Deckblatt des Manuskripts von Reiner Albrecht
Schnapsbrennerei Steckly Es ist Winter geworden, der erste Winter, den ich nicht in den Bergen, sondern im Flachland, 60 km nordöstlich von Prag verlebe. Gegenüber letztem Jahr, 1944, ist dies fast unmöglich, es hat bis jetzt kaum geschneit, wir haben fast Weihnachten, für uns sonst unvorstellbar. Ob es nun an der Gegend liegt, daß hier anderes Klima als zu Hause herrscht, oder ob alles jetzt neuerdings Kopf steht, ich weiß es nicht. Bei klarem Wetter können wir von hier aus die Schneekoppe sehen, allerdings müßen wir jetzt nach Norden sehen, und nicht mehr wie früher nach Osten. Es hat nun doch noch geschneit, draußen ist nichts mehr zu tun, der Boden ist gefroren, im Übrigen sind wir mit dem Pflügen fertig, es wird eine ruhige Zeit werden. Augenblicklich stehe ich hier im Stall und mache Zuckerrüben, übrigens eine Arbeit, die ich schon seit Tagen am Vormittag mache. Der Stall ist der einzige warme Ort, die Kühe haben sich hingelegt und gehen ihrer einzigen Beschäftigung nach, die ihnen jetzt zu tun übrig bleibt - Zu fressen und dann widerzukäuen. Fast genauso eintönig ist meine Beschäftigung hier, jeden Tag dasselbe, den Dreck von den Rüben kratzen, schälen, zerschneiden, jetzt werden es wohl genug sein, werden wir sie mal kochen gehen - Hier im Schweinestall ist es deutlich kälter. Rein mit dem Zeug in den Dämpfer, zum Feuermachen gibt es nur Holz. Muß also dabei stehen bleiben bzw. warten, bis die Rüben gar sind. „Heiner!“ Pan Steckly ruft mich, dann soll es also losgehen. „Heiner mach zu die Fenster und mache Feuer!“ Es ist also soweit, nach 20 Uhr, Besuch kommt keiner mehr und wir können unserer allabendlicher „Arbeit“ nachgehen und Schnaps brennen. Die ganze Anlage besteht aus einem großen, blauen Emailletopf, in den das stinkende, gegorene Wasser der Zuckerrüben reinkommt, darauf ein Deckel in den er zu Panis Schrecken ein Loch gehauen hat, abgedichtet wird der Rand durch einen langen Streifen von Filz eines alten Hutes. Inzwischen brennt das Feuer, es fängt an warm zu werden und gleichzeitig zu stinken, wenn hier mal jemand kommt, dann ist er aber reingefallen (der Steckly), denn das riecht man ja meilenweit, was hier vor sich geht. „Hol die Stamperl her, wir haben noch von gestern da, komm her gieß ein!“ „Wohlsein“. Ach, das ist ja der Anfang von jedem Abend, so geht es jetzt bis wir die 1½ Liter abdestilliert haben, dann ist die Hälfte schon wieder versoffen. „Heiner, das ist ja reines Wasser! Mach den Deckel auf, das kommt da wieder rein, so gibt es heute mehr! Dann geh nach Eis zum Kühlen für das Rohr!“ Ich haue ab, wir haben extra draußen eine Schüssel stehen, in der unser Eis des Tages über für den Abend entsteht. Als ich wiederkomme ist er schon wütend, daß ich so lange weg war: „Das Beste geht in die Luft! Du bist wirklich zu blöd - Was hast Du gemacht?“ Na, jetzt wird ja die Messingschlange gekühlt, die ersten Tropfen des köstlichen Naß tropfen in den Trichter und dann in die darunter stehende Flasche. „Los, komm trinken, jetzt ist das Beste!“ Zum Wohl, jetzt am Anfang hat das Zeug wahrscheinlich 90 Prozent, da kann einem so ein Stamperl voll erst mal für eine Weile die Luft wegnehmen - „Wohlsein“ - „Oh Heiner - nu was ist mit Dir? Ist wohl zu stark? Dann mache Tschai!“ Wir trinken Tee mit Rum. Erst einmal wieder Eis holen, und dann ständig das Wasser umrühren und im Ofen anlegen. Unterdessen dreht sich Steckly eine Zigarette - „Du auch?“ Er will, daß ich rauche, dazu aber hat er mich noch nicht bringen können, wenn ich aber nicht trinken will, wird er wild, dann ergeht es mir übel. Jetzt müßen wir erst die Flaschen wechseln, die Prozente haben abgenommen. Ein halber Liter ist raus, jetzt ist es schon wesentlich besser zu trinken und brennt nicht mehr so im Halse. Mit Tee schmeckt es übrigens nicht übel, wir kochen schönen starken Tee, dann halbe halbe, schön heiß getrunken, es wird uns ganz schön heiß bei dieser Tätigkeit.
