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Jeder ist gefangen in seiner Schicht

 

   
Beispiel I: Musikszene

Handlungszeit ist immer die Gegenwart
Andrea Moses inszeniert an der Staatsoper Stuttgart
Feature von Irene Constantin - 55 Minuten

Wozzeck putzt im Schützenverein, Lohengrin verkauft sich als Aushängeschild einer militanten Sekte, Turandot ist die machtbesessene Frontfrau einer TV-Show - Andrea Moses findet genau die wunden Stellen der Gesellschaft, in die die von ihr inszenierten Opern hineinpassen oder besser - zielen. Andrea Moses entfernt die Patina, die die Zeit seit der Entstehung und Inszenierungstraditionen über ein Werk gelegt haben. Die Leitende Regisseurin der Stuttgarter Oper hat ihr Handwerk an der Berliner Schauspielschule 'Ernst Busch' gelernt. Davon profitiert noch die Personenregie ihrer Musiktheater-Inszenierungen. Nach erfolgreicher Arbeit im Schauspiel begann sie in Meiningen mit 'Salome' und 'Elektra', es folgten Operninszenierungen in Weimar und Dessau, bevor sie der neue Stuttgarter Intendant Jossi Wieler in sein Team holte. Andrea Moses neueste Arbeit ist 'Don Giovanni'. Irene Constantin verfolgte die Schlussproben.

Quelle: www.dradio.de/dlf/vorschau/ vom 16- September 2012, 15:05 h

 

Beispiel II: Sprache wie im wirklichen Leben

Buch der Woche: Alison Louise Kennedy "Das blaue Buch"
Buchbesprechung Von Maike Albath - 25 Minuten

Alison Louise Kennedy kreist in ihrem neuen Roman "Das Blaue Buch" um Gefühle wie Angst, Hass, Wut - aber auch Glück und Begehren. Stimmen mit unterschiedlichen Perspektiven kommen zur Sprache. Die Erste umgarnt den Leser gerade zu.

"'Kleidung, die zu Ihnen gehört, die Ihre Gestalt angenommen hat - Oberflächen, die ein klein wenig von Ihrer Persönlichkeit aufgenommen haben…'
Ich sage nicht Aura. Habe ich nie gesagt, werde ich nie sagen. So einen Quatsch rede ich nicht. Mache ich nicht. Muss ich nicht. Ist auch so scheißschlimm genug. 
Und ich sage auch nicht Essenz. Und ich sage nicht Emanation. So einen Scheiß nehme ich nicht in den Mund. 
Peris Mund flüsterweit geöffnet, ihr Schrecken stumm, das Frösteln spürbar. Schlanke Dame, in den Dreißigern geboren, eine Zerbrechlichkeit und Offenheit, dass Arthur sie am liebsten umarmen, sie lachen sehen, mit ihr Jazz hören möchte, bis sie beide müde werden, und dann an der Bettkante sitzen und sie auf die Stirn küssen wie ein anständiger Sohn. 
Doch stattdessen mache ich das hier - ich hetze sie. 
'Wenn solche Dinge in unfreundliche Hände geraten - neidische, eifersüchtige, bösartige Hände - dann kann ein fähiger Leser Ihre Schwächen entdecken, kann mit Schadenszauber gegen Sie arbeiten.' Arthur macht eine Pause, bis sie ihn anschaut - ihr Blick flackert zwischen seinen Augen und Lippen hin und her - versucht zu entscheiden, wovor sie sich mehr verstecken muss. Und dann spricht er die drei kleinen, tödlichen Worte - 'Es tut mir leid.' Als wäre sie nicht mehr zu retten, auch nicht durch ihn. 
Es tut mir nicht leid. Ich bin ein Dreckskerl. Ein Arsch.
Und dann wartet er.
Eintausend und Arsch, zweitausend und Arsch, dreitausend und Arsch…
Während sie leise weint - ein ordentliches kleines Mädchen weint in einem großen Haus - und sie schaut zu ihm herüber, als wäre sie albern und wäre lieber tapfer und…"

