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Flucht und
Internierung 1945

Notizen von Reiner Albrecht aus dem Jahr 1952

 

   

Am 7. Mai 1945 ging unsere Familie, die Eltern und drei Jungen im Alter von 5, 9 und 13 Jahren, von Waldenburg in Schlesien aus auf die Flucht nach Westen. Mein Vater, Fritz Albrecht, war Prokurist im Eisenwerk Kurt Fiebig, Waldenburg. Der Firmeninhaber stellte die Fahrzeuge für die Flucht bereit.

Wir kamen nicht weit, sondern wurden in der Tschechei gefangen genommen und im Hunger-Lager Hagibor bei Prag vier Wochen lang interniert. Danach wurden wir als Zwangsarbeiter aufs Land gebracht, wo mein kleiner Bruder Gerd am 12. Juni 1945 an den Folgen des Hungers starb. Erst im September 1946 wurden wir in offenen Güterwagen zurück nach Deutschland transportiert und landeten in Salzwedel.

Mein Bruder Reiner beschreibt 1952 seine Erinnerungen an diese Zeit:

 

Flucht und Internierung 1945 - Reiner Albrecht

Deckblatt des Manuskripts von Reiner Albrecht

 

Flucht und Internierung 1945 - Reiner Albrecht

 

Schnapsbrennerei Steckly

Es ist Winter geworden, der erste Winter, den ich nicht in den Bergen, sondern im Flachland, 60 km nordöstlich von Prag verlebe. Gegenüber letztem Jahr, 1944, ist dies fast unmöglich, es hat bis jetzt kaum geschneit, wir haben fast Weihnachten, für uns sonst unvorstellbar. Ob es nun an der Gegend liegt, daß hier anderes Klima als zu Hause herrscht, oder ob alles jetzt neuerdings Kopf steht, ich weiß es nicht. Bei klarem Wetter können wir von hier aus die Schneekoppe sehen, allerdings müßen wir jetzt nach Norden sehen, und nicht mehr wie früher nach Osten.

Es hat nun doch noch geschneit, draußen ist nichts mehr zu tun, der Boden ist gefroren, im Übrigen sind wir mit dem Pflügen fertig, es wird eine ruhige Zeit werden. Augenblicklich stehe ich hier im Stall und mache Zuckerrüben, übrigens eine Arbeit, die ich schon seit Tagen am Vormittag mache. Der Stall ist der einzige warme Ort, die Kühe haben sich hingelegt und gehen ihrer einzigen Beschäftigung nach, die ihnen jetzt zu tun übrig bleibt - Zu fressen und dann widerzukäuen. Fast genauso eintönig ist meine Beschäftigung hier, jeden Tag dasselbe, den Dreck von den Rüben kratzen, schälen, zerschneiden, jetzt werden es wohl genug sein, werden wir sie mal kochen gehen - Hier im Schweinestall ist es deutlich kälter. Rein mit dem Zeug in den Dämpfer, zum Feuermachen gibt es nur Holz. Muß also dabei stehen bleiben bzw. warten, bis die Rüben gar sind.

„Heiner!“ Pan Steckly ruft mich, dann soll es also losgehen. „Heiner mach zu die Fenster und mache Feuer!“ Es ist also soweit, nach 20 Uhr, Besuch kommt keiner mehr und wir können unserer allabendlicher „Arbeit“ nachgehen und Schnaps brennen.

Die ganze Anlage besteht aus einem großen, blauen Emailletopf, in den das stinkende, gegorene Wasser der Zuckerrüben reinkommt, darauf ein Deckel in den er zu Panis Schrecken ein Loch gehauen hat, abgedichtet wird der Rand durch einen langen Streifen von Filz eines alten Hutes. Inzwischen brennt das Feuer, es fängt an warm zu werden und gleichzeitig zu stinken, wenn hier mal jemand kommt, dann ist er aber reingefallen (der Steckly), denn das riecht man ja meilenweit, was hier vor sich geht. „Hol die Stamperl her, wir haben noch von gestern da, komm her gieß ein!“ „Wohlsein“. Ach, das ist ja der Anfang von jedem Abend, so geht es jetzt bis wir die 1½ Liter abdestilliert haben, dann ist die Hälfte schon wieder versoffen. „Heiner, das ist ja reines Wasser! Mach den Deckel auf, das kommt da wieder rein, so gibt es heute mehr! Dann geh nach Eis zum Kühlen für das Rohr!“

Ich haue ab, wir haben extra draußen eine Schüssel stehen, in der unser Eis des Tages über für den Abend entsteht. Als ich wiederkomme ist er schon wütend, daß ich so lange weg war: „Das Beste geht in die Luft! Du bist wirklich zu blöd - Was hast Du gemacht?“ Na, jetzt wird ja die Messingschlange gekühlt, die ersten Tropfen des köstlichen Naß tropfen in den Trichter und dann in die darunter stehende Flasche.

„Los, komm trinken, jetzt ist das Beste!“ Zum Wohl, jetzt am Anfang hat das Zeug wahrscheinlich 90 Prozent, da kann einem so ein Stamperl voll erst mal für eine Weile die Luft wegnehmen - „Wohlsein“ - „Oh Heiner - nu was ist mit Dir? Ist wohl zu stark? Dann mache Tschai!“ Wir trinken Tee mit Rum. Erst einmal wieder Eis holen, und dann ständig das Wasser umrühren und im Ofen anlegen.

Unterdessen dreht sich Steckly eine Zigarette - „Du auch?“ Er will, daß ich rauche, dazu aber hat er mich noch nicht bringen können, wenn ich aber nicht trinken will, wird er wild, dann ergeht es mir übel. Jetzt müßen wir erst die Flaschen wechseln, die Prozente haben abgenommen. Ein halber Liter ist raus, jetzt ist es schon wesentlich besser zu trinken und brennt nicht mehr so im Halse. Mit Tee schmeckt es übrigens nicht übel, wir kochen schönen starken Tee, dann halbe halbe, schön heiß getrunken, es wird uns ganz schön heiß bei dieser Tätigkeit.  