Weihnachten 1944 Unser Kinderzimmer haben wir an Flüchtling aus Breslau abgeben müßen, alle Tage ziehen große Trecks mit Flüchtlingen aus Oberschlesien hier durch. Gestern kamen welche aus Ohlau, und dann diese Hundekälte. Alle Tage schneit es, die Leute haben keine Bremsen an den Wagen und es laufen stets welche hinterher, die Stangen in die Speichen stecken und so bergab bremsen. Wir haben schon riesige Kessel Kaffee gekocht, aber es sind zu viele Leute, da am Tage vorbeikommen - wo mögen die bloß alle einmal wieder eine Wohnung finden? Die Front kommt aber auch immer näher, unsere Schule ist seit Weihnachten Lazarett geworden, wir haben keinen Unterricht mehr, es ist herrlich. Bei dem schönen Wetter geht es jetzt mit den Brettern raus, der Nachmittag ist immer so kurz, jetzt können wir auch Vormittag schon fahren gehen. Heute Abend will, wie ich gehört habe, Onkel Carl reinkommen, unsere „Särge“ sollen zugelötet werden. Gestern Abend habe ich mit Vatel im Keller die Löcher ausgeschachtet, im Dunkeln haben wir die Erde weggebracht, jetzt wollen wir die Kisten erst mal vollpacken. Bettwäsche, Leibwäsche, Mäntel, Schmuck, auch die große Bernsteinkette von Muttel kommt rein, 1,30 m lang, 60 x 60 cm breit, da passt schon eine Menge rein! Ich habe meinen Transformator auch noch mit eingeschmuggelt, „soon Unsinn“ sollte da nämlich gar nicht mit reinkommen. Die Leute im Hause haben sich schon gewundert, was wir im Keller gemacht haben, sollen sie sich ruhig weiter die Köpfe zerbrechen.
Brotbacken November 1945 - Heute Abend soll ich mit dem Tischler mitkommen zum Wildentenschießen, das wird ja interessant werden, erst müßen wir aber noch Brot backen. Pani Steklova knetet schon den Teig und ich muß mich mit dem Feuermachen beeilen. Einen halben Meter sind die Akazienscheite lang, ganz schön dick, davon muß ich nun 30 Stück in dem Backofen verfeuern. Das gibt eine ganz nette Hitze, das knackt und prasselt und sieht wie ein Scheiterhaufen aus. Das Holz macht aber wenig Asche und wenig Rauch, wenn es weggebrannt ist, wird das kleine Häufchen Asche vor ein Loch gezogen, Sägespäne in den Ofen gestreut und dann muß das Brot auch fertig sein. Mit langen Schiebern kommt es dann rein in den Ofen und wird abgebacken. Dann haben wir wieder für acht Tage zu essen. Beim letzten Backen habe ich noch ein ganzes Brot mitgekriegt, als ich nach Hause gegangen bin, die Eltern haben sich sehr gefreut darüber, für Vatel hatte ich noch einen halben Liter Schnaps geklaut, ich habe aber erzählt, den hätte ich auch gekriegt. Heute habe ich ein Melksieb mitgenommen, es darf bloß keiner sehen, sonst merken die noch, was wir nun wieder gedreht haben! Vatel soll im Kuhstall den Kälbern Kleie verfüttern, da nehmen wir die aber erst mit zu uns, und sieben sie aus - Vieh frißt auch Schalen, wir kochen uns Suppe von dem Hafermehl! Allerdings ist das dann auch noch kein Festessen, denn das Zeug schmeckt doch eben ohne Salz furchtbar und Salz kriegen wir bloß 1/4 Pfund pro Monat auf die Marken, das reicht nicht lange. Beim Kaufmann, den wir Deutsche nur den „Halsabschneider“ nennen, in Viklek, haben wir auch schon rotes Viehsalz gekriegt, aber das ist viel teurer noch, als das richtige auf Marken. Muttel kann immer noch nicht mehr tschechisch als ihr einziges Wort „Bobkowe List“, was Lorbeerblatt heißt. Jürgen geht immer mit zum Einkaufen und macht den Dolmetscher.
