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Marxismus 2000

 

 

 

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Marxismus 2000, Nachtrag Meerweg

Kritik dazu, Albrecht

 

Autor dieses Textes ist
M. V. Meerweg

Dieser Text wird unverändert und ungekürzt wiedergegeben.
Es handelt sich ausschliesslich um die Positionen dieses Autors.
Jürgen Albrecht identifiziert sich ausdrücklich NICHT
mit den von Meerweg vertretenen Auffassungen!

 

 

 

 

„Marxismus 2000“ enthält die wesentlichen Erkenntnisse von Karl Marx und Friedrich Engels über die Entwicklung der Menschheit seit dem Entstehen der Lebensweise der ursprünglichen asiatischen Zivilisation, vor allem aber seit der griechisch-römischen Antike. Ursprünglich hatten Marx und Engels dem Klassenkampf entscheidende Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung beigemessen. „Alle Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen“, heißt es im „Kommunistischen Manifest“ von 1848.

Demnach wäre die Sklavenhaltergesellschaft maßgeblich durch den Klassenkampf der Sklaven, die Feudalgesellschaft durch den Klassenkampf der Bauern untergegangen, und für die kapitalistische Gesellschaftsformation sollten die Fabrikarbeiter der „Totengräber“ sein, im weiteren Sinne das „Proletariat“.

In der konkreten Geschichte kämpften allerdings Völker und Reiche gegeneinander, und zwar um Ressourcen, wie wildreiche Waldgebiete, fischreiche Gewässer, Acker- und Weideland, um befestigte Städte und die in ihnen aufgehäuften Schätze und Kostbarkeiten, schließlich um Bodenschätze, aber auch um Sklaven und Bauern. Die konkrete Geschichte ist ein einmaliger Prozess, in dem bestimmte „historische“ Ereignisse und Persönlichkeiten eine besondere Rolle spielen. Betrachtet man die Weltgeschichte insgesamt, so ist die Wirksamkeit historischer Persönlichkeiten und Ereignisse, wie etwa diejenige von Kriegen und von den Feldherren dieser Kriege, in der Vergangenheit stets räumlich und zum Teil auch zeitlich begrenzt gewesen. In der Antike und selbst noch im Mittelalter hat kein einziger Mensch die wirkliche Weltgeschichte gekannt, sondern allenfalls die Geschichte einiger Völker, die in einer bestimmten Region, wie zum Beispiel der Mittelmeerregion, miteinander lebten und handelten sowie immer wieder gegeneinander auch Kriege führten. Noch im Jahre 1492 glaubte Christopher Kolumbus in Indien zu sein, als er einige dem amerikanischen Kontinent vorgelagerte Inseln mit seinen Schiffen von Spanien aus erreicht hatte. Die Geschichte ganz Amerikas und fast ganz Asiens war zu jener Zeit in Europa gänzlich unbekannt wie auch umgekehrt. Es gab damals also objektiv eine Weltgeschichte, aber noch nicht das Bewusstsein von einer Welt, von einer Menschheit und ihrer Geschichte.
Das änderte sich in den darauffolgenden 400 Jahren grundlegend, jedenfalls für die Europäer, die mit ihren Schiffen nach und nach auch die entferntesten Teile der Erdoberfläche erkundeten und teilweise eroberten. Zu Lebzeiten von Karl Marx und Friedrich Engels, also im 19. Jahrhundert, hatte sich die Universalgeschichte oder Weltgeschichte als Wissenschaftsdisziplin bereits etabliert. Marx und Engels selbst waren aber keine Universalhistoriker. Sie waren weniger an der Geschichte selbst als vielmehr an ihren Gesetzmäßigkeiten interessiert. Diese erforschten sie von Europa aus, und dafür genügte ihnen weitgehend ein „eurozentrisches“ Weltbild.

Die vorliegende Anleitung zur Aneignung des Marxismus geht davon aus, dass ein bestimmtes historisches Wissen den Lesern bereits in der Schule vermittelt wurde, also Bestandteil ihrer Allgemeinbildung ist. Dieses historische Wissen sollte im Vergleich mit dem, über das Marx und Engels vor mehr als einhundert Jahren verfügen konnten, einem deutlich höheren wissenschaftlichen Forschungsstand entsprechen. Allerdings diente Marx und Engels die konkrete Geschichte ja auch nur als Beispiel und Beleg für ihre aus dem konkreten Geschichtsverlauf abgeleiteten wissenschaftlichen Verallgemeinerungen. Es geht hierbei zunächst um die gesetzmäßige Abfolge der Gesellschaftsformationen Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus, die sich jeweils in einer bestimmten Weltregion zuerst entwickelten und sich zumeist auch dort zur vollen Reife entfalteten. Andere Weltregionen blieben jeweils in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung zurück, so dass auf der Erde insgesamt seit der griechisch-römischen Antike stets mehrere Gesellschaftssysteme zeitgleich nebeneinander existierten. Ungeachtet dieses Nebeneinanders verschiedener Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft kann für die Weltgeschichte insgesamt eine aufsteigende Entwicklung konstatiert werden. Der gesellschaftliche Fortschritt in einer Region unserer Erde ist zugleich ein Fortschritt für die Menschheit. Die Evolution der gesellschaftlichen Verhältnisse schreitet also mit dem Ablauf der Zeit voran, und sie dehnt sich zugleich räumlich allmählich über die gesamte Erdoberfläche aus, ausgehend von bestimmten Hotspots der gesellschaftlichen Evolution. Das waren in der Vergangenheit immer die Zentren der Zivilisation und der Bevölkerungsverdichtung, heute also die Zentren der Urbanisierung. Diese Zentren des gesellschaftlichen Fortschritts „wanderten“ mit der Zeit, sie verschoben sich in Europa zum Beispiel aus dem Mittelmeerraum nordwärts, dann westwärts über den Atlantischen Ozean nach Nordamerika; allgemein, wie in Teilen Asiens und in Australien, aus dem Binnenland an die Meeresküsten, an die Mündungen schiffbarer Flüsse.

Auch bei diesen Wanderungsbewegungen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse über den besiedelten Teil der Erdoberfläche müssen wir zwischen der wissenschaftlichen Erzählung der konkreten Geschichte unterscheiden, deren Verlauf einmalig und unwiederholbar ist, sowie andererseits der Ausbreitung des gesellschaftlichen Fortschritts über die Erdoberfläche. Zwei Beispiele dafür sind die Völkerwanderungen der Spätantike, unter deren Einfluss sich der Niedergang des Römischen Reiches vollzog, und die den geographischen Entdeckungen folgenden kolonialen Eroberungen großer Teile der Welt durch europäische Mächte vom Beginn der Neuzeit bis weit hinein in die kapitalistische Gesellschaftsformation. Die an den Völkerwanderungen hauptsächlich beteiligten germanischen Stämme sind überwiegend untergegangen, aber sie hinterließen eine bleibende Spur in der Weltgeschichte dadurch, dass sie die Sklavenhaltergesellschaft des antiken Römerreiches rund um das Mittelmeer nach und nach zertrümmerten. So konnte sich nördlich und westlich der Alpen anstelle einer von den Römern angestrebten Ausbreitung der Sklavenhalterordnung, von den Römern unbehelligt, der Feudalismus entwickeln. Das feudale Lehenswesen, verbunden mit der Ausbeutung abgabenpflichtiger und zu unentgeltlichen Arbeitsleistungen für den Adel verpflichteter Feudalbauern erwies sich als der Sklaverei überlegen, zumal es in den größeren Städten der feudalen Königreiche und Fürstentümer weder Sklaven noch unfreie Feudalbauern gab. Der Anteil der persönlich freien Menschen an der Gesamtbevölkerung nahm im Feudalismus deutlich zu. Diese Zunahme an persönlicher Freiheit ist ein wichtiges Kriterium für den gesellschaftlichen Fortschritt. Der europäische Feudalismus war aber nicht nur der Sklavenhaltergesellschaft der griechisch-römischen Antike überlegen, sondern auch den despotischen Staaten Asiens sowie Mittel- und Südamerikas. In diesen hemmte die sogenannte asiatische Produktionsweise weiterhin die ökonomische Entwicklung, während sich in den europäischen Städten, gestützt auf eine differenzierte handwerkliche und alsbald auch Manufakturproduktion ein freies Marktwesen und damit verbunden die Geldwirtschaft zunehmend durchsetzten.

Die Geschichte des Kolonialismus, der kolonialen Eroberungen der Europäer in der gesamten übrigen Welt, führte unmittelbar zum Untergang der dort bislang bestehenden, vergleichsweise rückständigen Gesellschaftsordnungen. Dies war einer der Grundzüge der Kolonialisierung, der sich vielerorts wiederholte. Die in den Kolonien von den kolonialen „Mutterländern“ etablierte gesellschaftliche Ordnung enthielt  einerseits Momente der Sklaverei, andererseits aber auch der feudalen bzw. kapitalistischen Ordnung der „Mutterländer“. In den Kolonien nahm das Sozialprodukt erheblich zu, das Mehrprodukt eigneten sich jedoch die Mutterländer bzw. deren herrschende Klasse an, wie das auch in der römischen Antike schon der Fall gewesen war. An diesen beiden Beispielen – den sogenannten Völkerwanderungen und den kolonialen Eroberungen – kann man unschwer erkennen, wie sich bestimmte allgemeine Wesenszüge geschichtlicher Prozesse in der ansonsten einmaligen und unwiederholbaren konkreten Geschichte dennoch manifestieren.
Die historische Leistung von Karl Marx und Friedrich Engels bestand nun darin, eine bestimmte gesetzmäßige Abfolge historischer Erscheinungen und Prozesse in verallgemeinerter Form entdeckt zu haben, nämlich die Abfolge der Gesellschaftsformationen. Die Asiatische Produktionsweise steht historisch am Anfang der Zivilisation, gefolgt von der griechisch-römischen Antike und der europäischen Feudalgesellschaft. Die griechisch-römische Sklavenhaltergesellschaft hat sich der asiatischen Despotie gegenüber als durchsetzungsfähig erwiesen, aber nur im Raum rund um das Mittelmeer. In der übrigen Welt bestanden weiterhin Urgesellschaft und asiatische Despotie. Auch hier gab es einen gewissen gesellschaftlichen Fortschritt, der aber keine neue Qualität der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirkte. Da Marx und Engels die Weltentwicklung aber von dem damals bereits kapitalistischen Europa aus betrachteten, fiel ihnen die Erkenntnis der Hauptlinie des gesellschaftlichen Fortschritts der Menschheit gleichsam in den Schoß. Urgesellschaft, Asiatische Lebensweise, griechisch-römische Antike, Feudalismus und – seinem Ursprung nach europäischer – Kapitalismus bilden die aufeinander folgenden Gesellschaftsformationen der Menschheit. In ihnen manifestiert sich die menschliche Evolution auf gesellschaftlicher Ebene.