 

Weihnachten 1944

Unser Kinderzimmer haben wir an Flüchtling aus Breslau abgeben müßen, alle Tage ziehen große Trecks mit Flüchtlingen aus Oberschlesien hier durch. Gestern kamen welche aus Ohlau, und dann diese Hundekälte. Alle Tage schneit es, die Leute haben keine Bremsen an den Wagen und es laufen stets welche hinterher, die Stangen in die Speichen stecken und so bergab bremsen. Wir haben schon riesige Kessel Kaffee gekocht, aber es sind zu viele Leute, da am Tage vorbeikommen - wo mögen die bloß alle einmal wieder eine Wohnung finden? Die Front kommt aber auch immer näher, unsere Schule ist seit Weihnachten Lazarett geworden, wir haben keinen Unterricht mehr, es ist herrlich. Bei dem schönen Wetter geht es jetzt mit den Brettern raus, der Nachmittag ist immer so kurz, jetzt können wir auch Vormittag schon fahren gehen.

Heute Abend will, wie ich gehört habe, Onkel Carl reinkommen, unsere „Särge“ sollen zugelötet werden. Gestern Abend habe ich mit Vatel im Keller die Löcher ausgeschachtet, im Dunkeln haben wir die Erde weggebracht, jetzt wollen wir die Kisten erst mal vollpacken. Bettwäsche, Leibwäsche, Mäntel, Schmuck, auch die große Bernsteinkette von Muttel kommt rein, 1,30 m lang, 60 x 60 cm breit, da passt schon eine Menge rein! Ich habe meinen Transformator auch noch mit eingeschmuggelt, „soon Unsinn“ sollte da nämlich gar nicht mit reinkommen. Die Leute im Hause haben sich schon gewundert, was wir im Keller gemacht haben, sollen sie sich ruhig weiter die Köpfe zerbrechen.

 

Brotbacken

November 1945 - Heute Abend soll ich mit dem Tischler mitkommen zum Wildentenschießen, das wird ja interessant werden, erst müßen wir aber noch Brot backen. Pani Steklova knetet schon den Teig und ich muß mich mit dem Feuermachen beeilen. Einen halben Meter sind die Akazienscheite lang, ganz schön dick, davon muß ich nun 30 Stück in dem Backofen verfeuern. Das gibt eine ganz nette Hitze, das knackt und prasselt und sieht wie ein Scheiterhaufen aus. Das Holz macht aber wenig Asche und wenig Rauch, wenn es weggebrannt ist, wird das kleine Häufchen Asche vor ein Loch gezogen, Sägespäne in den Ofen gestreut und dann muß das Brot auch fertig sein. Mit langen Schiebern kommt es dann rein in den Ofen und wird abgebacken. Dann haben wir wieder für acht Tage zu essen. Beim letzten Backen habe ich noch ein ganzes Brot mitgekriegt, als ich nach Hause gegangen bin, die Eltern haben sich sehr gefreut darüber, für Vatel hatte ich noch einen halben Liter Schnaps geklaut, ich habe aber erzählt, den hätte ich auch gekriegt.

Heute habe ich ein Melksieb mitgenommen, es darf bloß keiner sehen, sonst merken die noch, was wir nun wieder gedreht haben! Vatel soll im Kuhstall den Kälbern Kleie verfüttern, da nehmen wir die aber erst mit zu uns, und sieben sie aus - Vieh frißt auch Schalen, wir kochen uns Suppe von dem Hafermehl! Allerdings ist das dann auch noch kein Festessen, denn das Zeug schmeckt doch eben ohne Salz furchtbar und Salz kriegen wir bloß 1/4 Pfund pro Monat auf die Marken, das reicht nicht lange. Beim Kaufmann, den wir Deutsche nur den „Halsabschneider“ nennen, in Viklek, haben wir auch schon rotes Viehsalz gekriegt, aber das ist viel teurer noch, als das richtige auf Marken. Muttel kann immer noch nicht mehr tschechisch als ihr einziges Wort „Bobkowe List“, was Lorbeerblatt heißt. Jürgen geht immer mit zum Einkaufen und macht den Dolmetscher.

 

Angekommen in Berunicky

Anfang Juli 1945 - Wir sind also nun gestern hier nach Berunicky gekommen, mit einem Pferdewagen sind wir hergefahren zu 16 Mann. Hier wohnen schon mehrere Familien auf dem Hof, sie sind aus der Gegend von Oppeln, wir haben hier zu 16 Personen ein Zimmer und eine Küche. Erst haben wir uns Stroh aus der Scheune geholt und es hier auf den Fußboden gestreut, damit man sich in der Nacht überhaupt hinlegen kann. Jede Familie hat hier ein paar Quadratmeter Raum, am Kopf stehen bei uns ein Rucksack und ein Topf und der Korb, den wir in Slibowize mitgenommen haben. Die anderen haben auch nicht mehr, zum Waschen ist für alle ein Eimer da, zum Kochen ein Ofen. Das wird ja ein lustiges Leben werden! Muttel hat sich gestern beim Fensterputzen etwas gestaucht, sie ist von der Leiter gefallen und kann nicht mehr laufen! Vatel war bei einem Arzt, „Deitsche“ werden aber nicht behandelt, können krepieren - herkommen tut kein Arzt!

Wir haben uns für vier Mann einen Stuhl organisiert, darauf steht das Essen, wir sitzen auf Holzklötzern. Pan Votik heißt der Tscheche, bei dem wir jetzt sind, er ist im KZ gewesen, soll aber nicht ein ganz schlechter Mann sein. Vatel hat er schon angeschnauzt: „Albrecht sein teuerster Mann auf Hof, vier essen, einer nur arbeitet!“ Was können wir dafür, daß Muttel hier verunglückt? Ich muß für uns vier das Essen kochen, Muttel sagt, wie es gemacht wird, ich fabriziere es. Gefeuert wird mit Stroh hier, hat man sowas schon gesehen, hier gibt‘s weder Holz und Kohle kennen die gar nicht. Einer sitzt dauernd am Ofen und muß einen Strohwisch nach dem anderen reinstecken, das Zeug macht nämlich keine Glut und wenn man es verpaßt, muß man wieder anzünden. Jeder von den Kindern muß mal heizen, genau nach Uhr, die anderen sind inzwischen zum Strohholen weg. Heute gibt es bei uns Erbsensuppe.