Angekommen in Berunicky Anfang Juli 1945 - Wir sind also nun gestern hier nach Berunicky gekommen, mit einem Pferdewagen sind wir hergefahren zu 16 Mann. Hier wohnen schon mehrere Familien auf dem Hof, sie sind aus der Gegend von Oppeln, wir haben hier zu 16 Personen ein Zimmer und eine Küche. Erst haben wir uns Stroh aus der Scheune geholt und es hier auf den Fußboden gestreut, damit man sich in der Nacht überhaupt hinlegen kann. Jede Familie hat hier ein paar Quadratmeter Raum, am Kopf stehen bei uns ein Rucksack und ein Topf und der Korb, den wir in Slibowize mitgenommen haben. Die anderen haben auch nicht mehr, zum Waschen ist für alle ein Eimer da, zum Kochen ein Ofen. Das wird ja ein lustiges Leben werden! Muttel hat sich gestern beim Fensterputzen etwas gestaucht, sie ist von der Leiter gefallen und kann nicht mehr laufen! Vatel war bei einem Arzt, „Deitsche“ werden aber nicht behandelt, können krepieren - herkommen tut kein Arzt! Wir haben uns für vier Mann einen Stuhl organisiert, darauf steht das Essen, wir sitzen auf Holzklötzern. Pan Votik heißt der Tscheche, bei dem wir jetzt sind, er ist im KZ gewesen, soll aber nicht ein ganz schlechter Mann sein. Vatel hat er schon angeschnauzt: „Albrecht sein teuerster Mann auf Hof, vier essen, einer nur arbeitet!“ Was können wir dafür, daß Muttel hier verunglückt? Ich muß für uns vier das Essen kochen, Muttel sagt, wie es gemacht wird, ich fabriziere es. Gefeuert wird mit Stroh hier, hat man sowas schon gesehen, hier gibt‘s weder Holz und Kohle kennen die gar nicht. Einer sitzt dauernd am Ofen und muß einen Strohwisch nach dem anderen reinstecken, das Zeug macht nämlich keine Glut und wenn man es verpaßt, muß man wieder anzünden. Jeder von den Kindern muß mal heizen, genau nach Uhr, die anderen sind inzwischen zum Strohholen weg. Heute gibt es bei uns Erbsensuppe.
Erste Bekanntschaft mit Steckly Anfang September 1945 - Heute Morgen stand ich im Hofe, da kam ein Tscheche und fragte mich, ob ich ihm heute mal helfen will. Jürgen ist auch gleich mitgekommen, da haben wir mit dem Mann gepflügt. Ich habe zuerst die Kühe führen müßen, konnte sie aber nicht rüberziehen, daß sie also immer schräge über das Feld gingen. Dann hat sie der Pan Steckly, so heißt er nämlich, genommen, mit Hurra ging es dann los, der hatte nämlich einen Knüppel mit, da konnte ich aber wieder den Pflug nicht halten, ich habe doch so ein Ding noch nie gesehen, viel weniger geführt. Dann hat er es mir gezeigt, nach rechts bewegt, geht er tiefer, nach links flacher. Daraufhin ist es besser gegangen. Jürgen mußte die Kartoffeln auflesen, die beim Pflügen noch rauskamen, es war nämlich ein Kartoffelfeld. Er ist aber noch zu klein und kann den Korb mit 20 Pfund Kartoffeln nicht dauernd tragen. Am Abend haben wir ein ganzes Brot bekommen, das haben wir aber heute zum Abendbrot fast aufgegessen. Wir sollen morgen wiederkommen. Heute waren wir wieder auf demselben Feld, zum 2. Frühstück gab es Schnitten mit Fett, sowas haben wir seit zu Hause nicht mehr gekriegt. Dann ist mir aber was passiert: Wir hatten heute drei Kühe mit und ich sollte nach dem Frühstück eine alte ausspannen und eine junge dafür einspannen. Die junge hat sich aber losgerissen und tobte auf ein fremdes Feld und zertrampelte dort die Rüben. Als ich ran war, schlug sie aus und lief weiter, ich weiter hinterher. Hinter mir tobte der Bauer auf Tschechisch, ich verstand nichts, vor mir die wütende Kuh, die dann schließlich nach Hause rannte. Als ich wieder auf‘s Feld kam, sagte der Bauer, er wollte mir „paar Watschen ins Gesicht“ geben und als ich dann mit Jürgen nach Hause auf den Hof ging, da erzählte der mir ‘ne ganze Menge: „Der ist auch zu blöd, hat Angst vor der Kuh“, hat der alte Kerl gesagt und ist ganz schön wütend gewesen.