In der konkreten Geschichte der Menschheit spielen Klassenkämpfe eine große Rolle als eine Triebkraft für begrenzte gesellschaftliche Veränderungen. In den Klassenkämpfen liegt aber nicht die Hauptursache für den Übergang von einer Gesellschaftsformation zur nächsthöheren, jedenfalls nicht im Kampf der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der Feudalbauern gegen den Feudaladel, der Arbeiter gegen die Kapitalisten. Nach der Niederlage der demokratischen Revolution von 1848/49 in Deutschland, in deren Folge der Bund der Kommunisten zerschlagen wurde und seine Mitglieder größtenteils als politische Gefangene für viele Jahre eingekerkert wurden, brauchte Karl Marx fast ein ganzes Jahrzehnt intensiver individueller Forschungsarbeit, um in seinem Londoner Exil die wirkliche Ursache des gesellschaftlichen Fortschritts wissenschaftlich unanfechtbar herauszuarbeiten.

Er fand diese Ursache in der Wechselwirkung zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen. Die darauf beruhende gesellschaftliche Umgestaltung war allerdings ein komplexer Prozess mit vielen Wechselwirkungen. Zum einen bilden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zusammen die Produktionsweise einer Gesellschaft und ihre ökonomische Basis, ohne die sie nicht existieren, nicht überleben kann. Zum anderen „erhebt“ sich über der gesellschaftlichen Produktion, dem „Stoffwechsel mit der Natur“, ein Überbau in Form der Staatsmacht, einschließlich der Justiz und der Gesetze selbst. Hierzu gehören im weiteren Sinne auch Kultur, Religion und Wissenschaft, das Erziehungswesen, das gesamte Brauchtum in den Beziehungen zwischen den Generationen, zwischen Mann und Frau, schließlich das gesellschaftliche Bewusstsein, das von der jeweils herrschenden Klasse dominiert wird, im Widerspruch dazu das Bewusstsein der unterdrückten Klasse bzw. derjenigen Klasse, die in der nächsthöheren Gesellschaftsformation an die Macht gelangen wird. Basis und Überbau bilden eine Einheit, aber auch einen Gegensatz, da die ökonomische Basis den weitgehend „unproduktiven“ Überbau tragen muss und davon auch „überfordert“ werden kann. Der Überbau schützt andererseits die Gesamtgesellschaft vor zerstörerischen Angriffen und Übergriffen durch die Nachbarn und vor der Selbstzerstörung durch anarchistische Gewalt und parasitären Missbrauch von Gemeinschaftsleistungen, wie zum Beispiel der Wasserversorgung und er sorgt für die Reproduktion bzw. erweiterte Reproduktion der „Hauptproduktivkraft Mensch“. Unter letztere Aufgabe fällt nicht nur das Bevölkerungswachstum an sich, sondern auch Schulbildung, höhere Bildung und allgemeine Berufsausbildung, der Schutz der Bevölkerung vor Seuchenzügen und sogenannten „Volkskrankheiten“, eine gewisse gemeinschaftliche Vorratshaltung. Bereits in den frühen Zivilisationen des Altertums, wie etwa in Ägypten, wurden auf diese Weise auch wichtige ökonomische Funktionen durch den Staat ausgeübt, zum Beispiel beim Bau von Bewässerungssystemen, in der Wasserverteilung, bei der Einspeicherung beträchtlicher Nahrungsmittelvorräte für eine absehbare Notsituation oder Katastrophe, auch für den Fall einer Belagerung im Verlauf eines Krieges. In der Römischen Antike kam der Bau befestigter Fernstraßen sowie von Aquidukten zur besseren Trinkwasserversorgung der Städte hinzu. Der Staat unterhielt mehrere Stehende Heere in Form der Römischen Legionen. In den Städten, vor allem in der Metropole des Reiches, wurden zahlreiche repräsentative Bauwerke durch den Staat und die städtischen Kommunen errichtet.

Im Vorwort seiner Arbeit „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1859 ist es Karl Marx gelungen, zum ersten Mal in der Weltgeschichte die soeben angedeuteten gesetzmäßigen Zusammenhänge von ökonomischem und gesellschaftlichem Fortschritt in gedrungener und systematischer Form nach der Art einer „Definition des Historischen Materialismus“ zu formulieren. Es geht bei dieser Definition aber nicht nur um die materialistische Herangehensweise an den weltgeschichtlichen Prozess, sondern vor allem auch um dessen Dialektik, um die Bewegung der Widersprüche zwischen den Hauptelementen des gesellschaftlichen Seins, wie eben Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Basis und Überbau, der Widersprüche zwischen Sein und Bewusstsein, um den Reifegrad einer „Epoche sozialer Revolution“ und schließlich um die gesetzmäßige Abfolge der Gesellschaftsformationen vom Beginn der Zivilisation bis zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Die Marx’sche Definition lautet ungekürzt:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher entwickelt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.“

Achtung! – liebe progressive Gutmenschen des 21. Jahrhunderts. Bei aufmerksamem, verstehenden Lesen obiger Definition sollte euch aufgefallen sein, dass Karl Marx schon vor über 150 Jahren nicht nur die gesetzmäßige Abfolge von vier ökonomischen Gesellschaftsformationen bis hin zum Kapitalismus dargestellt, sondern auch aus der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen nachvollziehbar erklärt hat. Rund einhundert Jahre lang waren sich Abertausende und schließlich sogar Millionen dieser historischen Wahrheit bewusst. Wenn ihr allerdings seit den 1990er Jahren in Deutschland die Schule besucht habt, habt ihr nichts mehr von diesen Zusammenhängen zwischen gesellschaftlicher Produktion und Gesellschaftsordnung gehört. In rund zweihundertvierzig Stunden Geschichtsunterricht bis zur zehnten Klasse oder knapp fünfhundert Stunden bis zum Abitur hat man euch diese wissenschaftliche Wahrheit systematisch  verschwiegen. Gewiss. Die Geschichte selbst ist ein einmaliger, unumkehrbarer Prozess, wie zum Beispiel auch das Leben eines einzelnen Menschen. Man kann die Geschichte durchaus in solcher Art und Weise erzählen, dass sich keine oder nur willkürlich ausgewählte Lehren aus ihr ableiten lassen. Bedenkt aber, dass man euch mit Hilfe einer fatalistischen Geschichtsbetrachtung zu willenlosen Gefolgsleuten der Reichen und Mächtigen machen will, die angeblich schon immer die „Herren“ der Geschichte gewesen sein sollen und denen man daher auch das Regieren, das „Herrschen“ widerstandslos überlassen solle. Euch will man durch dieses Nichtwissen wichtiger historischer Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten entmündigen. Eure Schulkenntnisse von der Geschichte des eigenen Landes oder auch fremder Kulturen und Reiche entsprechen dem wissenschaftlichen Forschungsstand. Sie sind damit ein gutes Fundament für ein wissenschaftliches Geschichtsbewusstsein. Aber das eigentliche, das theoretische Fundament dafür hat euch der Geschichtsunterricht nicht mitgeliefert. Das müsst ihr euch nun als junge Erwachsene erst nachträglich aneignen. Diese Aneignung eines wissenschaftlichen Geschichtsbildes ist nicht übermäßig schwierig, aber einige Stunden eurer Lebenszeit solltet ihr schon dafür einplanen. Ich kann euch nur raten, die obige Marx’sche Definition im Laufe mehrerer aufeinanderfolgender Tage, Wochen oder Monate immer wieder zu lesen und zu versuchen, sie insgesamt oder einzelne Sätze daraus auswendig zu lernen. So etwas habt ihr sicher noch nie gemacht, aber es ist nicht so schwer, wie man zuerst glauben mag. Schauspieler lernen schließlich ganze Rollen mit oft langen Monologen auswendig. Es kann jemanden auch mit Genugtuung erfüllen, sich einer solchen Herausforderung erfolgreich gestellt zu haben. Natürlich muss das Auswendiglernen eines Textes für Marxisten eine Ausnahme sein und bleiben. Wer sich ausgerechnet die falschen Texte eingeprägt hat, kann dadurch leicht zum Dogmatiker werden. Was ich weiß, also im Kopf habe, muss deswegen nicht richtig sein, wir sollten immer kritikfähig und auch selbstkritisch in unserem Denken bleiben. Für die obige Marx’sche Definition kann ich mich aber meinen Lesern gegenüber verbürgen. Ihre Kenntnisnahme ist kein Ballast, sondern bereichert eine jede Marxistin und jeden Marxisten wie ein hochkarätiger Diamant, dessen Besitz einem Freude und Genugtuung bereitet, den man aber auch als ein hochwirksames Werkzeug benutzen kann, weil er jeden Härtetest bestehen wird.