 

Erste Bekanntschaft mit Steckly

Anfang September 1945 - Heute Morgen stand ich im Hofe, da kam ein Tscheche und fragte mich, ob ich ihm heute mal helfen will. Jürgen ist auch gleich mitgekommen, da haben wir mit dem Mann gepflügt. Ich habe zuerst die Kühe führen müßen, konnte sie aber nicht rüberziehen, daß sie also immer schräge über das Feld gingen. Dann hat sie der Pan Steckly, so heißt er nämlich, genommen, mit Hurra ging es dann los, der hatte nämlich einen Knüppel mit, da konnte ich aber wieder den Pflug nicht halten, ich habe doch so ein Ding noch nie gesehen, viel weniger geführt.

Dann hat er es mir gezeigt, nach rechts bewegt, geht er tiefer, nach links flacher. Daraufhin ist es besser gegangen. Jürgen mußte die Kartoffeln auflesen, die beim Pflügen noch rauskamen, es war nämlich ein Kartoffelfeld. Er ist aber noch zu klein und kann den Korb mit 20 Pfund Kartoffeln nicht dauernd tragen. Am Abend haben wir ein ganzes Brot bekommen, das haben wir aber heute zum Abendbrot fast aufgegessen. Wir sollen morgen wiederkommen.

Heute waren wir wieder auf demselben Feld, zum 2. Frühstück gab es Schnitten mit Fett, sowas haben wir seit zu Hause nicht mehr gekriegt. Dann ist mir aber was passiert: Wir hatten heute drei Kühe mit und ich sollte nach dem Frühstück eine alte ausspannen und eine junge dafür einspannen. Die junge hat sich aber losgerissen und tobte auf ein fremdes Feld und zertrampelte dort die Rüben. Als ich ran war, schlug sie aus und lief weiter, ich weiter hinterher. Hinter mir tobte der Bauer auf Tschechisch, ich verstand nichts, vor mir die wütende Kuh, die dann schließlich nach Hause rannte. Als ich wieder auf‘s Feld kam, sagte der Bauer, er wollte mir „paar Watschen ins Gesicht“ geben und als ich dann mit Jürgen nach Hause auf den Hof ging, da erzählte der mir ‘ne ganze Menge: „Der ist auch zu blöd, hat Angst vor der Kuh“, hat der alte Kerl gesagt und ist ganz schön wütend gewesen.

 

Jagd auf Enten

Jetzt bin ich schon drei Wochen bei dem Bauern, abends gehe ich aber immer noch auf den Hof und übernachte dort, ich soll aber hierbleiben und hier schlafen.

Heute bin ich aber nicht gleich heimgegangen, wir wollten doch Enten schießen gehen. Der Tischler hatte einen Hund mit, dazu eine Doppelflinte, die er unter den Mantel gesteckt hat. Draußen vor dem Dorf gingen wir dann am Graben lang und ab und zu hörten wir dann auch Enten wegfliegen. Als der Mond aufgegangen war, da schoß der Tischler dann auch, der Hund brachte sie uns her und der Tscheche sagte mir dann, daß ich sie haben sollte, er darf keine mit heimbringen, weil das Schießen verboten ist.

Ich glaube jedenfalls, das meinte er, denn ich verstand ihn ja auch nur halb. Zu Hause habe ich dann erzählt, ich habe die Ente gefunden, sie ist irgendwo gegen eine Mauer geflogen und hätte noch gezappelt. Morgen soll es Graupensuppe geben mit echt Wildentenbrühe!

 

Ich habe Geburtstag

24. Juli 1945 - Heute habe ich also Geburtstag und werde 13 Jahre alt. Im Übrigen ist es ein Tag wie jeder andere, ich habe schon auf ganz andere Weise meinen Geburtstag gefeiert, denn zu Hause waren immer Ferien und ich war oft bei den Großeltern für ein paar Wochen, um dort die Ferien zu verleben. Wie ich gehört habe, soll ich auch heute noch eine Überraschung bekommen, auf jeden Fall darf ich nicht in die Küche, denn dort wird sie wohl erst gebaut.

Ich bin daher den ganzen Vormittag bei Vatel im Stall, der jetzt 10 Ochsen und 15 Kälber in seinem Stall hat. Frühmorgens um 6 Uhr (?) geht es aufs Feld zum Futterschneiden, meist Luzerne, wenn es geregnet hat, oder noch regnet, ist das Zeug alles zusammengehauen und die Maschine kann es nicht abhauen, dann ist es sehr schwer, das nasse Futter mit der Gabel auf den Wagen zu laden und runter geht es dann schon gar nicht mehr. Die langen Wagen sinken bis über die Achsen in den Lehmboden ein, vier Ochsen müßen vorgespannt werden um ihn erst mal auf die Straße zu ziehen. Im Hof wird das Futter dann abgeladen, kommt durch die Häckselmaschine und wird klein geschnitten und mit Spreu vermengt. Gefüttert wird dreimal am Tage, jeden Tag brauchen sie zwei große Lastwagen Grünzeug. Im Winter soll dann noch Erbsenstroh verfüttert werden, das liegt über dem Stall auf dem Boden, in der Wand über unserer Stube ist aber auf dem Boden ein Loch, wo wir jetzt immer Erbsenstroh runterholen und verfeuern, das brennt nämlich besser als das Weizenstroh, da kann man ein besseres Feuer damit machen.  Hauptsache Pan Votik merkt mal nicht die Sache, dann ist ja sicher was los!

Als ich am Mittag heim kam, sah ich lauter betrübte Gesichter - Ich bekam eine Torte geschenkt, es sollte jedenfalls eine sein, sogar eine Kaffee-Torte, nun hatten sie sie nicht braun gekriegt, sie war oben und unten weiß, nur abgetrocknet. Oben war noch Mohn draufgestreut, den hatte Jürgen irgendwo auf dem Feld geklaut. Muttel kann ja immer noch nicht aufstehen, sie hat sich mächtig geärgert, was man mir da gebacken hat. (Der Ofen, geheizt mit Stroh, machte nicht genügend Hitze).