Jagd auf Enten Jetzt bin ich schon drei Wochen bei dem Bauern, abends gehe ich aber immer noch auf den Hof und übernachte dort, ich soll aber hierbleiben und hier schlafen. Heute bin ich aber nicht gleich heimgegangen, wir wollten doch Enten schießen gehen. Der Tischler hatte einen Hund mit, dazu eine Doppelflinte, die er unter den Mantel gesteckt hat. Draußen vor dem Dorf gingen wir dann am Graben lang und ab und zu hörten wir dann auch Enten wegfliegen. Als der Mond aufgegangen war, da schoß der Tischler dann auch, der Hund brachte sie uns her und der Tscheche sagte mir dann, daß ich sie haben sollte, er darf keine mit heimbringen, weil das Schießen verboten ist. Ich glaube jedenfalls, das meinte er, denn ich verstand ihn ja auch nur halb. Zu Hause habe ich dann erzählt, ich habe die Ente gefunden, sie ist irgendwo gegen eine Mauer geflogen und hätte noch gezappelt. Morgen soll es Graupensuppe geben mit echt Wildentenbrühe!
Ich habe Geburtstag 24. Juli 1945 - Heute habe ich also Geburtstag und werde 13 Jahre alt. Im Übrigen ist es ein Tag wie jeder andere, ich habe schon auf ganz andere Weise meinen Geburtstag gefeiert, denn zu Hause waren immer Ferien und ich war oft bei den Großeltern für ein paar Wochen, um dort die Ferien zu verleben. Wie ich gehört habe, soll ich auch heute noch eine Überraschung bekommen, auf jeden Fall darf ich nicht in die Küche, denn dort wird sie wohl erst gebaut. Ich bin daher den ganzen Vormittag bei Vatel im Stall, der jetzt 10 Ochsen und 15 Kälber in seinem Stall hat. Frühmorgens um 6 Uhr (?) geht es aufs Feld zum Futterschneiden, meist Luzerne, wenn es geregnet hat, oder noch regnet, ist das Zeug alles zusammengehauen und die Maschine kann es nicht abhauen, dann ist es sehr schwer, das nasse Futter mit der Gabel auf den Wagen zu laden und runter geht es dann schon gar nicht mehr. Die langen Wagen sinken bis über die Achsen in den Lehmboden ein, vier Ochsen müßen vorgespannt werden um ihn erst mal auf die Straße zu ziehen. Im Hof wird das Futter dann abgeladen, kommt durch die Häckselmaschine und wird klein geschnitten und mit Spreu vermengt. Gefüttert wird dreimal am Tage, jeden Tag brauchen sie zwei große Lastwagen Grünzeug. Im Winter soll dann noch Erbsenstroh verfüttert werden, das liegt über dem Stall auf dem Boden, in der Wand über unserer Stube ist aber auf dem Boden ein Loch, wo wir jetzt immer Erbsenstroh runterholen und verfeuern, das brennt nämlich besser als das Weizenstroh, da kann man ein besseres Feuer damit machen. Hauptsache Pan Votik merkt mal nicht die Sache, dann ist ja sicher was los! Als ich am Mittag heim kam, sah ich lauter betrübte Gesichter - Ich bekam eine Torte geschenkt, es sollte jedenfalls eine sein, sogar eine Kaffee-Torte, nun hatten sie sie nicht braun gekriegt, sie war oben und unten weiß, nur abgetrocknet. Oben war noch Mohn draufgestreut, den hatte Jürgen irgendwo auf dem Feld geklaut. Muttel kann ja immer noch nicht aufstehen, sie hat sich mächtig geärgert, was man mir da gebacken hat. (Der Ofen, geheizt mit Stroh, machte nicht genügend Hitze).