Einfühlsam fördert Kennedy an verschrobenen Menschen liebenswerte Eigenschaften zutage, außerdem besitzt sie ein großes mimetisches Talent. Wie kaum eine andere Autorin ihrer Generation weiß die schottische Schriftstellerin Grenzerfahrungen in Sprache zu fassen, ohne dass es etwas Voyeuristisches bekäme. In jedem ihrer Bücher tauchen Strauchelnde und Gescheiterte auf, Sexsüchtige und Selbstmordkandidaten, Gefühlsextremisten, Sektenanhänger, Gewaltopfer. Arthur und Beth passen in diese Galerie. Der Gegenstand der Zauberei und Magie lässt sich aber auch noch anders deuten: Im Grunde findet die Autorin hier eine Metapher für das Erzählen selbst. Auch deshalb ist schon im ersten Kapitel des "Blauen Buches" vom Buch selbst die Rede, auch deshalb wird es zwischendurch thematisiert und taucht in der Schlusscoda erneut auf. Erzählen ist bei Kennedy ein heilender Prozess. Formal ist die Autorin auf der Höhe ihres Stoffes. Einerseits entwirft sie eine regelrechte Partitur aus den verschiedenen Stimmen, Blickwinkeln und Perspektiven, die sie ineinander blendet und kunstvoll verwebt. Dazwischen tauchen die inneren Monologe von Beth und Arthur auf, vom Fließtext durch Kursivschrift abgesetzt, und dann gibt es noch Akzente durch Begriffe im Fettdruck. Immer wieder nimmt einen die Sprache Kennedys gefangen: Sie braucht nur wenige Sätze, um so etwas wie Schönheit zu erzeugen. Es ist ein echtes Sprachgeschehnis. 

"Elizabeth kehrt ans Geländer zurück, sieht das Meer um sie herum Hügel aufwerfen, in Spalten aufreißen, Bruchlinien bilden, als wäre das Schiff in eine Schüssel aus schwarzem Glas gesperrt und würde unablässig gegen eine solche gläserne Höhe und Tiefe anhämmern."

Das syntaktische Gewebe ist mal komplex und ausufernd, dann wieder prasseln kurze Sätze auf uns ein, knappe Dialoge. Wie im wirklichen Leben zerfließen diese Gespräche aber auch, sind von Ähs und Verzögerungen durchlöchert, spiegeln die Stimmung der Beteiligten, die böse oder traurig sind, Dinge nicht deutlich aussprechen wollen und sie umso deutlicher untergründig mitteilen. Kennedy traktiert die Sprache wie ein Tischtennisspieler seinen Ball, schlägt sie vor und zurück und lässt sie durch die Luft springen, denn auch auf der Mikroebene hat die Autorin viel zu bieten. Es wimmelt von überraschenden Vergleichen. Beth schmuggelt ihren Mantel mit aus der Kabine "wie eine zerknüllte Schande". Ein Windstoß springt sie an "wie ein großer Hund" und die blanke Luft "schreit, singt, weint, wiegt sie hin und her".

An einer anderen Stelle fühlt sich Beths Kabine so an wie Dereks Schädel, "der von innen her glatt gerieben wird - abgestanden wie ein Kaninchenstall", heißt es. Seelische Befindlichkeiten spiegeln sich in Personifikationen. Der Wind "zerzaust Geräusche", sodass sie "unzuverlässig" klingen. Die Stille ist "brodelnd", das Wetter "wirft" sich auf dem Balkon herum. Dass diese Bilder auch auf Deutsch wirken, liegt allein an ihrem einfallsreichen Übersetzer Ingo Herzke, der für Kennedy eine federnde, plastische und zupackende Sprache erfindet. "Das blaue Buch" entwickelt eine große Spannung, und das hängt auch mit der schwierigen Liebe zwischen Beth und Arthur zusammen. Am vierten Tag der Überfahrt streckt Beth die Waffen. Während ihr Freund Derek marode das Bett hütet, sucht Beth Arthurs Suite auf. 