 

Auf der Flucht und im Lager Hagibor

8. Mai 1945 - Wir fahren schon stundenlang auf einem Lastwagen durch die Gegend, es ist inzwischen dunkel geworden, wo wollen die uns bloß hinbringen? - Endlich kommt wieder mal eine Stadt, Straßenbahnlinien fahren hier, es ist erst drei Tage her, da konnten wir auch noch in der Straßenbahn sitzen und nach Hause fahren. Jetzt besitzen wir noch eine wollne Decke und eine große Blechbüchse, das ist alles, was wir noch haben, außer dem, was wir gerade anhaben, und das ist bei mir eine schwarze kurze HJ-Hose und eine Jacke. Ich hatte noch einen schönen Hirschfänger, den haben sie mir aber abgenommen, als sie Waffen bei uns suchten.

Jetzt sind wir hier durch ein Tor gefahren, es sieht aus wie ein Barackenlager, denn am Eingang stehen Posten. „Dole!“ Runter! Wir sind also erst mal am Ende unserer Reise, hundemüde, ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal geschlafen haben. Hunger habe ich auch, aber noch viel mehr Durst, hier ist es stockdunkel, es mag wohl Mitternacht sein.
9. Mai 1945 - Als ich morgens aufwache, liegen wir auf einem Tisch, zugedeckt mit einem Militärmantel, den Vatel unterwegs gefunden hat. Gestern Abend haben sie uns nochmals durchsucht, Messer, Gabeln, Scheren, sogar Nadeln müßen abgegeben werden, natürlich auch Uhren, Schmuck, Wertsachen und Sparkassenbücher. Bei wem noch was gefunden wird, der wird erschoßen! Ich habe aber noch sehr viele wertvolle Briefmarken bei mir, ich habe doch zu Hause mit Vatel gesammelt, die sollen diese Kerle aber nicht in die Finger kriegen. Ich habe sie dann alle dort in die Abortgrube geworfen, gesehen hat mich keiner dabei. Wir sind übrigens in Prag, oder am Stadtrande von Prag (Hagibor) in einem großen Lager von 12..000 Personen. Gegen Mittag werden wir eingeteilt und kommen auch in eine Baracke, bekommen zu 5 Mann 4 Betten: übereinander stehen zwei Holzgestelle mit Strohsäcken, oben ist es mörderisch heiß am Tage und außerdem ist oben die Luft am schlechtesten. Hoffentlich gibt es bald was zu essen, wir haben doch nichts mehr. Das Wasser darf man hier nicht trinken, man kann sonst Typhus, Cholera und sonst noch anderes bekommen.

Mitte Mai 1945 - Wir sind Gefangene und wohnen in einer Baracke - so ist das also! Jeden Tag ist dasselbe, morgens Kontrolle, Antreten ob auch keiner ausgerißen ist - möchte wissen wohin! Dann werden Leute rausgesucht zum Arbeiten, die sollen besser zu essen kriegen, ich will auch mal mitgehen denn hier gibt es morgens zwei Stück Knäckebrot und eine Kelle Kaffee, den holen wir uns immer in einer Konservendose. Mittags gibt es Suppe, wir haben einen Topf gefunden 1 ½ Liter, da geht sie für fünf Mann gerade rein. Dann setzen wir uns auf den Bettrand und Muttel gibt immer reihum jedem einen Teelöffel voll, das ist der einzige, den wir haben. Das dauert zwar lange, aber wir haben ja Zeit. (Durch die Suppe kann man bis zum Boden des Topfes durchgucken, es schwimmen nur ein paar Kartoffelstücke im warmen Wasser)

Welche Uhrzeit genau ist, wissen wir sowieso nicht, in der Baracke hängt aber vorn ein Wecker, da kann man nachsehen. Habe aber eine Sonnenuhr gebaut, die geht aber nicht genau.

Abends gibt es wieder dasselbe wie zum Frühstück, wir können abends immer nicht einschlafen, weil uns der Magen so weh tut. Muttel hat gestern in einem Krankenhaus Fenster geputzt und hat uns ein paar Schnitten mitgebracht.

Mai 1945 - Heute war ich mit Muttel mit zum Arbeiten, wir kamen aber nicht in das Krankenhaus, sondern irgendwo auf‘s Land, mußten erst eine Stunde laufen und wurden von Militärs mit GM‘s begleitet. Dort haben wir dann Rüben geeinzelt, dabei tut einem furchtbar der Rücken weh, wir durften aber bis Mittag keine Pause machen, ein Soldat hat Muttel mit der Peitsche geschlagen, weil sie sich mal gerade hingestellt hat. Mittags kriegten wir angebrannte Graupen, jeder aber so viel er wollte, ich konnte aber nicht viel essen, ich war bald satt. Am Nachmittag ging es wieder „na pole“, d.h. aufs Feld, ganz lange Felder, wir kamen nur einmal bis zum Ende und wieder zurück, dann mußten wir wieder eine Stunde zu Fuß nach Hause, d.h. bis ins Lager laufen.

Vatel war dort heute auch abgeholt worden, die dachten, er wäre bei der SS gewesen, diese Leute kommen alle weg von ihrer Familie, in ein anderes Lager, heißt es. Schreiben dürfen wir nicht nach Hause, das ist verboten. Wann wir hier wegkommen weiß man nicht.

 

Jagd auf Hühner

Februar 1946 - Heute haben wir einen Fang gemacht! Muttel hat Brot vor die Tür gestreut, und die Hühner, die im Hof rumliefen haben das dann aufgelesen. Eine Henne ist dann dem Brotstücken nachgegangen, in unserem Flur, worauf dann Jürgen die Türe von außen zugeschlagen hat! Nach einer wilden Jagd in der Küche hat Muttel dann die Henne erwischt und ihr den Hals umgedreht, da gibt es wieder mal ein feines Mittagessen!

Einmal haben wir so ein Biest schon mal in der Küche gehabt, aber die war noch wilder, ist gegen das Fenster geflogen und hat dabei die Scheibe zerschlagen. Natürlich ist sie uns dann auf diese Weise wieder entkommen. Pan Votik hatte wieder mal Grund, auf Albrechts zu schimpfen, die eben auch alles kaputt machen. Eine neue Scheibe haben wir aber nicht gekriegt, jetzt haben wir eine Schieferplatte in das Loch geklemmt, das zieht nämlich mächtig.

Jürgen hat im Stall mit der Peitsche Schwalben gefangen und sie Muttel gebracht, damit sie daraus Suppe macht. Das hat viel Arbeit gemacht, weil die Schwalben so klein sind, es war auch nur wenig Suppe, aber mit Fettaugen, Muttel wollte keine Schwalben mehr, das war zu mühsam.

