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Wer war der "Heuristik-Müller" ...?
Ein Artikel in den INGENIEUR-NACHRICHTEN 1/2009

 

Systematische Heuristik - Heuristik-Müller

 

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Kalenderblatt "Heuristik-Müller"

Prof. Dr. phil. habil. Johannes Müller Chemnitz (1921 - 2008)
Begründer der Systematischen Heuristik (SH) und
Wegleiter einer Ingenieurmethodik

 

 

Johannes Müller hat sich ab Mitte der 60er Jahre mit der Arbeitsweise von Ingenieuren, insbesondere Konstrukteuren aus erkenntnistheoretisch-logischer Sicht befasst. Ziel war methodentheoretisch deren Arbeitsweise weiter zu entwickeln. Das erfolgte in enger Zusammenarbeit mit führenden Konstruktionswissenschaftlern der DDR, so Prof. Hansen, Ilmenau. Die zeitige Praxisumsetzung seiner Erkenntnisse (zugleich als „Experimentierfeld“) im Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS) der DDR mit dessen legendärem Leiter, Prof. Gilde, haben diese schwierige Thematik bald praktikabel und (gemessen an der deutlich gestiegenen Patentanzahl) erfolgreich gemacht.

 

Die SH  - erfolgreicher neuer Ansatz zur Rationalisierung gedanklicher Prozesse

Als "Systematische Heuristik" (siehe Wikipedia) wurden die ersten Anwendungserfolge auf dieser Basis (zu) breit popularisiert. Dem 1969 in der DDR geschaffene Modell eines neuen "Ökonomischen System mit Organisationswissenschaft, mehr wirtschaftlicher  Orientierung, Großforschungszentren,..."  kam die SH gerade Recht als Weg konsequenter Effektivierung wissenschaftlich-technischer Arbeit. Es entstand aus der Arbeitsgruppe Methodologie der TH Karl-Marx-Stadt die Abteilung Heuristik unter Leitung Prof. Müllers an der neu gegründeten organisationswissenschaftlich Akademie (AMLO). Von dieser Abteilung Heuristik wurde 1969-1972  in vier Großforschungszentren und darüber hinaus mit vielen mehrwöchigen Intensivkursen die methodische Qualifizierung von Ingenieuren in der industriellen Forschung und Entwicklung betrieben. Infolge der real vorhandenen Potenz der DDR erfolgte mit dem Wechsel in der SED-Führung auch der notwenige Wechsel des Schwerpunktes von der strategischen zur realen Entwicklung ("Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik"). Auch die Abteilung Heuristik wurde aufgelöst und in eine Arbeitsgruppe an der Akademie der Wissenschaften beim Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse  überführt. Unter Leitung Prof. Müller konzentrierte sie sich auf die Fortführung der Forschung zur heuristischen und Methodenkompetenz von Ingenieuren bis Anfang der 90er Jahre. Der Ansatz der "Informationsbedarfsermittlung" heuristischer Verfahren, aber auch die Weiterentwicklung der Konstruktionswissenschaft, Überführungsprobleme in die rechnergestützte Konstruktionstätigkeit u.a. waren  Schwerpunkte der kontinuierlichen Forschung, die 1990 mit dem Buch "Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften  Systematik-Heuristik-Kreativität" [Springer Verlag] eine wertvolle Auswertung und Ergebniszusammenstellung erbrachte.

 

Und der resultierende Nutzen?

Was ist aus der Arbeit dieses äußerst fleißigen, überzeugenden und gründlichen Wissenschaftlers mit strikter Anwendungsorientierung geblieben? Eine breite Palette von Veröffentlichungen - von der "Programmbibliothek zur SH für Ingenieure und Naturwissenschaftler" über  Beiträge zur Konstruktionswissenschaft bis zur "Methodenanwendung" stellt die gefundenen Erkenntnisse bereit. U. a. hat Müller die Systemwissenschaftliche Arbeitsweise (SWAW) und ihre Begriffswelt berücksichtigt und eingeführt. Dabei hat sich die Technik der Schicht- und Schrittübergänge als methodisch geschickt und effektiv erwiesen. Das Programm zur Präzisierung von Aufgabenstellungen ("A 2-Programm", die legendäre "black-box") wurden in den 70er Jahren weit verbreitet. Von den ca. 25 Mitarbeitern der Abteilung, aus der 10 Hochschullehrer hervorgingen, darunter sechs in eigenständiger Lehre, Weiterbildung, Anwendung und Praxis erfolgreiche Professoren, und anderen Multiplikatoren wurden nachfolgend in zahlreichen Gebieten (Konstruktionswissenschaft, Designmethodik, Fachbereiche der Ingenieursdisziplinen, Leitungswissenschaften u.a.) Weiterentwicklungen und Anwendungen betrieben. Die Erkenntnisse Müllers finden sich heute in vielen Bibliotheken der Ingenieurdisziplinen genügend breit wieder und haben – wenn auch mit deutlich unterschiedlicher Intensität die Konstruktionswissenschaftler in Ost und West und deren Publikationen der Jahre seit 1970 mit  beeinflusst.

