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Holobionten, Menschen und Mikroben
Mögen Deine Symbionten immer mit Dir sein!
   
Ein wunderbares Buch von Bernhard Kegel

Bernhard Kegel - Die Herrscher der Welt, Wie Mikroben unser Leben bestimmen
DuMont Buchverlag Köln (2015)
ISBN 978-3-8321-9773-5, 382 Seiten, 22,99 Euro

Der Titel des Buches ist irreführend: Es geht gerade nicht um Herrscher und Beherrschte, sondern um Kooperation und Koexistenz. Vier grosse Klassen von Lebewesen existieren auf unserem Planeten: Bacteria, Archaea, Eucarya und Viren. Wir Menschen und alle anderen Tiere, die durch die Evolution vor uns entstanden sind, gehören zu den Eucaryoten, zu den Lebewesen, die aus einer oder vielen Zellen mit Zellkern bestehen. Die drei anderen Klassen besitzen keine Zellen mit Zellkern, sie sind so klein, dass sie praktisch unsichtbar sind. Dafür ist ihre Anzahl überwältigend und milliardenfach grösser, als die der Eucariyoten.

Bisher war der Blick der Biologie fast ausschliesslich auf die mehrzelligen Lebewesen gerichtet. Logisch, weil sie für jeden sichtbar sind: Von den Fischen über Insekten, Vögel, Säugetiere bis hin zum Menschen. Es war seit 200 Jahren bekannt, dass auch Mikroben existieren. Das waren die Krankheitserreger. Beispielsweise die überragende Leistung von Robert Koch: Die Entdeckung des Tuberkulose Bazillus. Sie war der Beginn der Bakteriologie: 1872. Von Anfang an bis heute wurden die Mikroben als Feinde, als Krankheitserreger angesehen.

Spätestens mit den Erkenntnissen der letzten 20 Jahre über die Existenz eines Mikrobioms in und an jedem mehrzelligen Lebewesen ist jetzt ein Paradigmenwechsel eingetreten: Wir sind nicht allein in unserem Körper! Mikroben sind in und an uns, sie sind unverzichtbarer Bestandteil von uns. Ihre Zahl ist mindestens zehnfach grösser als die Zahl beispielsweise unserer menschlichen Zellen. Unser Körper funktioniert nur, weil wir in Symbiose mit den Mikroben existieren: Wir sind Holobionten.

Genau dieser Sachverhalt wird in dem Buch von Bernhard Kegel detailliert dargestellt. Es liest sich streckenweise wie ein Krimi und es breitet vor dem Leser die Erkenntnisse der Mikrobiologie der letzten zehn Jahre aus. Das Buch ist detailliert und geht teilweise sehr ins wissenschaftliche Detail. Trotzdem ist es gut zu lesen, wenn man sich etwas Mühe gibt. Die Schwachstellen sind neben dem Titel die fehlenden Bilder, Modelle und Grafiken. Auch würde dem Buch eine Straffung der Aussagen durch Stabstriche an den Kapitelenden gut tun. Ein Glossar der vielen Fachbegriffe wäre sehr hilfreich. Beispielsweise werden die Begriffe Bakterien, Archaeen, Mikroben, Mikroorganismen, Mikrobioten, Keime, Erreger, Bazillen, Prokaryoten, Symbionten und Organellen teilweise synonym verwendet ...!

  Bernhard Kegel

 

 

Erkenntnisse und Fakten aus diesem Buch

Ich blättere jetzt das Buch durch und referiere den Inhalt einiger Stellen in Stichworten.
So erhält man einen Eindruck, um welche Materie es in diesem Buch geht:

  • Seite 18 ... Biologische Individuen existieren nicht und haben nie existiert.
  • Seite 20 ... Die Metagenomik sequenziert nicht mehr einzelne Genome, sondern sie analysiert die DNA ganzer Organismengemeinschaften.
  • Seite 22 ... In den Ozeanen leben mindestens zehnmal mehr Mikrobenarten (>200.000), als Pflanzen- und Tierspezies auf der ganzen Welt.
  • Seite 29 ... Im menschlichen Zahnbelag, Plaque, Teil des oralen Mikrobioms, leben 7.000 bis 10.000 Arten verschiedener Mikroben.
  • Seite 32 ... International wird an einem "Human Microbiome Project" gearbeitet.
  • Seite 33 ... Auf unserer Haut leben "nur" ein paar Milliarden Mikroben, (die Grösse der Weltbevölkerung), auf einem Quadratzentimeter bis zu zehn Millionen.
  • Seite 34 ... Ein einziges Gramm Darminhalt enthält aber bis zu einer Billion Bakterien.
  • Seite 34 ... Einhundert Billionen (10 hoch 14) Mikroben leben in jedem einzelnen von uns.
  • Seite 44 ... In Stuhlproben existiert ein metagenomisches DNA-Gemisch aus 3,3 Millionen verschiedener Gene. Sie sind ausschliesslich bakteriellen Ursprungs und stammen von etwa 1150 Arten.
  • Seite 47 ... Bakterien verleiben sich genetisches Material nicht nur vertikal (von der Mutterzelle) ein, sondern auch horizontal aus der Umwelt.
  • Seite 58 ... Die Membranen zwischen Korallen- und Symbiodinium-Zelle sind das Interface für die Interaktionen zwischen Wirt und Symbiont.
  • Seite 66 ... Man hat die Anpassungsfähigkeit der Korallen an die Erhöhung der Wassertemperatur (Klimawandel) unterschätzt.
  • Seite 82 ... Eine Steinkoralle ist ein aus mehreren Organismen zusammengesetztes Kollektiv, in dem zwar der Wirt das Sagen hat, der Art seine Gestalt verleiht, das aber nur als Ganzes lebensfähig ist: Ein Holobiont.
  • Seite 83 ... Ein Holobiont umfasst den Wirtsorganismus und sein gesamtes Mikrobiom, also alle mit ihm vergesellschafteten Mikroorganismen.
  • Seite 84 ... Korallenschleim enthält Mikroben in einer Dichte, die grösser ist, als auf der menschlichen Haut. Sie liegt um den Faktor 1.000 höher als die des absolut nicht mikrobenarmen Meerwassers der Umgebung.
  • Ab Seite 86 ... Hoch interessante Informationen über Forschungen von Thomas C. G. Bosch an der Hydra. Ein idealer Modellorganismus, deren Genom seit 2010 entziffert ist: Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Proteine dieses Süsswasserpolypen finden sich in fast identischer Form auch beim Menschen wieder!
  • Seite 92 ... Wir irdischen Vielzeller - Wir sind keine Einzelwesen, sondern Holobionten.
  • Seite 93 ... Leben kann man nicht alleine, Mikroben waren und sind immer dabei.
  • Seite 66 ... Es herrscht Konsens, dass bakterielles Leben schon vor 3,4 Milliarden Jahren erste Blüten entfaltet hat.
  • Seite 100 ... Bakterien haben ein Verfahren entwickelt, die Knallgasreaktion von Wasserstoff und Sauerstoff zu zähmen und daraus Energie zu gewinnen. Alle Lebewesen benutzen ATP als Energiespeicher: Adenosintriphosphat
  • Seite 102 ... Wir müssen um H2O zu zerlegen (Brennstoffzelle) mehr Energie aufwenden, als wir daraus gewinnen. Für die oxygenen Lebewesen gehört dieser Prozess seit Äonen zur täglichen Routine: Fotosynthese.
  • Seite 106 ... Das "grosse Oxydationsereignis" vor etwa 2,4 Milliarden Jahren.
  • Ab Seite 108 ... Carl Woese stellt 1976 das Weltbild der Biologie infrage: Er entdeckte die Archaeen. Unter ihnen wurden bisher keine Krankheitserreger entdeckt.
  • Seite 111 ... Archaeen können sich im Gegensatz zu Bakterien sehr schnell bewegen. Sie sind die schnellsten, bisher vermessenen Lebewesen der Welt: berücksichtigt man das Grössenverhältnis: 20 x schneller als ein Gepard.
  • Seite 112 ... Carl Woese klassifizierte die Lebewesen dieser Erde in drei "Domänen": Bacteria, Archaea und Eucarya. Die drei Gruppen unterscheiden sich auf molekularer Ebene erheblich, viel mehr als Pflanzen und Tiere.
  • Seite 113 ... Vergleicht man eine Zelle der Eukaryoten (Mehrzeller mit Zellkern) mit den Zellen der Bakterien oder Archaeen, so fällt neben dem dramatischen Grössenzuwachs die ungeheure Zunahme an Komplexität auf.
  • Seite 118 ... Proteine (für die Kommunikation) produziert nur die Wirtszelle, sie steuert und koordiniert damit ihre Organellen.
  • Seite 123 ... Die Endosymbiontenhypothese für die Entstehung komplexerer Lebensformen ist Konsens: Die Entstehung der Eukaryoten aus Bakterien.
  • Auf den Seiten 129 bis 195 werden weitere Beispiele von Holobionten beschrieben: Schwämme, Leben ohne Mund und Darm, leuchtende Zwerge, Pflanzen ...
  • Seite 196 ... Tüpfelhyänen kommunizieren mit einer Vielzahl von taktilen, visuellen und vokalen Nachrichten, besondere Bedeutung besitzen aber die Geruchssignale.
  • Seite 197 ... Die Düfte werden von Bakterien erzeugt. Es existiert eine intensive chemische Kommunikation unter den Hyänen = so komplex wie Sprache.