Mehr bei: www.dradio.de ...

 

Gemeinsamkeiten

Zwei Sendungen innerhalb von zwei Stunden. Zwei Features mit sehr unterschiedlichem Gegenstand. In der Musikszene geht es um eine Opern-Regisseurin, im Buch der Woche um die Rezension eines Romans. In beiden Fällen aber haben sich die Autoren tief in ihr Thema eingegraben. Sie haben keinen Blick mehr für die umgebende Welt, für sie gibt es nur noch die Oper oder das Blaue Buch. Nichts anderes ist mehr existent. Eine Welt ohne Andrea Moses und/oder Alison Louise Kennedy - UNVORSTELLBAR.

 

Fachsprache

Leider gibt es von der Musikszene keinen so ausführlichen Text wie für das Blaue Buch. Die Sprache der Musikszene aber ist genau so speziell, wie die der Literaturwissenschaft. In beiden Fällen wird eine Fachsprache verwendet, die niemand versteht, der nicht sein komplettes Leben der Oper oder der Literaturkritik verschrieben hat. In beiden Fällen reden die Leute am eigentlichen Publikum völlig vorbei. Sie reden nur für die fünf Spezialisten, die sich (manchmal) gerade noch verstehen und miteinander kommunizieren können. In vielen Fällen kommunizieren aber auch diese Fünf nicht wirklich miteinander, weil die Sprache nicht eineindeutig ist. Man glaubt sich vom Gegenüber verstanden, tatsächlich aber halten alle nur Monologe.

 

Subjektiv

Es wird beschrieben, bewertet, zitiert, hervorgehoben und argumentiert wie in den Naturwissenschaften. Dabei fällt der kleine Unterschied völlig unter den Tisch: Hier geht es nicht um objektive, naturwissenschaftliche Sachverhalte, hier geht es allein und ganz ausschliesslich um subjektive Meinungen. Es scheint menschlich zu sein, dass diese Tatsache gerade von denen ausgeblendet und verdrängt wird, die ausschliesslich subjektiv urteilen, gleichzeitig aber von ihrer eigenen Unfehlbarkeit völlig überzeugt sind. Kein Gedanke an etwaige Relativierungen! Das Paradebeispiel: Die Literaturkritiken von Marcel Reich-Ranicki.

 

Jeder in seiner Schicht

Exemplarisch ist an diesen Beispielen zu beobachten, wie jeder Mensch in seiner ganz speziellen Schicht agiert, ohne die Umgebung wahrzunehmen. Diese Schicht ist für ihn Welt und Universum. Es gibt nichts anderes als die Oper, die DNA-Typisierung, die Schalentiere, das Blaue Buch, die Polkurven, die Präkognition, das Auffinden von Exoplaneten oder das Nicotinamidadenindinukleotid, eigentlich Nicotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid genannt (abgekürzt NAD), das ein Hydridionen (Zwei-Elektronen/Ein-Proton) übertragendes Koenzym ist, das an zahlreichen Redoxreaktionen des Stoffwechsels der Zelle beteiligt ist.

Niemand merkt, wie abgehoben und weit weg von anderen Realitäten dieser Welt er sich mit seinem Fachverstand bewegt. Keiner sieht, dass er in einer ganz speziellen Schicht agiert, keinen Blick mehr für benachbarte Schichten besitzt und quasi in dieser, seiner Schicht gefangen ist. Nur selten ist man sich auch bewusst, wie interniert der Verstand im eigenen Körper und wie abhängig jeder von seinem Corpus ist. Der steuert im Normalfall im Hintergrund ohne die Beteiligung von Verstand und Bewusstsein die existentiellen Lebensprozesse. Eine Grippe - schon ist der Intellekt für alle Probleme ausgeschaltet, die nicht das direkte Überleben sichern.