 

Be- und erschossen auf der Flucht

8. Mai 1945 - Wir sind mit unserem großen Wagen (LKW) jetzt über Gablonz gefahren, wo ich ein Kommissbrot von unseren Soldaten bekommen habe und dazu eine Konservendose mit Fett. In der Nacht ist unser Wagen von Tieffliegern beschossen worden, wir haben aber gehalten und die Lampen abgeschaltet, passiert ist nichts. Letzte Nacht sind wir durch Berge gefahren, es war ziemlich steil manchmal und der große Anhänger hat ganz schön geschoben. Nach Waffen sind wir auch schon untersucht worden, die mußten wir abgeben. Jetzt sind wir hier in Jungbunzlau und kommen nicht weiter, wir dürfen jedenfalls nicht weiterfahren. Wir stehen hier in einem großen Park, es wird mit dem Leuten verhandelt, die fuchteln mit ihren Schießeisen in der Luft rum, haben den Anhänger abgehängt, wo unsere ganzen Sachen drauf sind, die wir noch gerettet haben und nun sollen wir weiterfahren. Das könnte denen wohl so passen! Die Personenwagen haben sie uns ohnehin schon beschlagnahmt, jetzt uns vielleicht auch noch unsere Sachen wegnehmen, wir wollen ja bloß weiter, fort von hier, rüber nach Bayern.

Ergänzung von Reiner am 08.05.1995: Bei einer derartigen Kontrolle wurde Herr Fiebig jun., der einen langen Ledermantel trug, der SS zugehörig verdächtigt und drei Meter abseits des Fahrzeugs erschossen. Seine Mutter war auf dem Fahrzeug und verstarb in Hagibor. 

 

Hungern im Lager Hagibor

20. Mai 1945 - Es geht das Gerücht um, daß wir nach Hause schreiben dürften, wir sollen nämlich erst noch sechs Wochen auf das Land zu Bauern kommen um dort bei der Ernte zu helfen. Hier im Lager ist inzwischen Diphterie ausgebrochen, die Leute kommen alle in eine Krankenbaracke, es sollen auch schon welche gestorben sein. Eine alte Frau, die neben uns lag, ist gestern auch gestorben, man hat es erst gar nicht bemerkt. Die Toten werden auf einer Anhöhe im Lager begraben, ohne Särge, ohne großes Aufheben. Schlimm ist es mit dem Essen, es wird furchtbar gestohlen hier, einer nimmt dem anderen was weg, wenn es nun zum Essen geht. Wir haben uns ein paar Kartoffeln aus den Küchenabfällen rausgesucht, damit wir sie aber kochen dürfen, haben wir noch wieder welche abgeben müßen. Aufgegessen haben wir sie dann hinter der Baracke, damit es keiner sehen sollte - jeder bekam zwei Stück. Wenn wir bloß mehr zu essen hätten, 14 Tage sind wir nun schon hier in diesem Lager Hagibor, immer nur Knäckebrot, 4 Scheiben pro Tag, mittags Wassersuppe. Der Krieg soll übrigens aus sein, wir wissen aber nicht mehr darüber.

Hunger im Lager Hagibor

Vogelfrei und der Heimat beraubt: Die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945, Seite 24
von Wolfgang Hippmann

 

Unfall auf der Flucht

8. Mai 1945 - Weiter geht es von Jungbunzlau aus, die Personenwagen sind dort geblieben, die Leute jetzt alle auf unseren Lastwagen gekommen, es ist dadurch sehr voll geworden. Ich habe aber mal wieder Glück gehabt und sitze vorn bei den Fahrern und kann dadurch allerhand von der Gegend sehen. Es ist jetzt Nachmittag, wir fahren nach Südwesten, kommen vielleicht über Prag. Unsere Wehrmacht kommt uns entgegen, Panzer, LKW, Panzerspähwagen, Gulaschkanonen, überall sitzen Soldaten drauf, alle in die Richtung fahren, aus der wir herkommen.

Die Straßengräben sehen doll aus, umgestürzte Personenwagen, Funkgeräte, riesige Drahtrollen, Panzerfäuste, alles liegt rum, oft brennt es noch. Vorhin haben wir mal gehalten, da habe ich eine Eierhandgranate gefunden, d.h. das habe ich gar nicht gewußt, daß es eine ist, eben habe ich sie aus der Hosentasche geholt und sie dem Beifahrer gezeigt, der hat sie schleunigst aus dem Fenster geworfen, explodiert ist sie nicht. Jetzt habe ich nur noch ein paar Patronen und einen Granatsplitter in der Tasche, die will ich als Andenken mitnehmen. Viele Landser laufen auch zu Fuß, öfter winken auch welche, die wollen mitgenommen werden, wir sind ja aber auch jetzt 30 Personen auf dem Wagen und haben selbst keinen Platz.

Ergänzung am 08. Mai 1995: Während ich noch bei den 30 Personen im LKW saß konnte ich beobachten, daß unter den Erwachsenen Tabletten ausgegeben wurden ... Ich wollte auf keinen Fall an einem kollektiven Selbstmord beteiligt sein und lärmte laut und ständig. Vielleicht saß ich deshalb dann beim Fahrer?

8. Mai 1945 - Eben fuhren wir einen steilen Berg rauf, da kamen uns wieder Soldaten entgegen, mit Pferdewagen, Autos, Kanonen usw. Auf der rechten Seite geht die Wand steil nach oben, dann ist direkt am Bergrand die schmale Straße und links geht es vielleicht 50 Meter steil abwärts. Ein uns entgegenkommendes Fahrzeug ist zu dicht an uns vorbeigerast, hat unseren Anhänger gestreift, unseren Wagen ein Stück zurückgerissen, der fremde Wagen hat aber dadurch so einen Schlag bekommen, daß die Benzinfässer, die er geladen hatte durch die Seitenwand rausflogen und mit Gedonner in den Abgrund stürzten. Niemand will schuld sein, wir sind mit dem Schrecken davon gekommen, es ist zwar alles durcheinandergerüttelt worden, aber wir sind schon ein ganzes Stück weiter und die Sache ist bald vergessen.