Der Historische Materialismus ist nun also das Herzstück des gesamten wissenschaftlichen Erbes, das uns Marx und Engels hinterlassen haben. Karl Marx war als Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ursprünglich ein Philosoph, sodann, könnte man sagten, für wenige Jahre eine Art „Berufsrevolutionär“, als er nämlich mit Engels zusammen für den  „Bund der Gerechten“ ein neues Programm, das „Kommunistischen Manifest“, schrieb und danach auch die Führung dieses Geheimbundes  und schließlich vom Londoner Exil aus die politischen Führung der Verteidigung im Kölner „Kommunistenprozess“ übernahm, in dessen Ergebnis nach dem Scheitern der demokratischen Revolution von 1848/49 fast alle Bundesmitglieder zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Marx und Engels mussten den „Bund der Kommunisten“ schon im fünften Jahr seines Bestehens auflösen, und auch das “Kommunistische Manifest“ konnte viele Jahre lang in Deutschland nicht legal verbreitet werden.

Marx befasste sich nun in London intensiv mit dem Studium der (englischen) Politischen Ökonomie, so dass er nach rund zehn Jahren seine Arbeit „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“  in Berlin veröffentlichen konnte. Marx war zu dieser Zeit bereits der bedeutendste Ökonom deutscher Sprache und blieb dies bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerkes „Das Kapital“, dessen Bände 2 und 3 erst nach seinem Tode von Friedrich Engels fertiggestellt und veröffentlicht wurden. Durch seine wissenschaftliche sowie programmatische Tätigkeit als Philosoph, als Berufsrevolutionär und als ein Ökonom von „klassischem“ Format erlangte Marx die Befähigung, mit seiner Definition von 1859 die Grundlagen für den „Historischen Materialismus“ zu schaffen: für eine Geschichtsphilosophie völlig neuer Qualität, die sowohl die Vorleistungen der philosophischen Idealisten, wie zum Beispiel Hegel, wie auch die der philosophischen Materialisten, wie zum Beispiel Feuerbach, bei weitem übertrifft. Auch heute noch, nach mehr als einhundertfünfzig Jahren, ist der Historische Materialismus für ein wissenschaftliches Verständnis der wichtigsten historischen Zusammenhänge unverzichtbar, aber auch unersetzlich. Was die Evolution der menschlichen Gesellschaft betrifft, hat bis jetzt kein anderer Wissenschaftler bzw. Philosoph weltweit eine bessere bzw. zutreffendere Definition ihrer Triebkräfte und gesetzmäßigen Zusammenhänge veröffentlicht als Karl Marx im Vorwort seiner Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859. Den Begriff Definition haben Marx und Engels in diesem Zusammenhang selbst nicht verwendet. Man könnte die Ausführungen von Marx auch als eine kompakte Beschreibung des Gegenstandes des Historischen Materialismus und seiner wichtigsten Zusammenhänge und Schlussfolgerungen bezeichnen. In diesem Sinne spreche ich also in der vorliegenden Arbeit der Kürze halber von der Marx‘schen Definition. Wenn man weiß, was gemeint ist, lohnt es nicht, über diesen Begriff zu streiten.

In dem in der DDR 1976 im Dietz Verlag erschienenen  über 900 Seiten starken Buch „Grundlagen des Historischen Materialismus“ hat sich der für dieses Kapitel verantwortlich zeichnende Autor Wolfgang Eichhorn I an einer Kürzung des Marx-Zitats versucht, indem er vier Auslassungen darin vornahm (Siehe in der 2. Auflage 1977: S. 196). Ich halte weder die Platzierung der Marx’schen Definition im dritten Abschnitt  des dritten Kapitels noch die vorgenommenen Kürzungen für angemessen. An einer Stelle, die für den Leser unübersehbar ist, hätte man das ganze Marx-Zitat abdrucken und seinen Platz in der marxistischen Theorie ausführlich würdigen müssen. Eichhorn I bringt allerdings in seiner gekürzten Definition eine Passage vom Schluss der Marx’schen Originalfassung, die ich oben weggelassen habe:  „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses …, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Ich wollte den Lesern diese Passage nicht vorenthalten, bringe sie aber erst an dieser Stelle, weil sie einer kritischen Kommentierung bedarf. Nach meiner Auffassung benutzt Marx den Begriff Antagonismus hier wie auch in manchen anderen Schriften als eine Metapher, mit der er die preußische Zensur umging. Schließlich wollte er sein Buch ja in Berlin herausbringen. „Antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ sagt ungefähr dasselbe aus wie der berühmte „Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung“. Dieser „Grundwiderspruch“ wurde in der DDR und anderen realsozialistischen Staaten abertausendfach  in politischen Reden, Artikeln und Büchern zitiert, immer in der Hoffnung, der Kapitalismus möge in absehbarer Zeit an diesem Antagonismus oder Grundwiderspruch zugrunde gehen. In Wirklichkeit handelte es sich aber nicht um einen antagonistischen, also unlösbaren Widerspruch. Vielmehr ermöglichte eine gewisse Aufteilung der Ergebnisse der Produktion zwischen privaten „Aneignern“ und dem Staat ja immer auch eine partielle gesellschaftliche Aneignung und gesellschaftliche Konsumtion. Darin liegt ja das Wesen der „sozialen Marktwirtschaft“, die in den 1950er Jahren in der kapitalistischen BRD eingeführt wurde  –  mit staatlichen Sozialleistungen, die diejenigen der sozialistischen DDR teilweise erheblich übertrafen. Marx hat zu seinen Lebzeiten noch keinen kapitalistischen „Sozialstaat“ kennenlernen können. Seine Erwartungen hinsichtlich der Wirksamkeit eines gesellschaftlichen „Antagonismus“ haben sich im weiteren Verlauf der Geschichte nicht erfüllt. Diese Tatsache muss bei einer heutigen Berufung auf bestimmte Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Enges berücksichtigt werden. Die Entwicklung ist anders verlaufen, als sie von Marx vorhergesehen wurde. Er hat sich in dieser Beziehung eben geirrt, was für jede Wissenschaft ganz normal ist und seinen sonstigen wissenschaftlichen Leistungen keinen Abbruch tut.

Die wissenschaftliche Erkenntnis der gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen Produktivkraftentwicklung und den Produktionsverhältnissen, die zusammen die Produktionsweise einer Gesellschaft ausmachen und sodann zwischen dieser ökonomischen Basis der Gesellschaft und ihrem Überbau – diese Erkenntnis trägt uneingeschränkt für Tausende von Jahren der Geschichte der menschlichen Zivilisation bis hin zur Lebenszeit von Marx und Engels. Sie erklärt die Abfolge von Urgesellschaft, asiatischer Produktionsweise, antiker Sklavenhaltergesellschaft und kapitalistischer Gesellschaftsformation. Es handelt sich aber um eine Abfolge in der Gleichzeitigkeit der jeweils alten und neuen Gesellschaftsformationen auf der Oberfläche unseres Planeten Erde, um einen Prozess der allmählichen oder schubweisen Ausbreitung des Neuen auf Kosten des „Lebensraumes“ der jeweils rückständigeren Gesellschaftsformationen. Die primäre Triebkraft der "aufsteigenden“, das heißt progressiven Entwicklung der Gesamtgesellschaft liegt in ihren Produktivkräften, und hier wiederum primär in den Produktionsinstrumenten, mit denen die Produzenten das Naturprodukt bearbeiten. Insofern ist auch eine Einteilung der „Zeitalter“ oder Epochen der Weltgeschichte in Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, Zeitalter der Windkraft, der Wassermühle und des Göpels, Zeitalter der Dampfmaschine, Zeitalter der Elektroenergie und der Verbrennungsmotoren, Industriezeitalter der Automatisierung und der elektronischen Steuerung ganzer Produktionsprozesse, postindustrielles Zeitalter nicht völlig falsch. Diese Einteilung der Weltgeschichte nach technischen Innovationen ist der marxistischen Stufenfolge der Gesellschaftsformationen immanent. Auch diese „technischen“ Zeitalter galten ja nie für die ganze Erdoberfläche, für die ganze Menschheit gleichzeitig, sondern bestanden in voneinander entfernten Gebieten der Erde zur selben Zeit. Mit ihnen bestanden dort immer auch die älteren und jüngeren Gesellschaftsformationen. Sogar die zeitliche Abfolge der Gesellschaftsformationen und der „technischen“ Zeitalter verläuft – immer gemessen am jeweiligen erstmaligen Auftreten und an wichtigen Stufen ihrer jeweiligen Ausbreitung - in der Weltgeschichte parallel. Man muss also, wenn man der Weltgeschichte eine Einteilung nach technischen Epochen zugrunde legen will, die mit dem technischen Fortschritt einhergehenden qualitativen gesellschaftlichen Veränderungen stets mit hinzu denken. Aber: das Verständnis des Gesamtzusammenhangs wird erschwert, wenn man nur die Materialbeschaffenheit der Werkzeuge – Stein, Bronze, Eisen – im Blick hat oder die Art der Maschinenantriebskraft. „Eisen“ steht als Material für Werkzeuge ja nicht für die antike Sklavenhaltergesellschaft allein, die Windkraft nicht nur für den Feudalismus allein. Gerade erst im 21. Jahrhundert erfährt die Windkraft eine zuvor ungeahnte Renaissance. Außerdem ist die Einteilung technischer Zeitalter relativ willkürlich. Wo bleibt ein Zeitalter des beschriebenen Papiers, des Buchdrucks, des Telefons und des Internet, ein Zeitalter der Ochsenkraft, der Pferdekraft, der hochseetüchtigen Segelschiffe, der Handfeuerwaffen und bei diesen der Hinterlader, der Schiffsgeschütze, Unterseeboote, der Luftfahrt usw.?  Es lässt sich trefflich über „Basisinnovationen“ streiten, aber wissenschaftliche Objektivität ist dabei unerreichbar. Die Wissenschaftler könnten sich vielleicht mehrheitlich einigen, jedoch ein einziger von ihnen könnte ja Recht haben.