Je länger sich jeder selbst seine Schicht optimiert, umsomehr verfestigen sich die Wertmassstäbe. Das Weltbild wird betoniert, die Urteile immer absoluter, Relativierung immer seltener. Niemand guckt mehr über seinen Tellerrand. Massstab ist allein die eigene Schicht. Niemand über 30 ist mehr in der Lage, seine Schicht zu verlassen, oder wenigstens wahrzunehmen, dass er in einer speziellen Schicht operiert. Je älter der Mensch wird, um so mehr ist er gefangen in seinem Weltbild, in seinem Habitus, seinem Verhalten, seinen Konventionen, in seinem Urteilsraster, seiner Zeit, seinem Raum, in seiner Schicht.

 

WARUM ??

Die Ursache für dieses Verhalten ist in der menschlichen Konstitution begründet: "Es ist nicht des Menschen Natur, vorzugsweise rational dominiert geistig zu arbeiten" (Johannes Müller). Im Normalfall denkt der Mensch nicht. Seinen Alltag bewältigt er mit Routine. Nur wenn es gar nicht mehr anders geht (wenn keine passende Routine vorhanden ist ...) schaltet er seinen Verstand ein. Und das nur, um die fehlende Routine zu produzieren!

Auch für dieses archaische, routinierte Verhalten gibt es eine einfache Begründung: Solche Routinen/Reaktionen erfolgen unbewusst über das Rückenmark, ohne dass der Verstand beteiligt ist. Es sind unwillkürliche Bewegungen. Sie laufen wesentlich schneller ab, als bewusste Entscheidungsprozesse. Beispiel: Der Frühmensch wurde zur Jagd durch Hunger motiviert und er hätte nicht lange überlebt, wenn er sich auf bewusstes Handeln verlassen hätte: Er wäre einfach viel zu langsam gewesen. Ein heutiger Mensch könnte kaum vernünftig Autofahren, sollte er dabei auf jede eintrainierte Routine verzichten.

Der Mensch richtet sich also deshalb so komfortabel in seiner Schicht ein, damit er möglichst wenig denken muss. Sein Wohlbefinden ist der Routine proportional, mit der er seinen Alltag bewältigt. Das spricht zwar nicht für die angebliche Krone der Schöpfung, aber es ist die Realität!

 

Parallel- Universen

Menschliche Gemeinschaften sind Menschenansammlungen,
die den Anschein einer geschlossenen Gruppe mit gleichen Interessen vermitteln
(Verwandte, Freunde, Eheleute, Geschwister, Vereine, Schulklasse, Parteifreunde ...).
Tatsächlich aber agiert jeder isoliert in seiner Schicht, merkt es aber (Gott sei Dank) nicht.
Jeder ist allein in seinem eigenen Universum.
Die Menschheit besteht aus unendlich vielen Paralleluniversen mit minimal gleichen Schnittmengen.
Milliarden natürlicher Automaten
leben parallel in der gleichen Realität
und spulen android ihr vorgegebenes Programm ab.

 

Sensation Seeker

Ein Artikel im SPIEGEL 40/2012: Sei ein Held - Sie fliehen vor der Routine des Alltags, laufen durch Wüsten, springen von Felskanten, durchschwimmen Meeresengen: Extremsport ist eine Massenbewegung geworden. Warum gehen Menschen über ihre Grenzen hinaus?

Meine Erklärung: Sensation Seeker versuchen ihrer Schicht zu entkommen! Wenigstens temporär.

Sensation Seeker

 

Alles wirr und unverständlich ...

... denn natürlich agiert auch Al in einer ganz speziellen Schicht: Ein riesiges, unbekanntes Universum ... für alle Anderen.

 

Das ...

... übergeordnete Thema sind die Natürlichen Automaten.

Vielleicht entwirrt sich damit einiges ... Oder ist das Gegenteil der Fall ?!

 

 

Jürgen Albrecht, 16. September 2012
update: 10.11.2012

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