Eben war wieder eine „Lagebesprechung“, die Landkarte wurde studiert, wir wissen nicht, wie wir am besten weiterkommen, die Soldaten flüchten alle vor den Russen, wir wollen doch sehen, zum Mai zu kommen. Die Straßen sind furchtbar verstopft, zumal jeder einfach seinen Wagen stehen läßt, wenn irgendwas entzwei gegangen ist.

 

Windhose im Lager Hagibor

Mai 1945 - Diese Nacht war es hundekalt, keiner hat schlafen können, denn es herrscht ein furchtbares Wetter. Erst regnet es, war furchtbar windig dabei und heute Morgen fegte es sogar Schnee durch das Fenster auf unsere Bettgestelle. Durch das Dach lief es ein und tropfte auf die Betten, wir stellten Konservendosen darunter, was aber wenig Zweck hatte. In der Dunkelheit war doch nichts zu unternehmen und elektrisches Licht gibt es hier nicht.
Jetzt scheint die Sonne wieder vom blauen Himmel, wir trocknen unsere Sachen vor der Baracke, von der Decke tropft es noch immer und die obersten Strohsäcke sind teilweise ganz abgesoffen.

Inzwischen ist es wieder windig geworden, die zum Trocknen rausgelegten Sachen wollen wegfliegen, der Himmel sieht jetzt blauschwarz aus, als ob wieder ein Gewitter geben wollte. Jeder trägt seine Habseligkeiten, Decken, Mäntel usw. nach drinnen, denn jetzt scheint es loszugehen. Von Ferne hört man es pfeifen und prasseln, mit einem Male bricht und splittert es auch bei uns in der Baracke und als wir nach vorne laufen, ist ein Drittel unserer Baracke verschwunden! Das Dach ist weggerissen, riesige Fetzen von Teerpappe werden hoch in die Luft geschleudert, die schweren Teile, Balken, Betten, kommen 20 - 50 m weiter wieder zur Erde, inzwischen ist aber diese Windhose bei der nächsten Baracke, hier geht sie in der Mitte durch und es sieht gespenstisch aus, wie bei jetzt wolkenlosem Himmel das Mittelteil einfach unter Prasseln und Knattern in die Luft gehoben wird, während den daneben stehenden Stücken nichts passiert.

 

Kartoffelernte und sture Ochsen

Oktober 1945 - Ich bin wieder auf dem Hof zur Kartoffelernte. Riesige Flächen sind das hier, unter den Hochspannungsmasten, deren Drähte in großen Bögen durchhängen, ziehen sie sich lang, ganz hinten, drei Masten weiter, endet das Feld erst. Die Kartoffeln werden mit der Maschine aus der Erde geschleudert, die Frauen sammeln sie in Körbe auf, die dann in Wagen zu schütten sind. Wir Jungen haben hier auf dem Felde nichts zu tun, wir fahren die vollen Wagen dann gleich zur Ablieferungsstelle in Mestec Kralove, drei Kilometer entfernt. Ich habe ein Ochsengespann vor, es geht also langsam, die Pferde sind schon vorneweg, ich bin der Letzte. Vielleicht brauche ich dann aber einmal weniger zu fahren, so hat das auch sein Gutes. Diese Ochsen laufen eben nun mal nicht schneller, da ist nichts gegen zu machen, denn es ist schon vorgekommen, daß sie mit einer Mistgabel geschlagen wurden, damit sie endlich mal einen Schritt zulegen sollten, dabei ging dann die Gabel zu Bruch! Nur wenn es etwas zu fressen gibt, da können sie laufen, da ziehen sie die schwersten Wagen weg, aber es muß ein Wagen vor ihnen fahren, von dem sie immer ab und zu mal etwas Grünzeug runterholen können, dann dürfen die Wege ruhig aufgeweicht sein, sie ziehen jeden Wagen weg.

Passiert es aber, daß der vordere Wagen zu schnell fährt, und einen Abstand von vielleicht fünf bis sechs Meter bekommt, denken unsere Ochsen, den kriegen wir ja nie wieder ein. Erfolg: Sie bleiben stehen, stur wie sie mal sind, durch nichts mehr zu bewegen, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Schlagen hilft nicht, Zureden auch nicht, Fluchen auf Tschechisch oder Deutsch auch nicht es ist dann eben Feierabend. Nach einiger Zeit ziehen sie dann ganz alleine wieder an, man muß ihnen eben nur Zeit lassen.

Letzte Woche waren wir vor dem Dorfe auf einem Felde, mittags bleiben die Maschinen draußen, nur Pferde und Ochsen werden zum Füttern mit heimgenommen. Auf den Pferden können wir immer bis zum Hof reiten, ich muß nun neben meinen Ochsen hertrotten, die ganz gemütlich heimwärts zogen, sie wußten ja, es gibt dort was zum Fressen. Es war heiß an dem Tage, die Sonne brannte, ich war genauso faul wie meine Tiere, kroch also in die Leine, d.h. hängte mich in sie rein und ließ mich so ganz gemütlich nach Hause schleifen und döste dabei. Aufzupassen brauchte ich nicht, die finden den eigenen Stall immer wieder, das ist aber auch das Einzige. Was man von ihnen verlangen kann.

Mit einem Male wurde ich nach vorn gerissen, ein Auto knatterte vorbei und meine sonst so lahmen Ochsen waren dadurch wild geworden! Raus konnte ich aus der Leine nicht, ich bekam sie nicht über den Kopf, denn ich kriegte ja die Arme nicht raus, so ein Tempo hatte ich aber auch nicht erwartet, ich konnte kaum so schnell laufen. Die Leute auf der Straße grölten nun noch, was die Tiere noch wilder machte, sodaß wir wie die wilde Jagd durchs Dorf jagten. An der Einfahrt zum Hof mußten wir rechts von der Straße abbiegen, es war nun unmöglich, die Kurve zu nehmen und ich schleuderte mit voller Geschwindigkeit auf das an der gegenüberliegenden Seite stehende Umspannhäuschen zu. Inzwischen waren die Kerle ja aber nicht stehengeblieben, und kurz ehe ich mich schon dort um die Mauer sausen sah, wurde ich in die andere Richtung gerissen, durch den Straßengraben hoch und konnte dann wieder mit viel Glück durch die Toreinfahrt kommen, ohne da dagegen zu knallen. Dann war es aus. Als wäre nichts gewesen standen die Hornochsen jetzt da, da hat es aber dann doch noch eine Tracht mit dem Knüppel gegeben.