Aus vorgenannten sowie weiteren hier nicht auszuführenden, ebenfalls triftigen Gründen ist eine wissenschaftlich begründete Einteilung der gesellschaftlichen Evolution der Menschheit, die die technische Entwicklung lediglich zum Ausgangspunkt für die jeweilige Entwicklung der gesellschaftlichen  Produktivkräfte nimmt, einer rein technischen Strukturierung der Weltgeschichte unbedingt vorzuziehen. Unsere These ist ja, dass der Historische Materialismus gemäß der Marx’schen Definition für das Verständnis der gesellschaftlichen Evolution des Menschen, das heißt immer auch der Menschheit, unverzichtbar, dass er auch im 21. Jahrhundert daher unersetzlich ist.

Ziehen wir nun noch eine andere Herangehensweise an dieses Problem in Betracht: eine gewisse Aufeinanderfolge von Kulturen, die sich jeweils auf religiöse Lehren und deren „kirchliche“ oder quasikirchliche Institutionen stützen. Diese Problematik ist innerhalb des Historischen Materialismus in den Theoriebereich der Dialektik von Basis und Überbau integriert, fällt also auch hier nicht unter den Tisch. Will man nun in einer solchen nichtmarxistischen oder antimarxistischen Kulturkreistheorie auf die Technik und die Produktivkräfte überhaupt als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung verzichten, so kann man nicht einmal mehr die historischen Veränderungen in der jeweiligen religiösen Lehre selbst plausibel erklären. Warum zum Beispiel war im ursprünglichen Judentum und auch im Alten Testament der christlichen Religionslehre die Sklaverei unter bestimmten Bedingungen erlaubt und wurde später fallengelassen? Warum wurden sexuelle Verfehlungen, vor allem von Frauen, sogar von Minderjährigen, die in der eigenen Familie sexuell missbraucht worden sind, mit Steinigung, einer barbarischen Form der Todesstrafe, geahndet und später – nicht nur im Christentum – derartige Strafen fallengelassen? Warum erhielt die Priesterschaft lange Zeit nach biblischer Aussage eine Naturalabgabe – ein Zehntel der Ernte – später aber eine Geldsteuer? Warum wurden in der Lutherischen Reformation der zuvor Katholischen Kirche die Frauenklöster aufgelöst und die Ehe ehemaliger Nonnen erlaubt, ebenso die Priesterehe? Warum werden in den evangelischen Christkirchen alle Amtsträger von Frauen und Männern gleichberechtigt gewählt, wo doch im Alten Testament die sogenannten Leviten ihre Priestereigenschaft vererben konnten? Man kann immer alles irgendwie auf willkürliche Weise erklären. Aber mit Wissenschaft haben solche Erklärungen nichts zu tun. Es geht auch nicht nur darum, eben einen höheren „Wahrheitsgehalt“ des religiösen Glaubens der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegenzusetzen. Die obigen Beispiele zeigen ja gerade, dass man eine Zeitlang diese und jene Glaubens-sätze für richtig hielt, in späterer Zeit aber genau das Gegenteil predigte und tat. Derselbe Glaube bediente häufig zwei einander ausschließende Wahrheiten.

Kulturkreistheorien ohne eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung seit „biblischer Zeit“ bis heute können die Probleme nicht erklären, vor denen im 21. Jahrhundert die religiös unterschiedlich ausgerichteten Weltregionen stehen, wie die „Westliche Welt“, die Islamische Welt, die buddhistische Staatengruppe sowie Indien, China und Japan. Betrachtet man die Welt nur mehr unter dem Aspekt unterschiedlicher Kulturkreise und des Einflusses von Weltreligionen, dann gibt es für die Menschheit keine gemeinsame Zukunft. Einzig und allein der Historische Materialismus geht vom Wirken objektiver Gesetzmäßigkeiten in aller Welt, in allen Kulturkreisen aus und ist daher unverzichtbar und unersetzlich. Kulturkreistheorien sind nichts anderes als Ideologien, somit Überbauerscheinungen. Der gesamte Überbau aber wird mit der Produktionsweise umgewälzt, für deren Veränderung wiederum die Produktivkräfte ausschlaggebend sind.

Welterklärungsmodelle der idealistischen bürgerlichen Philosophie können die marxistische Theorie des Historischen Materialismus ebenfalls nicht ersetzen. Der philosophische Idealismus ist durch Marx und Engels bereits geistig verarbeitet worden. Alles, was wertvoll und praxisrelevant an dieser Philosophie war, ist im Dialektischen und in Historischen Materialismus aufgehoben worden. Diese dialektische „Aufhebung“ bedeutete natürlich auch, dass die unwissenschaftlichen Aspekte der idealistischen bürgerlichen Philosophie bereits durch Marx und durch die Marxisten verworfen worden sind (in diesem negativ gemeinten Sinne also „aufgehoben“).  Die antimarxistische bürgerliche Philosophie aller Spielarten seit Friedrich Nietzsche hat nichts geleistet, was irgendjemandem von Nutzen gewesen wäre oder auch nur sein könnte. Diese Werke werden seit mehreren Jahrzehnten von niemandem anderen gelesen als von bürgerlichen Philosophen und ihren Studenten. Die Politik braucht ihre Erkenntnisse nicht, die Wirtschaft braucht sie nicht, die  Jugend und die Rentner brauchen sie nicht, für die Arbeitswelt sind sie bedeutungslos. Wer für sich selbst den Historischen Materialismus entdeckt hat und dabei ist, sich in dessen Gedankenwelt zu vertiefen, sollte seine Zeit nicht mit der Lektüre idealistischer philosophischer Schriften vergeuden. Sie bieten keine verdauliche geistige Nahrung.

 

Der Missbrauch und die Fehlinterpretationen des Historischen Materialismus in der DDR
M. V. Meerweg, der Verfasser dieser Anleitungsschrift, wurde durch das Internetportal „www.storyal.de“, das von Prof. Dr. Albrecht, Berlin  performed wird, dazu angeregt, die vorliegende Darstellung gleichsam als eine Antwort auf ein „storyal“-Positionspapier mit dem Titel „Sozialismus“ vorzulegen. Prof. Dr. Albrecht vertritt in seinem Positionspapier folgenden Standpunkt:

„70 Jahre realer Sozialismus sind der Beweis, dass der Historische Materialismus falsch und nur ein Glaubenssatz ist: Der Sozialismus/Kommunismus folgt nicht gesetzmäßig auf den Kapitalismus. Der reale Sozialismus war allein durch den Verzicht auf die Negation der Negation identisch mit einer Religion.“

Das Argument ist plausibel, aber nicht stichhaltig. 70 Jahre Sozialismus, von denen hier die Rede ist, waren in der Weltgeschichte auch 70 Jahre Kapitalismus. Die kapitalistische Gesellschaftsformation, die schon zu Lebzeiten von Marx und Engels bestand, hat die 70 Jahre überlebt und besteht weiter fort. Was Karl Marx über die Abfolge der Gesellschaftsformationen von den frühen asiatischen Kulturen über die antike Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus bis zum Kapitalismus geschrieben hat, gilt uneingeschränkt auch heute. Der eine Zeitlang real existierende Sozialismus war keine Gesellschaftsformation. Was er nun aber gewesen ist, darüber mag die Geschichte entscheiden, wenn es in Zukunft einmal wirklich zur Ablösung des Kapitalismus durch eine qualitativ neue Gesellschaft kommen wird. Marx zufolge sollte der Sozialismus ja so etwas wie eine Vorstufe zur kommunistischen Gesellschaftsformation sein. Eine gescheiterte Vorstufe ist logischerweise keine neue Gesellschaftsformation. Die Marxisten müssen sich damit abfinden, dass es nun einmal so gekommen ist. In der Geschichte gilt kein Wenn und Aber. Wir sind immer noch im Kapitalismus, das ist eine Tatsache. Dass aber die kapitalistische Gesellschaftsformation ebenfalls ihr Ende finden wird wie alle anderen Gesellschaftsformationen vor ihr, das ist für uns Marxisten so sicher wie das Amen in der Kirche. Marxisten waren schon immer und sind auch heute unbeirrt „Historische Optimisten“. Ob nun aber die künftige, bessere Gesellschaftsordnung den Namen Kommunismus tragen wird, können wir nicht mehr entscheiden. Das liegt nicht in unserer Verantwortung. Ich persönlich könnte mir auch „Gerechte Gesellschaft“ vorstellen. Das wäre dann eine Gesellschaft in der der von der gesamten Menschheit erzeugte materielle Reichtum auf Frauen und Männer, auf Angehörige aller Rassen und Nationen in gerechter Weise auf gesetzlicher Grundlage und unter demokratischer Kontrolle verteilt und in jeder neuen Generation wieder neu verteilt wird. Kapitalisten mag es dann noch geben, aber keine rein private Aneignung größerer Teile des gesamtgesellschaftlichen Sozialprodukts mehr.