Die sich in den 70er und 80er Jahren verbreiteten "Erfinderschulen" konnten auf das von der SH aufbereitete Verständnis von der Trainierbarkeit, Rationalisierungsmöglichkeit und –notwendigkeit ingenieurtechnischer Arbeit und die Mitwirkung vieler Heuristiker aufbauen. Sie nutzen viele Elemente der SH. Ihre heutigen Autoren im Osten haben oft die Heuristik als Vorläufer und Anreger. Die "Erfinderschulen" waren und sind - wie die Praxis heute zeigt – einfacher umzusetzen als die relativ umfassende SH. Durch die Fokusierung auf das "Erfinden" im Umfang eingeschränkter als die sehr breite Konstruktionswissenschaft/SH und unter stärkerem "Leidensdruck" bezüglich Erfindungsdurchbruch und Gehen neuer Wege sind sie auch heute in der Anwendungspraxis* vertreten. Bei den anspruchsvollen Kreativitätstechnikseminare der Bauakademie, die national und international nach 1985 unter breiterer Einbindung von Psychologen wirksam realisiert wurden, sind hier bedeutende Anteile der Müllerschen Arbeiten zu nennen.

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Darunter besonders solche Formen, die sich mit dem ARIS oder TRIS befassen
(Algorithmus bzw. Theorie zur Lösung erfinderischer Aufgaben - aus dem russischen, nach Altshuller bzw. Nachfolger)

 

Wie weiter?

Müller hat mit seinen Arbeiten zu der methodischen Seite der gedanklichen Arbeit und deren Rationalisierung wertvolle Erkenntnisse bereit gestellt. Leider werden die aus gründlicher Forschungsarbeit mit einer Kapazität von ca. 200 "Mann- bzw. Frauenjahren" von ihm oder unter seiner Leitung hervorgegangen Aussagen auch negiert, oft weil sie zu wenig bekannt sind und weil nicht mehr weiter gearbeitet wird. Daraus folgt, dass z. B. in der Literatur Aufwände und Ansprüche getätigt werden, die die Erwartungen nicht erfüllen können und damit der weiteren Vervollkommnung der ingenieurtechnischen Arbeit hinderlich sind. Auf die weitere, auch methodische Vervollkommnung der Ingenieurarbeit darf angesichts der neuen Herausforderungen nicht verzichtet werden. Wie beim damaligen Einstieg in die SH hat heute wieder für den Innovations-Ausweg aus der Krise die Effektivierung der Ingenieurarbeit ganz aktuelle Bedeutung.

In seinem oben genannten Werk zieht Müller Schlussfolgerungen nach 30-jähriger Forschungsarbeit. Die Arbeitstechniken der gedanklich Tätigen, insbesondere der Ingenieure "ist zunehmend durch die Anwendung von systematischen Problemlösungsmethoden mit und ohne Rechnereinsatz gekennzeichnet. Grundlagen für den Wandel von stärker intuitiv betonten und auf Erfahrung beruhenden Vorgehen zum mehr methodischen, rechnergestützten Arbeiten sind die Analysen bewährter Arbeitsmethoden ...". Dabei haben sich viele Methoden, Ansätze und Programmsammlungen und andere Formen (Kreativitätstechniken usw.) bewährt, wenn sie für geeignet adaptives Anwenden gestaltet sind. Bereits mit wenigen Methoden werden beachtliche Wirkungen erzielt. Die Konstruktionsmethodik und eine Methodologie der Technikwissenschaften wurden durch viele Erkenntnisse und Werkzeuge aus dem Hause Müller deutlich weiterentwickelt. Eine vermeintlich heute gespürte Verringerung der Forschung auf diesem Gebiet sollte beunruhigen.

 

Sein Fazit

In seiner letzten zusammenfassenden Arbeit [Akzeptanzprobleme in der Industrie, ihre Ursachen und Wege zu Ihrer Überwindung in: G. Pahl Psychologische und pädagogische Fragen beim methodischen Konstruieren 1994 Verlag TÜV-Rheinland Köln] stellt Müller fest, dass Ingenieure - wie alle Problemlöser  - versuchen, ihr Verhalten zu optimieren. Dabei wenden sie selbstverständlich Methoden an, weil sich ihre Probleme "nicht außerhalb geordneten Vorgehens lösen" lassen. Es geht  aber nicht nur um extern bereitgestellte, sondern auch um vielfältig erworbene und im "Inneren" verfügbare Methoden, die durchaus auch z. B. dem Alltagswissen zugeordnet werden können. Für die Akzeptanz der extern bereitgestellten Methoden kommt es folglich auf die "innere Schnittstelle" zwischen beiden an, wie sich Bedarf, Situation, Umstände u. a. gestalten. "Praktiker haben keine Akzeptanzschwierigkeiten gegen über Methoden und Methodik, aber sie müssen beim Gebrauch die ihnen gemäße 'Gangart' anwenden, individuelle Ausprägungen benutzen und so verfahren dürfen, wie sie 'das Zeug dazu haben'. Nur dann wird es auch effektiv."