Augenblicklich ist das jedoch nicht nötig, wir nähern uns ganz bedächtig der Stadt, es geht zwar wie gesagt langsam, die Pferdewagen werden uns sicher bald wieder entgegenkommen, aber wir haben ja Zeit, viel Zeit, uns läuft für hier nichts weg, weder heut noch morgen und in der nächsten Woche auch nicht. Das ist es ja aber gerade, was uns aufreibt, die ewige Ungewißheit. Sechs Wochen sollten wir bei der Ernteeinbringung helfen, jetzt sind wir schon über ein viertel Jahr hier in diesem Nest auf dem Hof, über fünf Monate schon von zu Hause weg, wie lange sollen wir hier noch festgehalten werden? Wir stehen in keiner Beziehung mehr mit der „Außenwelt“, wenn man es einmal so nennen will, hören kein Radio, können keine Zeitung lesen, können nicht nach Hause schreiben, bzw. haben das schon versucht, aber keine Antwort bis jetzt erhalten. So gleicht ein Tag hier dem anderen, grundlegend ist nie etwas anders, Abwechslung ist nur durch Zwischenfälle mit den Leuten hier in das sonst eintönige Leben hier zu bekommen. Auf diese Art der Abwechslung kann man dann aber gut und gerne verzichten, da man als Deutscher meist den Kürzeren dabei zieht.

Inzwischen haben wir es nun auch bald geschafft, in der Stadt sind wir nun glücklich angelangt, der Bahnhof liegt nun etwas am Stadtrand, dahin gilt es also nun das Gespann zu lenken. Mit dem „Vor-sich-hin-Dösen“ wie auf offener Landstraße ist es nun  erst einmal vorbei, es wäre mir recht unlieb, hier etwa irgendwie durch falsche Fahrerei aufzufallen oder gar jemanden umzukarren, die Folgen wären wohl mindestens eine gehörige Tracht Prügel bzw. „a Watschen“ wie man hierzulande sagt, wenn man sich der deutschen Sprache bedient. Eben geht es an der hiesigen Mühle und Großbäckerei vorbei - uns allen in bester Erinnerung, hier kann man, sofern man Glück und allerdings auch das nötige Kleingeld hat, auch mal ein Sechs-Pfund-Brot ohne Marken bekommen.

Was ist denn aber da hinten los? Du meine Güte - Mein Wagen verliert hinten laufend Kartoffeln, aber nicht nur einzelne, die Leute rennen schon mit Körben hinter meinem Wagen her! Ist doch hier auf dem Kopfsteinpflaster der Schieblich des Kastenwagens aufgegangen, ist ja ein mächtiges Loch in den Kartoffeln geworden! Erst muß aber noch ein halber Zentner geopfert werden, sonst kriege ich den Wagen doch nicht zu. Runter also mit dem Zeug - die Menge freut sich, kann ich mir vorstellen, billige Winterkartoffeln!

 

Angekommen in Salzwedel

25. September 1946 - Endlich, nachdem wir nun vier Wochen hier in Salzwedel im Lager gehaust haben, hat sich doch noch jemand gefunden, der uns mit Familie mit zwei Kindern, und noch dazu zwei Jungen, eine Wohnung vermieten will. Es ist ein xx Fleischermeister. Inzwischen sind wir aber auch wirklich die Letzten im Lager, alles andere ist schon seit 14 Tagen raus, z.T. zogen sie auf‘s Land, weil es dort auf alle Fälle versorgungsmäßig besser aussehen wird. Denn eines haben wir inzwischen schon festgestellt: Es wird für uns keine riesige Zeit jetzt anbrechen, wenn wir auch endlich wieder freie Menschen sind, das ist aber auch so ziemlich das einzige, was wir besitzen. Ansonsten kann unser Umzug in unsere neue Wohnung ohne große Schwierigkeiten vonstattengehen, ein Korb, eine Kiepe (voller Äpfel) und ein Zinkeimer sind unser gesamtes Hab und Gut.

Es bedeutet für uns einen völlig neuen Anfang, in jeder Hinsicht. Was soll nun zunächst einmal mit uns Jungen werden? Jürgen kann z.B. nicht mehr einen einzigen Buchstaben schreiben, er ging zu Hause in die 3. Klasse, jetzt haben wir gut 1 ½ Jahre keine Schule mehr gesehen, haben inzwischen mehr oder weniger gut Tschechisch sprechen gelernt, wer dachte da noch an English, Latein, Mathematik?

Doch das ist ja nur eine kleine Angelegenheit am Rande sozusagen, was gibt es da nicht noch alles, wichtiges? Was sollen wir z.B. Anziehen? Wie wir momentan dastehen, Holzschuhe, zerrissene, mit den verschiedenen Flecken wieder zusammengeflickte Sache, jeder besitzt gerade mal ein Hemd, wenn es gewaschen werden muß, muß der ganze Kerl solange im Bett bleiben! Wo wird Vatel wieder Arbeit finden? Die einzige Industrie, die es in dieser Stadt gibt, ist eine Zucker- und eine Pumpenfabrik, wer wartet da gerade auf einen armen Flüchtling, Verzeihung, Neubürger? Überhaupt sind ja die Menschen aus dem Osten nur Menschen 2. Klasse, die wir hier sind, soviel haben wir bereits in den ersten vier Wochen herausbekommen. Flüchtlinge ... nein, wir wollen uns doch nicht bestehlen lassen! Es ist dies nicht gerade ein herzlicher Willkommensgruß für Menschen, die sich viele Monate lang nur mit der Hoffnung aufrechterhalten haben, es muß ja dies alles einmal ein Ende nehmen. Wir kommen ja wieder zurück nach Deutschland, dachten, wo Menschen, denen es vielleicht durch bloßen Zufall nicht so ergangen ist wie uns, uns behilflich sein werden, uns den neuen Anfang etwas zu erleichtern. 

 

Unsere neue Wohnung

26. September 1946 - Heute hat Vater Geburtstag, wir verleben ihn in unserer neuen Wohnung, es ist dies unsere größte Freude, endlich Schluß mit dem Lagerleben, dem Zusammenwohnen mit 20 Menschen in einem einzigen Raume.