„Marx hat den Sozialismus/Kommunismus nur vage beschrieben und das Inbetriebsetzungsproblem völlig unterschätzt: die proletarische Revolution hat nie stattgefunden!“

Dieser Auffassung schließe ich mich in marxistischer Selbstkritik an, zumindest was die „Sozialistische Umgestaltung in der DDR“ betrifft. Es ist natürlich ein Geburtsfehler der DDR, dass sie weder in einer Revolution noch im Ergebnis einer wirklich demokratischen Entscheidung des Volkes zustande gekommen ist, noch dazu unter dem Druck einer uneingeschränkt stalinistischen Besatzungsmacht. Dennoch war die Gründung der DDR alles in allem ein weltgeschichtlich positives Ereignis. Sie veränderte das internationale Kräfteverhältnis ein wenig zugunsten der Sowjetunion und zuungunsten der USA, die in Japan bereits zwei Atomwaffen eingesetzt hatte. Ich halte das „Atomare Patt“, das die Sowjetunion in diese Zeit erreichen konnte, für die einzig akzeptable Lösung für die Verhinderung eines dritten Weltkrieges. Das „Atomare Patt“ konnte erst aufgehoben werden, nachdem auch China und Indien über Kernwaffen und interkontinentale Trägerraketen verfügen.

„Die Ideologen des sozialistischen Lagers haben den Dialektischen Materialismus nicht begriffen und sozialistische Staaten als religiös fanatische Diktaturen errichtet. Der Dialektische Materialismus wurde im Alltag konsequent ignoriert, war aber angeblich die philosophische Grundlage aller Staaten des sozialistischen Lagers!“

Die Aussage stimmt,  bis auf die Wortwahl. Die DDR halte ich nicht für eine „fanatische“ Diktatur. Von Fanatismus kann nicht einmal bei den sogenannten Mauerschützen die Rede sein. Ansonsten – einverstanden.

„Die entscheidenden Schwachstellen des realen Sozialismus:

  • Hoffnung auf den ‚Neuen Menschen‘.  
  • Zentralismus statt verteilter Intelligenz.  
  • Keine Negation der Negation.  
  • Gewalt statt Demokratie.       

Der reale Sozialismus hat aus den Menschen Opportunisten gemacht: man beugte sich der Gewalt und sagte, was die Mächtigen hören wollten. Die Gedanken waren auch in der DDR frei, aber nur, weil sie niemand kontrollieren konnte.“

Mit den „Schwachstellen“ bin ich einverstanden. Menschen, die eine zweite Chance in ihrem Leben erhielten, sind oft auch tatsächlich „neue Menschen“ geworden, gemessen an denen, die im Nationalsozialismus zum Beispiel „Heil Hitler!“ geschrien und den Totalen Krieg sowie die Judenverfolgung befürwortet haben. Ich habe zahlreiche solche Menschen gekannt und erinnere mich dankbar an sie, darunter einige meiner Lehrer und auch an Kollegen meines Vaters.  Aber im Großen und Ganzen stimmt die Aussage schon. „Gewalt statt Demokratie“  ist allerdings keine echte Alternative. Das KPD-Verbot in der BRD war auch Gewalt – ob berechtigt oder nicht. In der DDR gab es keine echte Demokratie, man kann auch sagen keine Demokratie im eigentlichen Sinne. Es gab aber beispielsweise Schöffinnen und Schöffen, die parteilos waren und aktiv an Gerichtsverfahren beteiligt waren. Es gab alle möglichen Ausschüsse und Beiräte mit vielen Tausend Mitgliedern, die manchmal auch kleine Entscheidungsspielräume hatten, und es gab zum Beispiel die LPG- Vollversammlungen, die ziemlich viel zu entscheiden hatten, wenn auch manche solcher Entscheidungen wieder kassiert wurden. Man kann das alles auch „demokratische Spielchen“ nennen. Das waren sie in den Augen der Herrschenden gewiss.

„19 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialistischen Lagers gibt es immer noch keine Fehleranalyse aus marxistischer Sicht!   …    Die Utopisten und Weltverbesserer haben aus dem Untergang des Realen Sozialismus nichts gelernt.“  … „Nach dem realen Sozialismus ist es wie nach dem Nationalsozialismus: Keiner will es gewesen sein.“

Ich denke, dass gerade die Utopisten und Weltverbesserer aus dem Untergang des Sozialismus gelernt haben, dass es nämlich noch ein weiter Weg bis zu einer nachhaltigen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Eine zwingende Lehre aus der Friedlichen Revolution von 1989 ist, dass es bei einer künftigen gesellschaftlichen Veränderung genauso friedlich zugehen muss. Eine weitere grundlegende Lehre ist, dass die Durchsetzung gesellschaftlicher Veränderungen ausschließlich mit demokratischen Mitteln angestrebt und durchgesetzt werden darf. Eine dritte Lehre ist schließlich, dass in Bezug auf die marxistische Theorie Fehler und Mängel aufgedeckt und beseitigt werden müssen, die in der DDR zum Systemzusammenbruch beigetragen haben.

 

Schlussendlich verweist Prof. Albrecht noch auf weitere seiner im Internet nachzulesenden Beiträge zum Thema, u. a. auf einen mit dem Titel „Die Irrtümer der Marxisten“. Daraus zitiere und kommentiere  ich im Folgenden einige Passagen, die von dem obigen Positionspapier noch nicht mit umfasst waren:


Grundsätzliche Irrtümer der Marxisten
Der Historische Materialismus

„Marx und Engels aber interpretierten im Historischen Materialismus die Geschichte der menschlichen Gesellschaften in Analogie zu Darvins Evolutionstheorie als eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren, von der Sklaverei über den Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus. Darvins Erkenntnisse werden trotz zahlloser Beweise noch heute als Evolutions’theorie‘ bezeichnet. Aber schon für Marx und Engels war die Entwicklung vom Kapitalismus zum Kommunismus ‚gesetzmäßig‘.   Diese Geschichtsinterpretation ist durch nichts bewiesen. Es ist nicht mehr als eine These, mit Sicherheit ein Glaubenssatz. Die Kommunisten des 20. Jahrhunderts hielten diese These (mit Marx und Engels) für ein Naturgesetz, errichteten auf dieser Basis sozialistische Staaten und sahen sich als Sieger der Geschichte. Der Untergang des Realen Sozialismus beweist die Fehlinterpretation der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Der Historische Materialismus ist vielleicht eine Gesellschaftsutopie, mit Sicherheit aber ein fundamentaler philosophischer Irrtum.   … 

Marx spricht in seiner Definition des Historischen Materialismus im Vorwort von „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von1859 im Zusammenhang mit dem Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus nicht von einer Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich von einem diesem Übergang zugrunde liegenden Antagonismus. Auch spricht er nicht vom Sozialismus oder gar Kommunismus, sondern lediglich davon, dass mit der Lösung des antagonistischen Widerspruchs die „Vorgeschichte“ der menschlichen Zivilisation enden würde. Die kapitalistische Gesellschaftsformation hat auch in den Jahren 1917 – 1990 ununterbrochen weiterbestanden. Insofern gilt die Marx’sche Definition unverändert auch heute und in absehbarer Zukunft. Die menschliche Zivilisationsgeschichte wurde durch Marx keineswegs fehlinterpretiert. Marx hat viele Aussagen und Lehren, die mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden, von anderen Autoren übernommen, aber gerade nicht seine Begründung für die Evolution der menschlichen Zivilisation durch die Austragung der Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen der Produktionsweise als Basis des gesellschaftlichen Lebens und dem Überbau, der sich über dieser Basis erhebt und von ihr getragen wird. Marx hat nach eigener Aussage, an deren Gewissenhaftigkeit kein Zweifel angebracht ist, an der wissenschaftlichen Begründung seines Konzepts einer gesetzmäßig „aufsteigenden“ gesellschaftlichen Entwicklung rund zehn Jahre lang gearbeitet, also wissenschaftlich gearbeitet. Marx gehört zu den deutschen Persönlichkeiten von allerhöchstem weltgeschichtlichem Rang. Sein Name, seine Biographie ist in allen einschlägigen Sammelbänden zu finden. Daher erlaube ich mir, etwas mehr Sorgfalt einzufordern, wenn es darum geht zu beurteilen, was dieser Mann gesagt hat und was nicht. Ehe man von „Glaubenssätzen“ und dergleichen spricht, sollte man sich den Text seiner wissenschaftlichen Definition Satz für Satz durchlesen und durchdenken. Es wäre doch peinlich, mit einem Hund verglichen zu werden, der den Mond anbellt.

Eine ganz andere Sache ist ein vernichtendes Urteil über jene, die im 20.Jahrhundert unter Berufung auf Karl Marx eine „sozialistische“ Gesellschaft in einigen relativ rückständigen Ländern aufbauen wollten und denen es im Laufe von Jahrzehnten kaum gelang, deren Bevölkerung auskömmlich zu ernähren, zu bekleiden und mit Wohnraum zu versorgen, die aber dennoch vor großer Kulisse vom allmählichen Übergang zum Kommunismus noch zu ihren Lebzeiten träumten. Diese alterssenile Altherrenclique hat schlußendlich den realsozialistischen Wagen gegen die Wand gefahren. Hier hatte die vielzitierte Rolle der Persönlichkeit eine extrem negative historische Wirkung. Karl Marx konnte von alldem nichts wissen und trägt dafür nicht die geringste Mitverantwortung. Dass auch seine Prognosen gelegentlich zu kurz griffen, ist offenbar ein allgemein menschliches Phänomen. Auch ein Wissenschaftler ist schließlich kein Prophet. Aber im Fall seiner Theorie des Historischen Materialismus blieb Karl Marx im Hinblick auf die Zukunft bewusst vage. Es gibt hier keine Andeutung für einen Zeitrahmen, in dem die „Zeitenwende“ eintreten sollte oder könnte.
 