Auf der Flucht und im Lager Hagibor8. Mai 1945 - Wir fahren schon stundenlang auf einem Lastwagen durch die Gegend, es ist inzwischen dunkel geworden, wo wollen die uns bloß hinbringen? - Endlich kommt wieder mal eine Stadt, Straßenbahnlinien fahren hier, es ist erst drei Tage her, da konnten wir auch noch in der Straßenbahn sitzen und nach Hause fahren. Jetzt besitzen wir noch eine wollne Decke und eine große Blechbüchse, das ist alles, was wir noch haben, außer dem, was wir gerade anhaben, und das ist bei mir eine schwarze kurze HJ-Hose und eine Jacke. Ich hatte noch einen schönen Hirschfänger, den haben sie mir aber abgenommen, als sie Waffen bei uns suchten. Jetzt sind wir hier durch ein Tor gefahren, es sieht aus wie ein Barackenlager, denn am Eingang stehen Posten. „Dole!“ Runter! Wir sind also erst mal am Ende unserer Reise, hundemüde, ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal geschlafen haben. Hunger habe ich auch, aber noch viel mehr Durst, hier ist es stockdunkel, es mag wohl Mitternacht sein. Mitte Mai 1945 - Wir sind Gefangene und wohnen in einer Baracke - so ist das also! Jeden Tag ist dasselbe, morgens Kontrolle, Antreten ob auch keiner ausgerißen ist - möchte wissen wohin! Dann werden Leute rausgesucht zum Arbeiten, die sollen besser zu essen kriegen, ich will auch mal mitgehen denn hier gibt es morgens zwei Stück Knäckebrot und eine Kelle Kaffee, den holen wir uns immer in einer Konservendose. Mittags gibt es Suppe, wir haben einen Topf gefunden 1 ½ Liter, da geht sie für fünf Mann gerade rein. Dann setzen wir uns auf den Bettrand und Muttel gibt immer reihum jedem einen Teelöffel voll, das ist der einzige, den wir haben. Das dauert zwar lange, aber wir haben ja Zeit. (Durch die Suppe kann man bis zum Boden des Topfes durchgucken, es schwimmen nur ein paar Kartoffelstücke im warmen Wasser) Welche Uhrzeit genau ist, wissen wir sowieso nicht, in der Baracke hängt aber vorn ein Wecker, da kann man nachsehen. Habe aber eine Sonnenuhr gebaut, die geht aber nicht genau. Abends gibt es wieder dasselbe wie zum Frühstück, wir können abends immer nicht einschlafen, weil uns der Magen so weh tut. Muttel hat gestern in einem Krankenhaus Fenster geputzt und hat uns ein paar Schnitten mitgebracht. Mai 1945 - Heute war ich mit Muttel mit zum Arbeiten, wir kamen aber nicht in das Krankenhaus, sondern irgendwo auf‘s Land, mußten erst eine Stunde laufen und wurden von Militärs mit GM‘s begleitet. Dort haben wir dann Rüben geeinzelt, dabei tut einem furchtbar der Rücken weh, wir durften aber bis Mittag keine Pause machen, ein Soldat hat Muttel mit der Peitsche geschlagen, weil sie sich mal gerade hingestellt hat. Mittags kriegten wir angebrannte Graupen, jeder aber so viel er wollte, ich konnte aber nicht viel essen, ich war bald satt. Am Nachmittag ging es wieder „na pole“, d.h. aufs Feld, ganz lange Felder, wir kamen nur einmal bis zum Ende und wieder zurück, dann mußten wir wieder eine Stunde zu Fuß nach Hause, d.h. bis ins Lager laufen. Vatel war dort heute auch abgeholt worden, die dachten, er wäre bei der SS gewesen, diese Leute kommen alle weg von ihrer Familie, in ein anderes Lager, heißt es. Schreiben dürfen wir nicht nach Hause, das ist verboten. Wann wir hier wegkommen weiß man nicht.