Jetzt haben wir zwei Zimmer im ersten Stock, möbliert, ein Schlafzimmer mit zwei Betten und einem Schrank, das „Zimmer“ hat zwei Fenster, 50 x 50 cm oben unter der Decke, nur mit Hilfe eines Stuhles kann man einen Blick nach draußen tun, es ist dies auch ganz gut so, denn man kann von keiner Aussicht sprechen wenn man in den schmalen Schacht eines Hinterhofs mit Mülltonnen, Karnickelställen etc. blickt.

Die „Gute Stube“ hat als totes Inventar ein grau grünes Plüschsofa, Tisch, vier Stühle und eine Wäschekommode. Der Blick aus dem Fenster dieser Stube ist ebenfalls bezeichnend: Zwei Meter voraus steht der Räucherturm der Fleischerei und versperrt den weiteren Ausblick.

Beinahe hätte ich ja aber unsere Küche vergessen, eine Ecke der Stube ist nämlich dazu ausersehen, jedenfalls steht hier ein Herd, sozusagen ein Puppenherd mit einer Herdplatte von 50 x 70 cm. Das Ganze steht auf vier Beinen und ist außen mit Schamottsteinen verkleidet. Nun, eigener Herd ist Goldes wert, wir nennen ihn zwar nicht unser eigen, wie wir ja von Eigentum hinsichtlich dieser Wohnungseinrichtung ohnehin nicht sprechen können.

 

Gedanken zu Neujahr 1946

Betrachtungen zur Jahreswende oder so ähnlich könnte man es nennen, was wir gestern Abend bei einer Flasche Rübenfusel so angestellt haben. Was wird es uns bringen? Ein Wunsch vor allen Dingen: Weg von hier, wenn wir auch nicht wieder nach Hause können, so doch wenigstens unter Menschen, die es vielleicht in mancher Hinsicht ebenfalls schwer haben, aber Schluß mit diesem Leben hier, raus aus diesen Verhältnissen.
Wir sind uns völlig klar darüber, daß wir völlig von vorn anfangen müßen, wir wollen aber auch damit beginnen, lieber heute, sofort, als noch weiter hier sein und zwecklos in den Tag hineinzuleben.

Von großartigem Sylvesterrummel hat man hier auch bei den Tschechen nichts bemerkt, Schnaps ist ja in Mengen geflossen, das läßt sich nicht leugnen, aber dazu wird ja auch jede andere sich nur bietende Gelegenheit wahrgenommen. Weihnachten, Heilig Abend sogar, es läßt sich nicht leugnen, habe ich erst bei Steckly feiern müßen, natürlich ohne Weihnachtsbaum, ohne jede Zeremonie, gegenseitige Einbescherung gabe es ebenfalls nicht, das einzige was es gab war eben der alltägliche Rübenfusel, diesmal nur in einer nicht alltäglichen Menge!

Er hatte alles Mögliche mit dem Zeug versucht, Eierlikör war wohl das gelungenste Gemisch geworden - Nie in meinem Leben trinke ich mehr Eierlikör!! Tee mit Rum gab es noch, dazu Kuchen, natürlich war Rum nur in begrenzter Menge da und wurde dann durch Fusel ersetzt. Ich erinnere mich nicht mehr genau der Reihenfolge, überhaupt habe ich nur noch dunkle Erinnerungen, sicher die letzten klaren Momente meines Gehirns, denn ich muß zugeben, ich hatte den ersten Rausch, wenn man es noch mit dem Worte Rausch bezeichnen kann. König Alkohol triumphierte, ich wehrte mich mit Aufbietung aller Kräfte, mußte ich doch anschließend noch auf den Hof zu den Eltern. Ich weiß nicht mehr, wo ich mich aufgehalten haben mag, zu dem Weg von drei Minuten brauchte ich jedenfalls 1 ½ Stunden und als ich heimkam war es gegen 22 Uhr, ich entsinne mich noch einiger belustigter Leute, die aus mir unbekannten Gründen sich riesig über mich freuten, das hatte aber auch Steckly schon getan, meine Eltern waren über meinen Zustand scheinbar völlig im Klaren, es wurde kein Wort darüber gewechselt und ich fiel wohl im nächsten Moment auf das Stroh, alles um mich herum sich amüsieren lassend.

Wenn ich mich jetzt des 1. Weihnachtsfeiertages erinnere - Mir war alles andere als feierlich zu Mute! Ein dumpfes Gefühl im Kopfe, leerer Magen, keinen Appetit, nur Durst und eine brennende Kehle. Sonst war es ja bei den abendlichen Bekanntschaften mit dem Fusel immer noch glimpflich abgegangen, wir hatten das Trinken nur nebenbei betrieben, mußten ja schließlich den Brennprozeß kontrollieren! Es ist ja auch ganz nett, ein, zwei oder auch vier Glas - man sieht dann die ganze Sache von einer anderen Seite an, Steckly wird gesprächig und erzählt von seinen Heldentaten im 1. Weltkriege, das läßt man sich ja immer noch gefallen. An Weihnachten allerdings, da war es aus mit der Gemütlichkeit, hier lernte ich einmal kennen, wie es dann nach mehr als 10 Glas aussieht!

Wie gesagt, ich nahm mir wohl vor, nie wieder etwas von dem Zeug anzurühren, allzu grausam mußte man dafür büßen, ich habe mich auch gestern an Sylvester noch geschüttelt, wenn ich nur Fusel gerochen habe! Auch in der Hinsicht wird ja das Neue Jahr noch Überraschungen, hoffen wir, nur gute, für uns bereithalten. 

 

Flucht und Internierung 1945 - Reiner Albrecht

Seite 9 des Original-Manuskripts mit nachträglichen Ergänzungen

 

 

Übertragen aus Reiners
handschriftlichem Manuskript
von Jürgen Albrecht, 31. August 2015

Meine Aufzeichnungen zu dieser Zeit
aus dem Jahr 1999:
www.storyal.de ...

Seit Oktober 2015 existiert ein Buch
mit vier Fluchtberichten
von Reiner und Jürgen Albrecht:
www.storyal.de ...

Ein Fluchtbericht von Dr. Hans Peter Pohlmann,
Verwandtschaft des Fabrikanten Kurt Fiebig,
ist hier nachzulesen:
www.boehm-chronik.com ...

 

Jürgen Albrecht, 03. September 2015
update: 05.12.2015

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