Der Dialektische Materialismus
…   Der von Marx und Engels entwickelte Dialektische Materialismus besteht im Kern aus drei Grundgesetzen der Dialektik:

  • Das Gesetz des Umschlagens der Quantität in Qualität (Nicht umgekehrt! – M.)
  • Das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze
  • Das Gesetz der Negation der Negation

Dabei wird die materialistische Dialektik als umfassende Wissenschaft angesehen, die den ‚universellen, gesetzmäßigen Zusammenhang des Weltprozesses‘ beschreibt. Ob die ‚Grundgesetze der Dialektik‘ vollständig sind und ob zu einer solchen Wissenschaft weitere qualitativ andere Gesetze gehören, wurde nicht diskutiert (… hat Marx die Hauptsätze der Thermodynamik gekannt?). Die sozialistischen Staaten hätten sich anders entwickelt, wenn die marxistischen Ideologen den Dialektischen Materialismus verstanden und von Anfang an umfassend angewendet hätten. Sie taten das Gegenteil, die o.g. Gesetze wurden in der tagtäglichen politischen Praxis konsequent ignoriert. … Marx und Engels haben, wie beim Historischen Materialismus, auch beim Dialektischen Materialismus  ihre Erkenntnisse überschätzt und sie vorschnell in den Rang von Naturgesetzen erhoben. Die drei ‚Grundgesetze der Dialektik‘ sind nicht in der Lage, die Entwicklung   ‚der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens‘ umfassend zu beschreiben. Auch sind sie nicht dazu geeignet, Prognosen über ihre Zukunft zu erstellen …  es ist ein fundamentaler Irrtum anzunehmen, damit den Schlüssel für das Verständnis aller Weltprobleme gefunden zu haben.

Volle Zustimmung zur Darstellung, worum es beim Dialektischen Materialismus überhaupt geht. Es geht bei der Dialektik also um die Bewegung der Widersprüche, die in allen Bereichen der unbelebten und der belebten Materie die Entwicklung vorantreiben. Die Bewegung ist nun einmal die Daseinsform der Materie. Auch was scheinbar ruht, bewegt sich in Wahrheit. Die Dialektik zeigt dem menschlichen Beobachter, wie durch die drei beschriebenen dialektischen Bewegungsgesetze die Widersprüche zum Motor einer ganz bestimmten objektiven Entwicklung werden, auch ohne Zutun des Menschen. Was den historischen Materialismus betrifft, so ist die Evolution der menschlichen Gesellschaften ebenfalls durch das Wirken objektiver Widersprüche bedingt, die der Entwicklung Richtung und Ziel vorgeben.

Es ist gar nicht möglich, die Bedeutung der drei dialektischen Grundgesetze für die Selbstbewegung der Materie, für diesen oder jenen evolutionären Prozess zu überschätzen. Viel weniger sollte man das ausgerechnet Marx und Engels unterstellen. Selbstverständlich ist kein Gesetz in der Lage, irgendetwas Konkretes zu beschreiben, auch nicht eine Entwicklung von etwas Konkretem. Und ob ein Gesetz „geeignet“ ist, also dafür instrumentalisiert werden kann, eine Prognose zu „erstellen“ erscheint mir schon vom Ansatz her fragwürdig. Fazit: Nur, wer sich ernsthaft mit der Bewegung von Widersprüchen befassen will, kann mit der Dialektik etwas anfangen. Sie ist keine Universalwissenschaft im Sinne von etwas Konkretem, das beschreibbar ist. Sie ist vor allem eine Methode. Die realsozialistischen Politiker hatten einen Horror vor Widersprüchen, da sie reflexartig jeden einmal als existierend anerkannten Widerspruch glaubten „lösen“ zu müssen. Allein schon das Wort Widerspruch sollte öffentlich gar nicht geäußert werden. Sie bevorzugten für ein gesellschaftliches Problem das Wort Frage, zum Beispiel: die „Lösung der Wohnungsfrage“. Dass Marx und Engels angenommen hätten, mit den drei Grundgesetzen der Dialektik allein „den Schlüssel für das Verständnis aller Weltprobleme gefunden zu haben“, ist eine ganz gewiss nicht belegbare, weil unzutreffende Behauptung. Zum Verständnis konkreter „Weltprobleme“ gehört ja wohl nicht nur eine Methode, sondern auch eine umfassende Kenntnis der Fakten sowie der Struktur des jeweils zu lösenden Problems. „Alle Weltprobleme“ lösen zu wollen, ist ohnehin eine unseriöse Aufgabenstellung, die man Marx nicht unterstellen sollte.

…   Die Materialistische Erkenntnistheorie ist interessant. In Ihrer Entstehungszeit war sie ein bedeutender Fortschritt …

Danke für diese Aussage. Ich nehme sie gern auf, denn ich bin mit dieser speziellen philosophischen Materie nicht so bewandert.

Die Grundfrage der Philosophie
…    Die Marxisten erklären die Welt ohne Gott. Die Existenz Gottes ist aber ebenso wenig zu beweisen, wie das Gegenteil. Beide Seiten vertreten einen klassischen ‚Glaubenssatz‘.   Heute haben sich die materialistischen Vorstellungen durchgesetzt (Das Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht umgekehrt). Obwohl Religionen weiterhin eine stabile Funktion in der menschlichen Gesellschaft besitzen, ist der Gottesbeweis uninteressant und weit davon entfernt, eine oder DIE Grundfrage der Philosophie zu sein.

Mit der Aussage bin ich soweit einverstanden. Zur idealistischen Philosophie habe ich im einleitenden Kapitel schon etwas ausführlicher Stellung genommen. Es geht hier also um das Primat von Materie oder Bewusstsein. Falls man die Antwort auf diese Frage einen marxistischen „Glaubenssatz“ nennen will, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Die Frage ist für die sonstige marxistische Theorie nahezu unwichtig. Lasst uns also unverdrossen an das Primat der Materie „glauben“.

Die Erkennbarkeit der Welt
Zur Grundfrage der Philosophie gehört nach marxistischer Überzeugung auch, dass die Welt erkennbar ist.    …   Niemand kann heute schlüssig beweisen, ob von uns wahrgenommene Objekte zur objektiven Realität gehören und ob eine objektive Realität überhaupt existiert. Die objektive Realität wird postuliert …   die Erkennbarkeit der Welt … ist ein wahrhaft klassischer marxistischer Glaubenssatz. Er wird benötigt, damit das marxistische System in sich geschlossen und ohne Gott funktioniert.    …  aus meiner Sicht … wird klar, dass Menschen weit davon entfernt sind, diese Welt zu erkennen.

Dies ist nun das zweitunwichtigste Problem für einen Marxisten. Glauben wir also unverdrossen an die Erkennbarkeit der Welt und überlassen es den Agnostikern, mit ihrem entgegengesetzten Glauben absolut nichts ausrichten zu können.

Das Gattungswesen des Menschen
… Karl Marx zum Begriff des Gattungswesens: „ …“  Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844.   Das Gattungswesen des Menschen ist die Gier nach Eigentum, Ansehen und Macht, kombiniert mit einem Mangel an Verstand. … Leider hat die Menschheit weder Bewusstsein noch Verstand. … Arbeit unterscheidet den Menschen vom Tier. Arbeit ist aber nicht sein Gattungswesen.    Auch hier also irrte Marx und sein Irrtum führte zur völligen Überschätzung der Position der Arbeiterklasse und der Handarbeit.                                                         

Marx 1844! Das ist etwas, das uns moderne Marxisten gar nicht mehr interessiert: vor 1848 und weit vor Darwin! Wir haben wichtigeres zu tun und zu durchdenken!

Das Menschenbild
Das Menschenbild der Marxisten wird durch drei Aspekte determiniert: Produktion, politische Ökonomie und Gesellschaft. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, sein Bewusstsein und sein Denken kreisen um die Arbeit, das Gemeinwohl und die Interessen seiner Klasse. Nach Ansicht der Marxisten ist die Arbeit das Gattungswesen des Menschen. Der Erziehung wird ein hoher Stellenwert eingeräumt, denn die neue Gesellschaft benötigt auch neue Menschen: …      Marxisten sind davon überzeugt, dass sich durch die gesellschaftlichen Umstände und durch permanente ideologische Missionierung ein Mensch neuen Typs entwickeln wird, kompatibel zum Sozialismus und Kommunismus. …  Für Marxisten sind alle Menschen von untergeordneter Bedeutung, die nicht direkt in die materielle Produktion eingebunden sind. Alleine die (Hand-) Arbeiter sind entscheidend, denn sie bilden die führende Klasse.
Das Gesellschaftssystem so zu verändern, dass es mit den tatsächlich vorhandenen Menschen optimal funktioniert. Das genau ist die größte Stärke des Kapitalismus. Ein fataler marxistischer Irrtum mit Todesfolge.

Ich meine, dass die politische Ökonomie im Menschenbild der Marxisten keine wesentliche Rolle spielt, dafür aber das Kollektiv. Es gab Tausende von Kollektiven der sozialistischen Arbeit, und diese hatten meist Brigadekassen und waren oft zum Feiern aufgelegt. Es gab auch den sogenannten Bitterfelder Weg, die „Bewegung sozialistisch Arbeiten, Lernen und Leben“. Es gab in diesem Rahmen zahlreiche Arbeitertheater, Arbeitermalzirkel in Aberhunderten von Betriebskulturhäusern. Also, Kultur spielte im Menschenbild der Marxisten der DDR durchaus eine Rolle, aber auch Sport. Es gab die sozialistische Sportbewegung mit jährlichen Betriebssportfesten, mit Betriebssportplätzen, Betriebssportgemeinschaften usw. Zum Menschenbild gehört sicher auch die Berufstätigkeit der Frau und die gesellschaftliche Kinderbetreuung in Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen. Mit dem sogenannten Klassenbewusstsein der Masse der einfachen Arbeiter und Bauern war es allerdings nicht weit her. Das führte mit zum Untergang der DDR.