Deshalb ist auch nach Müller "Methode" erweitert zu definieren, nicht nur als Menge von Vorschriften, sondern als Regulativ, was einen geordneten Vollzug einer gedanklichen Handlung sicherstellt (also nicht Regelstrecke, sondern Regelprogramm). Methoden müssen folglich nicht vollständig vorgegeben sein, komplett aktualisiert oder sequentiell abgearbeitet werden. Das schließt ihre logisch-systematische Darstellung nicht aus (z. B. für Einsteiger als Methodenbaukasten), aber jeder Nutzer muss dann diese Methoden/Methodik "herunterbrechen" können "fall-, situations- und vor allem personenspezifisch".

So wissen wir heute für gedankliche Arbeitsprozesse: das richtet sich eindeutig gegen einen generellen Geltungsanspruch von Methoden (z.B. beim TRIS), aber auch gegen zu detaillierte Vorgaben (die Akzeptanz der auf ca. 100 Programm erweiterten 3. Programmbibliothek zur SH war geringer als die mit ca. 30 Programmen). Daraus folgt auch, man kann die Bearbeiter in schöpferischen Prozessen "nicht 'programmieren' auch nicht heuristisch".

Abschließend sei zitiert: Konsequenz ist: "Methodik darf nicht versuchen, den Praktiker zu steuern, sie kann sich bemühen zu stimulieren. Wir müssen prüfen, ob für die Gestaltung von Methodik für die Praxis schon eine entsprechend tragfähige Orientierung vorliegt."

 

Prof. Dr. Stanke in Absprache mit ehemaligen Mitarbeitern der Abteilung Heuristik

 

Prof. Dr. Stanke, Dezember 2008
update: 15.12.2008

 

 

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Kopie aus Weblog.al
Mai 2008

Der "Heuristik-Müller" ist tot

 

Prof. Dr. Johannes Müller im Februar 1972
Prof. Dr.-phil. Johannes Müller am 28. Februar 1972

 

Todesanzeige Prof. Dr. Johannes Müller

 

Heute hat mir ein ehemaliger Heuristiker diese Todesanzeige geschickt, die am 3. Mai 2008 in der Freien Presse Chemnitz veröffentlicht worden ist. Prof. Dr.-phil. Johannes Müller (MJ) ist am 9. April 2008 im Alter von fast 87 Jahren gestorben. Prof. Müller hat am Heuristiker-Treffen im November 2007 noch teilgenommen und zum Abschied gesagt: "Das wird wohl das letzte Mal gewesen sein." Wir wussten, dass es ihm gesundheitlich nicht gut ging. Seinen klaren Verstand aber hat er bis zuletzt behalten. Ich war mit ihm verabredet. Seit Februar habe ich auf seinen Anruf gewartet. Er hatte im Dezember 2007 vorgeschlagen, 36 Jahre nach dem Radiosender Skandal-Tschawtschanitze-Jerewan, noch einmal in Form eines Interviews über die Systematische Heuristik zu resümieren. Das ist uns zu spät eingefallen. Sein schneller Tod hat uns alle überrascht.

MJ hat mein berufliches Leben stark beeinflusst. Ohne seine Methodik hätte ich mir als Wissenschaftler und Manager bei vielen, sehr komplexen Problemstellungen, die Ohren gebrochen! Schriftliche, intensive und teilweise konträr geführte philosophisch-methodische Diskussionen mit MJ in den 80-er und 90-er Jahren haben mein Weltbild geprägt. Danke.

Prof. Dr. Johannes Müller hat in den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Methodensystem der Systematischen Heuristik entwickelt. Sein ganzes Leben hat er sich um eine "Technologie der geistigen Arbeit" bemüht und auf diesem Forschungsfeld wesentliche Beiträge geleistet und veröffentlicht. Die Quintessenz seiner Erkenntnisse hat er im Jahr 1994 in der These zusammengefasst: "Es ist nicht des Menschen Natur, geistig zu arbeiten." Die Bedeutung dieses Satzes muss erläutert werden: Mehr ... Die neueren Ergebnisse der Hirnforschung haben Sachverhalte über das menschliche Verhalten und Denken bestätigt, die Prof. Müller bereits vor 30 Jahren als Methodologe und Konstruktionswissenschaftler formuliert hat.

Prof. Dr. Johannes Müller hat sich um das menschliche Denken verdient gemacht.

Jürgen Albrecht, 06-Mai-2008 22:37

Zum Original ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Al / update: 27.02.2009

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