Jagd auf Hühner Februar 1946 - Heute haben wir einen Fang gemacht! Muttel hat Brot vor die Tür gestreut, und die Hühner, die im Hof rumliefen haben das dann aufgelesen. Eine Henne ist dann dem Brotstücken nachgegangen, in unserem Flur, worauf dann Jürgen die Türe von außen zugeschlagen hat! Nach einer wilden Jagd in der Küche hat Muttel dann die Henne erwischt und ihr den Hals umgedreht, da gibt es wieder mal ein feines Mittagessen! Einmal haben wir so ein Biest schon mal in der Küche gehabt, aber die war noch wilder, ist gegen das Fenster geflogen und hat dabei die Scheibe zerschlagen. Natürlich ist sie uns dann auf diese Weise wieder entkommen. Pan Votik hatte wieder mal Grund, auf Albrechts zu schimpfen, die eben auch alles kaputt machen. Eine neue Scheibe haben wir aber nicht gekriegt, jetzt haben wir eine Schieferplatte in das Loch geklemmt, das zieht nämlich mächtig. Jürgen hat im Stall mit der Peitsche Schwalben gefangen und sie Muttel gebracht, damit sie daraus Suppe macht. Das hat viel Arbeit gemacht, weil die Schwalben so klein sind, es war auch nur wenig Suppe, aber mit Fettaugen, Muttel wollte keine Schwalben mehr, das war zu mühsam.
Be- und erschossen auf der Flucht 8. Mai 1945 - Wir sind mit unserem großen Wagen (LKW) jetzt über Gablonz gefahren, wo ich ein Kommissbrot von unseren Soldaten bekommen habe und dazu eine Konservendose mit Fett. In der Nacht ist unser Wagen von Tieffliegern beschossen worden, wir haben aber gehalten und die Lampen abgeschaltet, passiert ist nichts. Letzte Nacht sind wir durch Berge gefahren, es war ziemlich steil manchmal und der große Anhänger hat ganz schön geschoben. Nach Waffen sind wir auch schon untersucht worden, die mußten wir abgeben. Jetzt sind wir hier in Jungbunzlau und kommen nicht weiter, wir dürfen jedenfalls nicht weiterfahren. Wir stehen hier in einem großen Park, es wird mit dem Leuten verhandelt, die fuchteln mit ihren Schießeisen in der Luft rum, haben den Anhänger abgehängt, wo unsere ganzen Sachen drauf sind, die wir noch gerettet haben und nun sollen wir weiterfahren. Das könnte denen wohl so passen! Die Personenwagen haben sie uns ohnehin schon beschlagnahmt, jetzt uns vielleicht auch noch unsere Sachen wegnehmen, wir wollen ja bloß weiter, fort von hier, rüber nach Bayern. Ergänzung von Reiner am 08.05.1995: Bei einer derartigen Kontrolle wurde Herr Fiebig jun., der einen langen Ledermantel trug, der SS zugehörig verdächtigt und drei Meter abseits des Fahrzeugs erschossen. Seine Mutter war auf dem Fahrzeug und verstarb in Hagibor.
Hungern im Lager Hagibor20. Mai 1945 - Es geht das Gerücht um, daß wir nach Hause schreiben dürften, wir sollen nämlich erst noch sechs Wochen auf das Land zu Bauern kommen um dort bei der Ernte zu helfen. Hier im Lager ist inzwischen Diphterie ausgebrochen, die Leute kommen alle in eine Krankenbaracke, es sollen auch schon welche gestorben sein. Eine alte Frau, die neben uns lag, ist gestern auch gestorben, man hat es erst gar nicht bemerkt. Die Toten werden auf einer Anhöhe im Lager begraben, ohne Särge, ohne großes Aufheben. Schlimm ist es mit dem Essen, es wird furchtbar gestohlen hier, einer nimmt dem anderen was weg, wenn es nun zum Essen geht. Wir haben uns ein paar Kartoffeln aus den Küchenabfällen rausgesucht, damit wir sie aber kochen dürfen, haben wir noch wieder welche abgeben müßen. Aufgegessen haben wir sie dann hinter der Baracke, damit es keiner sehen sollte - jeder bekam zwei Stück. Wenn wir bloß mehr zu essen hätten, 14 Tage sind wir nun schon hier in diesem Lager Hagibor, immer nur Knäckebrot, 4 Scheiben pro Tag, mittags Wassersuppe. Der Krieg soll übrigens aus sein, wir wissen aber nicht mehr darüber. Vogelfrei und der Heimat beraubt: Die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945, Seite 24
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Jürgen
Albrecht, 03. September 2015
update:
05.12.2015