Die Inbetriebsetzung des Sozialismus
… Marx hat auf die proletarische Revolution gesetzt, die nie stattgefunden hat. … Marx hat auf den gesetzmäßigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus gehofft. Leider ist der aber nur eine Fiktion, ein frommes Glaubensbekenntnis. … der Sozialismus ist nicht erreichbar, eine Utopie.

Voll einverstanden, falls ein solcher „Sozialismus“ gemeint ist, wie er in der untergegangenen DDR bestanden hatte. So einer kommt nie wieder.

 

Spezielle Irrtümer sozialistischer Ideologen.  
Die Zeichen der Zeit

… Allein durch den Verzicht auf die Negation der Negation wurde aus dem „Realen Sozialismus“ eine starre, fanatische Religion, die sich nicht mehr auf Marx berufen konnte. …
‚Das Kapital‘ von Karl Marx wurde wie eine Bibel gelesen, es war die letzte, unfehlbare Offenbarung. Niemand fragte danach, wie sich der Kapitalismus seit 1867 entwickelt hat. … Reale Tatsachen wurden ignoriert oder schamlos geschönt: Beispielsweise die objektiv vorhandenen Widersprüche in Ideologie, Politik und Wirtschaft, die bessere wirtschaftliche Situation der Arbeiter in Westdeutschland, die Wahlergebnisse der DKP (ca.0,2 Prozent) in Westdeutschland usw.).    Vor allen Dingen aber wurden die Zeichen der Zeit nicht erkannt: der technische Umbruch im Bereich der Information (Computer), die Gentechnik, Umweltprobleme, die Globalisierung … die Ursachen der Effektivität des inzwischen global agierenden Kapitalismus.

‚Das Kapital‘ hat in der DDR kaum jemand gelesen, ganz gewiss auch nicht die führenden Machthaber der DDR. Ich gebe zu, dass ich selbst Jahre gebraucht habe, um die drei dicken Bände wenigstens einmal durchzulesen. Aber das hat niemand von mir verlangt, und jene, denen ich das erzählt habe, waren sehr erstaunt. Wie eine Bibel gelesen – soll wohl heißen, dass die Bibel auch keiner mehr liest? Dass in der DDR „niemand“ danach fragte, wie sich der Kapitalismus in der BRD seit der Währungsreform von 1948 und dem Beginn des Wirtschaftswunders entwickelt hat, kann nur daran liegen, dass es alle wussten. Und gerade die Herrschenden fragten dauernd danach, wie sich der Kapitalismus entwickelt. Das weiß ich nun definitiv. Sie interessierten sich viel mehr dafür als für die Entwicklung in irgendeinem sozialistischen Land. Gern hätten sie ihr „hochgeheimes“ Herrschaftswissen sich allein vorbehalten. Aber: Keine Chance. Die DDR-Bevölkerung war nicht dumm und konnte auf keine Weise verdummt werden. Auch nach den Ursachen für den technischen Vorsprung des Westens wurde von allen Seiten – von oben und von unten – gefragt. Das war auch gar nicht verboten. Die Staatssicherheit wurde auf diese Frage angesetzt, und sie hat genug erfahren, was die DDR hätte voranbringen können. Aber die VEB waren nicht in der Lage, diese technischen Erkenntnisse in die Produktion zu überführen. Man versuchte es ja, auf legale Weise zu machen, weil man den zollfreien Innerdeutschen Handel -  den sogenannten Swing - nicht gefährden wollte. Das gelang aber nur mit teuren kapitalistischen Lizenzen, wie zum Beispiel aus Frankreich im Erdölverarbeitungskombinat Schwedt. Die Sowjetunion behandelte die DDR, was die Weitergabe von technischem Wissen anbelangt, fast wie ein Feindesland, schöpfte selbst aber unmittelbar vor Ort in den Betrieben alle Betriebsgeheimnisse ab.

Marx ist klar, dass die Bourgeoisie nicht freiwillig die Macht hergeben wird. … Der Begriff ‚Diktatur des Proletariats‘ stammt aber nicht von Marx, sondern von Lenin. „  …“ (Staat und Revolution, Teil II). … DDR heißt Deutsche Demokratische Republik. Die DDR war aber weder demokratisch noch ein Republik, sie war immer eine Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei (SED). Auch offiziell wurde immer von der Diktatur des Proletariats gesprochen. Die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse war sogar in der Verfassung der DDR festgeschrieben. … Ständige Präsenz massiver Gewalt, intellektuelle Bevormundung, flächendeckende Bespitzelung bis hin zu scheindemokratischen Spielchen und den peinlichen Wahlfälschungen. …

Ich stimme allem hier Gesagten uneingeschränkt zu. Die Wahlfälschungen waren aber nicht  „peinlich“, sondern auch nach DDR-Recht illegal. Sie waren im höchsten Grade verbrecherisch und wurden zu Recht nach der „Wende“ bestraft. In der marxistischen Theorie hat der Begriff „Diktatur des Proletariats“ künftig keinen Platz mehr. Er ist ersatzlos zu streichen. Aber sogar von einer führenden Rolle der Arbeiter in einem postkapitalistischen demokratischen Staatswesen kann in der marxistischen Theorie keine Rede mehr sein. In dem historischen Augenblick, als in Polen, in der Sowjetunion und andernorts Arbeiter gegen die sozialistische Staatsmacht zu streiken begannen, sind sie bereits ins politische und sozialökonomische Lager der Bourgeoisie übergegangen. Diese streikenden Arbeiter hatten und wussten keine andere Alternative zum bestehenden Staatseigentum als eben dessen Privatisierung. Es war ihnen zumindest völlig egal, wer der Eigentümer des Betriebes ist, in dem sie bisher gearbeitet haben. Sie wollten mehr Lohn – und hätten dafür auch einen Staatsbankrott in Kauf genommen. Diese Arbeiter verhielten sich ihrem damaligen Staat gegenüber illoyal. Sie erkannten ihn nicht mehr als ihren Staat an. Damit wurden sie zum Totengräber des real existierenden Sozialismus – und nicht etwa des Kapitalismus, wie es noch in der Marx’schen Theorie vorgesehen war. Das Streikverhalten der Arbeiter ist historisch-gesellschaftliche Realität. Die marxistische Theorie muss also geändert werden. Damit steht so gut wie fest, dass der Kapitalismus künftig nicht mehr am Klassenkampf der Arbeiter scheitern wird. Aber das ist ja nichts prinzipiell Neues in der Geschichte. Auch die Sklavenhalterordnung ist nicht vorrangig am Klassenkampf der Sklaven gescheitert, der Feudalismus nicht vorrangig am Klassenkampf der Bauern, jetzt eben auch nicht mehr der Kapitalismus am Klassenkampf der Arbeiter. Die Weltgeschichte findet einen anderen Weg, den Marx und Engels noch nicht sehen konnten. Über ein Drittel der Zeitspanne, in der die kapitalistische Gesellschaftsformation bisher existiert, liegt nach der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests. Das war die Geburtsurkunde der revolutionären kommunistischen Arbeiterbewegung. Im Jahre 1989 haben die mutigen Montagsdemonstranten in der Stadt Leipzig in der DDR dem Realexistierenden Sozialismus in Europa die Sterbeglocke geläutet. Ihr beharrlicher Widerstand führte am 9.Nobember 1989 zu dem unvergesslichen Volksfest auf der Berliner Mauer.

Es wurde aber vergessen, der revolutionären kommunistischen deutschen Arbeiterbewegung ihren Totenschein auszustellen. Hiermit unterschreibe ich im Namen der deutschen Marxisten diesen Totenschein, datiert auf den 21. April 2013.                     M. V. Meerweg

Die Kaderpolitik
…Die Leute mit dem wenigsten Verstand hatten das Sagen, weil sie die Macht der Sowjetunion hinter sich hatten. Diese Kaderpolitik hat einen wesentlichen Anteil am Untergang des ‚Sozialistischen Lagers‘ . …
Die Wissenschaftliche Weltanschauung
… Der Dialektische Materialismus enthält tatsächlich Elemente einer Weltanschauung, mit der sich Naturwissenschaftler über weite Strecken identifizieren können. … Nur ein Bereich war davon ausgeschlossen: die alles entscheidende Ideologie. Hier wurde an den vom Historischen Materialismus vorausgesagten Übergang zum Kommunismus geglaubt. Der Dialektische Materialismus aber wurde in der Tagespolitik konsequent ignoriert. … Die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse aber war nicht revolutionär, sondern stockkonservativ und restaurativ. Ihre entscheidende Funktion war der Machterhalt.

Dialektischer und Historischer Materialismus haben den Untergang des Real existierende Sozialismus nahezu unbeschadet überlebt, wenn man davon absieht, dass die Arbeiterklasse als Hauptmotor der gesellschaftlichen Evolution nunmehr ausgeschieden ist und dass es keine geschichtsmächtige revolutionäre Partei der Arbeiterklasse mehr geben wird. Die Geschichte hat das theoretische Schaffen von Marx und Engels bis 1859 abgearbeitet. Die Marxisten des 21. Jahrhunderts konzentrieren nunmehr ihre ganze Kraft auf die Weiterentwicklung und praktische Umsetzung des theoretischen Erbes von Karl Marx aus dem Jahre 1859, also auf den Historischen Materialismus in Verbindung mit dem Dialektischen Materialismus als Methode.
Wir gehen davon aus, dass die Arbeiterklasse in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern geschrumpft und teilweise degeneriert ist, dass dafür aber die kapitalistische Mittelschicht gewachsen ist und sich bei ihr eine Art Klassenbewusstsein herauszubilden begonnen hat. Es entsteht also eine neue Mittelklasse, in der die Frauen einen bestimmenden Einfluss erlangen.
 