  • Seite 201 ... Auch Gorillas kommunizieren über Gerüche. Dabei ist der dominante Silberrücken am aktivsten.
  • Seite 204 ... Bakterien sind Duftkomponisten, lebende Duftorgeln. Bestimmen sie die Musik oder der Wirt? Ein unheimlicher Gedanke.
  • Seite 213 ... Besonders im Dickdarm drängen sich die Mikroorganismen mit bis zu einer Billiarde (10 hoch 15) Zellen pro Gramm. So eine Dichte von Lebewesen wird nirgendwo sonst auf diesem Planeten erreicht. Die menschlichen Darmbakterien wiegen insgesamt etwa zwei Kilogramm.
  • Seite 214 ... Etwa ein Drittel der Stuhltrockenmasse, die wir ausscheiden, besteht aus Mikroben
  • Seite 216 ... Gnotobiotische Tiere - künstliche, keimfreie Tiere, Mehrzeller ohne Mikroben/Symbionten - nicht eigenständig lebensfähig.
  • Ab Seite 220 ... Verdauung von Zellulose, schwierig auch für Bakterien.
  • Seite 222 ... Die Welt ist von einer feinen Patina aus Fäzes (Kot) bedeckt ... Das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass Mikroben überhaupt an ihre Wirte gelangen.
  • Seite 224 ... Der moderne Mensch ist ein allesfressender Primat geblieben ... bezüglich seines Darmmikrobioms allerdings auf deutlich verarmtem Niveau.
  • Seite 230 ... Durch unsere Lebensweise verändern wir das Partnergefüge des menschlichen Holobionten: Das Mikrobiom.
  • Seite 231 ... Es ist die Zusammensetzung des Mikrobioms, die darüber entscheidet, wie viel Energie der Nahrung entzogen und für den Wirt verfügbar gemacht wird - Die Folge beispielsweise: Adipositas.
  • Seite 232 ... Etwas läuft schrecklich falsch. Wir sind im Begriff, unseren mikrobiellen Partnern grossen Schaden zuzufügen (durch unsere Lebensweise, fernab der Natur).
  • Seite 233 ... Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Mikrobenkontakt führt zu gesundheitlichen Problemen (nicht nur beim Menschen).
  • Seite 235 ... 1,5 Milliarden Menschen waren 2008 übergewichtig, in den USA jeder Dritte.
  • Ab Seite 236 ... Das Antibiotika-Problem: Antibiotika killt alle Symbionten!
  • Ab Seite 230 ... Kommunikation zwischen Wirt und Symbionten: Sie basiert ausschliesslich auf Chemie, auf chemischen Worten und Signalen.
  • Seite 255 ... Chemische Dialekte und Grammatik
  • Seite 267 ...Thomas Bosch: Der Denkfehler liegt in unserer Fokussierung auf Pathogenese - Notwendig ist: Weg von den wenigen Krankheitserregern und hin zu den viel zahlreicheren Wohltätern unter den Mikroben.
  • Seite 268 ... Das Immunsystem hat nicht die Funktion, Krankheitserreger abzuwehren, sondern die für den Holobionten nützliche Bakteriengemeinschaft zu selektieren.
  • Seite 273 ... Muttermilch ist nicht steril, sie enthält bis zu 600 notwendige Bakterienarten, mit denen die Mutter ihr Kind versorge.
  • Ab Seite 278 ... Kaiserschnitt-Geburten haben negative Folgen.
  • Seite 292 ... 40 Prozent der RNA-Sequenzen im menschlichen Blutplasma stammen nicht von menschlichen Zellen, sondern von Mikroben. Dieser Anteil dient der Kommunikation zwischen Wirt und Symbionten ...! Wer kommuniziert wie mit wem?
  • Seite 295 ... Zwischen Kopf und Bauch existiert ein bidirektionales Kommunikations-system: Die Darm-Mikrobiota-Gehirn-Achse.
  • Seite 295 ... Vom Gehirn abgesehen, befinden sich nirgendwo so viele Nervenzellen wie in der Darmwand: Etwa 500 Millionen und damit mehr als im Rückenmark. Wozu dient dieses "zweite Gehirn"?
  • Seite 296 ... Die Kommunikation und Feinabstimmung zwischen Gehirn und Darm führt zur Homöostase, zum Gleichgewicht eines offenen, dynamischen Systems, das unser gesundheitlich (und psychisch) sorgenfreies Leben gewährleistet.
  • Seite 296 ... Die Oberfläche des Darmes ist etwa hundertmal grösser als unsere Haut.
  • Seite 305 ... Justin Sonnenburg: Der menschliche Körper ist ein ausgeklügeltes Gefäss, optimiert für das Wachstum und die Ausbreitung seiner mikrobiellen Bewohner.
  • Seite 307 ... Wer dominiert wen? Das ist der falsche Ansatz: Es geht um Kooperation und Symbiose - Und um die Bereitschaft zur Koexistenz (Seite 313).
  • Seite 314 ... Der klassische Weg über Versuch und Irrtum bietet keine Erfolgsgarantie. Die Aufnahme von Symbionten (ein methodisch genialer, heuristischer Trick) löst die prinzipiellen Probleme mit einem Schlag.
  • Seite 324 ... Wie muss die Evolutionstheorie modifiziert werden? Das Modell eines Holobionten von Thomas Bosch: Drei Kreise die sich überschneiden: Der Wirt, seine Prokaryoten, und die eukaryotischen Symbionten, und ein auf der Spitze stehendes Dreieck, das den Holobionten symbolisiert. Später kommt überraschend noch ein vierter Kreis dazu: Das Virom, die Vieren (Seite 326).
  • Seite 325 ... Der umstrittene Begriff der "Gruppenselektion". Die Evolution selektiert nicht (nur) einzelne Lebewesen, sondern Gruppen von Lebewesen!
  • Seite 326 ... Viren leben in Bakterien und es hat den Anschein, als dass sie die Mikrobenzusammenstellung bestimmen.

