danken.
In jeder Stadt steht Stalins Monument.
Dort wird er sein, wo sich die Reben ranken,
Und dort in Kiel erkennt ihn ein Student.
Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert
seine Güte,
Und winkt zu sich heran ein scheues Reh.
In Dresden sucht er auf die Galerie,
Und alle Bilder sich vor ihm verneigen.
Die Farbentöne leuchten schön wie nie
Und tanzen einen bunten Lebensreigen.
Mit Lenin sitzt er abends auf der Bank,
Ernst Thälmann setzt sich nieder zu
den beiden.
Und eine Ziehharmonika singt Dank,
Da lächeln sie, selbst dankbar und bescheiden.
Wenn sich vor Freude rot die Wangen färben,
Dankt man dir, Stalin, und sagt nichts als „Du!“
Ein Armer flüstert „Stalin“ noch im Sterben
Und Stalins Hand drückt ihm die Augen zu.
Wer je wird angeklagt des Friedens wegen,
Aufrecht stehst du in dem mit vor Gericht.
Die Richter aber ihre Hände legen
Vors Auge, denn sie blendet soviel Licht.
Du trittst herein, welch eine warme Helle
Strömt von dir aus und was für eine Kraft!
Und der Gefangene singt in seiner Zelle,
Er fühlt als Riese sich in seiner Haft.
Du Freund der Völker, du, ihr allerbester,
Was je war rühmenswert, blüht dir zum Ruhm.
Es spielt, den Weltraum füllend, ein Orchester
Das hohe Lied von Stalins Heldentum.
In Stalins Namen wird sich Deutschland einen.
Er ist es, der den Frieden uns erhält.
So bleibt er unser und wir sind die Seinen,
Und Stalin, Stalin heißt das Glück der Welt.

Johannes R. Becher,
Danksagung (Auszug), 1953

Wenn du die Augen schließt und jedes Glied
Und jede Faser deines Leibes ruht –
Dein Herz bleibt wach, dein Herz wird
niemals müd;
Und auch im tiefsten Schlafe rauscht dein Blut.
Ich schau aus meinem Fenster in die Nacht;
Zum nahen Kreml wend ich mein Gesicht.
Die Stadt hat alle Augen zugemacht
Und nur im Kreml drüben ist noch Licht.
Und wieder schau ich, weit nach Mitternacht,
Zum Kreml hin. Es schläft die ganze Welt.
Und Licht um Licht wird drüben ausgemacht.
Ein einzges Fenster nur ist noch erhellt.
Spät leg ich meine Feder aus der Hand,
Als schon die Dämmrung aus den Wolken bricht.
Ich schau zum Kreml. Ruhig schläft das Land.
Sein Herz blieb wach. Im Kreml ist noch Licht.

Erich Weinert, Im Kreml ist noch Licht*, 1940

 

* Für mein Gefühl ist das die bestgelungene, die stimmungsvollste aller Stalin- Elogen. Raffiniert, wie der Geist Stalins, ohne dass sein Name fällt, über den Wassern beziehungsweise über dem nächtlichen Moskau schwebt. Erich Weinert (1890-1953) schrieb das Gedicht in dem berühmten „Haus an der Uferstraße“, wo seit den 1930er Jahren privilegierte Moskauer Bürger einen relativ hohen Wohnkomfort genossen, samt Panoramablick auf Moskwa und Kreml. In den Terrorjahren 1936-38 wurden hier, ähnlich wie im Hotel Lux, fast allnächtlich Verhaftungen durchgeführt. 250 Bewohner des Hauses - Altbolschewiki, Offiziere, Intellektuelle - fielen der Großen Säuberung zum Opfer.

 

 

 

   

Kommentar Al:

Eigentlich ist das Buch von Tanja Stern eine Familiengeschichte. Nebenbei aber erfährt man interessante Details über Moskau zur Zeit der Stalinschen "Säuberungen", aus den Anfängen der DDR und viele Geschichten aus der Zeit des "real existierenden Sozialismus". Das alles ist spannend und authentisch, weil Tanjas Eltern und Verwandte zu den Akteuren an vorderster Front gehörten.

Auch für Tanja ist es unbegreiflich, warum die Kommunisten den Stalinschen Terror klaglos ertragen und auch hinterher nicht hinterfragt haben. Das gleiche Problem taucht nach 1989 wieder auf: Warum ist die DDR sang und klanglos implodiert und warum fragt niemand von den ehemals so linientreuen Genossen nach den Ursachen dafür? In beiden Fällen sind es die gleichen Gründe, die in den Untergang geführt haben: Menschen glauben viel lieber an eine schillernde Vision und einen weisen Führer, als in der profanen Realität ihren eigenen Verstand zu benutzen. Und nach der Katastrophe hat niemand die Grösse, sich selbst ein massives Fehlverhalten einzugestehen.

Das hier zitierte Kapitel aus dem Buch von Tanja Stern fasst siebzig Jahre realen Sozialismus zusammen: "Der Kommunismus ist gescheitert an eben der Gewalt, der er einst seinen Durchbruch verdankte und ohne die er niemals denkbar war." Blinder Glaube und Gewalt - Eine Mischung, gegen die mit Aufklärung, Bildung und Demokratie nur schwer anzukämpfen ist.

 

Jürgen Albrecht, 12. Juni 2012
update: 15.06.2012

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