Die Widersprüche zwischen den Frauen in dieser neuen Mittelklasse und der kleinen Oberschicht ökonomisch und politisch herrschender superreicher und supermächtiger Männer spitzen sich unaufhaltsam weiter zu. Diese herrschende Minderheit von wenig mehr als einem Prozent der Bevölkerung verteilt vor allem seit dem Untergang des Sozialismus nahezu 50 Prozent des Sozialprodukts der Menschheit Jahr für Jahr zu ihrem eigenen Nutzen um, vor allem über die Weitergabe von Milliardenbeträgen frisch gedruckten Geldes zu weitaus höheren Zinsen als sie selbst dafür bezahlen an Industrieunternehmen, Landwirtschaftsbetriebe und an privaten Käufer von Wohngrundstücken und Häusern, zuletzt aber auch an Staaten, die einen Großteil ihres Steueraufkommens an die Superreichen verpfänden müssen.   Es wird schon in einigen Jahrzehnten daher  zu einer zweiten demokratischen Revolution kommen, die vollkommen gewaltfrei in den Wahlkabinen ausgetragen wird, die aber nach ihrem Sieg möglicherweise gegen den illegalen Widerstand der heute noch herrschenden Superreichen und Bankenmanager verteidigt werden muss. Wenn es dann gelingt, diesen Widerstand zu brechen, werden wir bereits eine bessere Welt als heute haben.

Die nächsten Aufgaben der Marxisten im Vorfeld dieser zweiten demokratischen Revolution betreffen also die laufende wissenschaftliche Analyse der Widersprüche zwischen Produktivkraftentwicklung und der Verteilung des durch die materielle Basis geschaffenen Sozialprodukts, sodann die Analyse des Lobbyismus der Superreichen hinsichtlich seiner Einflussnahme auf verschiedene Bereiche des Überbaus. Ziel der Marxisten ist es in diesem Zusammenhang, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch in allen anderen Bereichen des Überbaus, wie unter anderem in den Medien, nach und nach mehr  den demokratischen Prinzipien Geltung zu verschaffen. An der unmittelbaren demokratischen Machtausübung wollen wir Marxisten uns aber so wenig wie möglich beteiligen, zum Beispiel keine eigene marxistische Partei gründen. Die Marxisten sollten sich vielmehr alsbald in relativ zwanglosen marxistischen Vereinigungen zusammenschließen, die sich mit einer wissenschaftlichen Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung sowie der in diesem Prozess wirksamen Widersprüche befassen und die Ergebnisse dann veröffentlichen sowie auch über Fernsehtalkshows und ähnliche meinungsbildende Veranstaltungen an ein breites Publikum herantragen – natürlich on offener Auseinandersetzung mit gegenteiligen Auffassungen.

Politische Ökonomie statt Psychologie
Entscheidende Ursache der geschichtlichen Veränderung der Gesellschaften sind nach marxistischer Auffassung die Widersprüche zwischen Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. … Die Verstaatlichung löst diese Widersprüche und macht den Weg frei für eine qualitativ neue Gesellschaftsordnung, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben ist. Gleichzeitig kann durch zentrale Planung und Leitung besser auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen eingegangen werden. … Eine solche Wirtschaft hat gegen freies Unternehmertum und verteilte Intelligenz – gegen den global agierenden Kapitalismus keine Chance. Die nicht konkurrenzfähige Wirtschaft hat deshalb letztendlich in den Untergang des Realen Sozialismus geführt.

Die Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen führen nicht erst im Kapitalismus zu gesellschaftlichen Veränderungen, vor allem im Überbau und hier zuerst in der vorherrschenden Ideologie. Auf diese Weise entstand im 18. Jahrhundert die Aufklärung und in ihrer Folge das politische Programm der Großen Bürgerlichen Revolution in Frankreich, die Deklaration der Menschenrechte, deren Proklamation dem Sturm auf die Bastille unmittelbar voranging. Als im 19. Jahrhundert der Kongress der USA unter dem Einfluss von Präsident Lincoln kurz vor dem Ende des Bürgerkrieges die Verfassung änderte und seither die Sklaverei abgeschafft ist, ging dem ebenfalls eine deutlich stärkere Entwicklung der Produktivkräfte des Nordens und die starke Verbreitung einer humanistischen Ideologie voraus. Wer diese Zusammenhänge zu leugnen versucht, macht sich heutzutage nur lächerlich.

Bestimmte Widersprüche zwischen egoistischen Privatinteressen und gesellschaftlichen Interessen durch partielle Verstaatlichungen zu lösen, wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder praktiziert. Anders hätten die Römer ihre großen Straßen nicht bauen können und  wären im 19. Jahrhundert in Deutschland keine Eisenbahnen, Kanalisationen, Stromleitungen usw. gebaut worden. Verstaatlichungen sind bis heute in ähnlichen Zusammenhängen im Gespräch. Die ursprünglich als Staatskonzern geschaffene Volkswagen-AG war und ist eines der erfolgreichsten Unternehmen Deutschlands. Zum Untergang des realen Sozialismus haben nicht Verstaatlichungen an sich geführt, diese waren angesichts der deutschen Teilung und der Verlagerung sämtlicher Konzernzentralen nach Westdeutschland sogar unvermeidlich. Der entscheidende Fehler war, die Verstaatlichungen immer weiter voranzutreiben und am Ende auch die rentablen mittelständischen Betriebe noch zu verstaatlichen. Diese Veränderung der Produktionsverhältnisse war durch die Produktivkraftentwicklung in der DDR nicht indiziert, sie stand im Widerspruch zu den Erfordernissen der Produktivkraftentwicklung. Das Entwicklungsgesetz des Historischen Materialismus wandte sich gegen eine gute Wirtschaftsentwicklung der DDR. Nicht das Marx’sche Entwicklungsgesetz ist in der Folge gescheitert, sondern die ökonomische Praxis der DDR ist gescheitert, die dieses Entwicklungsgesetz verletzt hat.

Die absolute Verelendung des Proletariats
Marx schrieb über die kapitalistische Akkumulation: … Je größer endlich die Armenschicht in der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer die offizielle Zahl der Armen. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.   Ideologen machten daraus das Gesetz von der ‚absoluten Verelendung des Proletariats‘ und warteten vergeblich darauf, dass die absolut verelendeten Proletarier massenhaft in das sozialistische Lager überlaufen würden. Genau das Gegenteil passierte: …

Marx hat nach Ihrem Zitat sogar Recht gehabt, das war mir bisher gar nicht bewusst: „Je größer die Armenschicht …“ usw. Das ist ja vollkommen richtig und gilt sogar heute mehr denn je. Falsch war dagegen anzunehmen, die gesamte Arbeiterschaft würde einem unausweichlichen Verelendungsprozess unterworfen. Seit der Sozialismus untergegangen ist, ist bekanntlich die Verelendung einer heute Prekariat genannten Unterschicht der Bevölkerung wieder zum Thema geworden. Der Kapitalismus bekommt das Problem der Verelendung gar nicht mehr in den Griff. Die Sache ist viel zu ernst für einen süffisanten Schlagabtausch mit den zurzeit angeschlagenen Marxisten.

Wie geht es weiter?
Die beschriebenen Irrtümer der Marxisten sind klar und eindeutig … eine wissenschaftliche, fundierte Kritik des Marxismus sucht man vergebens. Dafür aber sind im Internet viele Marxisten präsent, um die reine Lehre zu propagieren. … Niemand ist in Sicht, der durch Analyse und Synthese ein neues Konzept für eine bessere Gesellschaft auf die Beine stellt.  …  Wer ein Leben lang nur ‚Klassiker‘ interpretiert hat, ist offenbar trotz des dialektischen Materialismus unfähig, über den Tellerrand zu gucken.    Mit Spannung sehe ich den Protestschreiben entgegen und warte auf die Beweise zur Widerlegung meiner Auslassungen.

Die Vorlage von Prof. Albrecht ist für eine marxistische Antwort von derart hervorragender Qualität, dass ich mich dafür nur aufrichtig bedanken kann. Seiner Systematik konnte ich mich ohne weiteres unterwerfen, seine Aussagen zu theoretischen und praktischen Fehlern der ehemaligen DDR-Marxisten, zu denen ich mich vorbehaltlos auch zählen darf, kann ich in vielen Fällen übernehmen. Dort wo ich nur kleine Präzisierungen einbringen würde, habe ich darauf verzichtet und bitte die Leser, sie trotz meiner Zustimmung mitzudenken.

Die Schärfe meiner Polemik an einigen wenigen Stellen bitte ich zu entschuldigen. Das ist noch alte marxistische Tradition, wie zum Beispiel in Friedrich Engels‘ „Anti-Düring“.  Prof. Albrecht hat an anderer Stelle ja selbst geschrieben, dass ihm das nichts ausmacht. Die Marxisten des 21. Jahrhunderts und ganz besonders diejenigen, die aus der untergegangenen DDR bis heute noch überlebt haben, sind in der Tat aufgerufen, durch Analyse und Synthese ein neues Konzept für eine bessere Gesellschaft auf die Beine zu stellen. Diesen Auftrag nehme ich im Namen der Marxisten gerne an, und wer es besser kann als ich, möge sich umgehend zu Wort melden.

M. V. Meerweg

 

Jürgen Albrecht, 21. April 2012
update: 08.05.2013

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