 

 

Wörtliche Zitate

Aus dem Schlusskapitel hier einige Zitate:

Bernhard Kegel

Bernhard Kegel

Bernhard Kegel

 

 

Facit:
Eine völlig neue Sicht auf die Natur des Lebens

382 Seiten auf wenige Stabstriche eingedampft:

  • Auf der Erde haben nie Individuen existiert, die Mikroben waren immer mit uns.
  • Nach heutigem Wissen existieren vier grosse Klassen von Lebewesen auf unserem Planeten: Bacteria, Archaea, Eucarya und Viren. Bisher hatte man nur die Eucaryoten im Blick (Fische, Insekten, Vögel, Säugetiere ...).
  • Deswegen hat sich der Gegenstand der Biologie radikal verändert: Von den mehrzelligen Lebewesen (Eucariyoten) hin zu den Holobionten.
  • Ein Holobiont besteht aus dem Wirt, seine Prokaryoten, den eukaryotischen Symbionten und dem Virom. Kürzer: Aus dem Wirt und seinem Mikrobiom.
  • Die Anzahl der Mikroben ist milliardenfach grösser, als die der Eucaryoten.
  • Mikroben sind nur in Sonderfällen Krankheitserreger, sie sind lebenswichtig und wir sind auf ihre Kooperation, Symbiose und auf ihre Koexistenz angewiesen.
  • Der menschliche Holobiont ist ein offenes, dynamisches System unvorstellbarer Komplexität.
    (Wo kommt die unerhörte Intelligenz dieser Konstruktion her ...?!)
  • Zwischen Kopf und Bauch existiert ein bidirektionales Kommunikationssystem: Die Darm-Mikrobiota-Gehirn-Achse. Wozu dient das "zweite Gehirn"?
  • Durch chemische Kommunikation und Feinabstimmung zwischen unendlich vielen Teilsystemen wird die "Homöostase" erreicht, die unser gesundheitlich und psychisch sorgenfreies Leben gewährleistet.
  • Bedenkt man die Komplexität dieses Systems ist unbegreiflich, dass und wie es bis zu 80 Jahre lang störungsfrei und ohne externe Wartung funktionieren kann!
  • Durch unsere Lebensweise verändern wir das menschlichen Mikrobiom. Die Mikrobengemeinschaft verarmt zu Lasten unserer Gesundheit - Beispiel Adipositas.
  • Antibiotika sind (wie der Name schon sagt) ein extremer Mikrobenkiller. Antibiotika sind in der Medizin nützlich, für die gesamte Natur aber extrem schädlich.
  • Das Mikrobiom eines Lebewesens ist individuell und spezifisch, aber wesentlich komplexer als beispielsweise sein Fingerabdruck.
  • Die Mikroben verfügen seit mehr als drei Milliarden Jahren über biochemische Verfahren, die Menschen nicht beherrschen (Beispiel Fotosynthese).
  • Noch ein Paradigmenwechsel: Es deutet alles darauf hin, dass Viren (die in Bakterien leben!) als Regulatoren von Holobionten funktionieren und entscheidend in die Wirt-Mikroben-Interaktionen eingreifen!

 

 

Weblinks

Bernhard Kegel - Die Herrscher der Welt www.amazon.de ...

Karin Mölling - Die Supermacht des Lebens www.chbeck.de

Dagmar Röhrich - Warum der Stammbaum des Menschen neu gedacht werden muss www.deutschlandfunk.de ...

 

 

Jürgen Albrecht, 11. April 2015
update: 07.05.2015

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