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ICH oder mein Gehirn?

 

 

Wer trifft die Entscheidungen ?

DER SPIEGEL 52/2004 veröffentlichte ein Streitgespräch zur Hirnforschung über Zweifel am freien Willen (s. Weblink SPIEGEL-Artikel). Der Neurobiologe Gerhard Roth und der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff redeten aneinander vorbei. Roth brachte das Problem nicht klar auf den Punkt und Schockenhoff hatte es nicht nur nicht begriffen, er hatte auch zum Thema nichts zu sagen.

Im Kern geht es um die Interpretation eines wissenschaftlich gesicherten Sachverhalts: Mehrere Hirnforscher haben durch klinische Experimente nachgewiesen, dass das Gehirn Entscheidungen produziert, bevor sie dem Menschen bewusst werden. Ist dem Menschen diese Entscheidung bewusst geworden, so ist er der Meinung, er hat diese Entscheidungen getroffen.

Vorausgesetzt, diese Erkenntnis ist wissenschaftlich gesichert und damit eine unumstössliche Tatsache: Wie ist sie zu interpretieren? Wer trifft die Entscheidungen und wer ist damit auch für diese Entscheidungen verantwortlich? Das genau ist das Problem, das Hirnforscher seit mindestens 10 Jahren zur Diskussion stellen.

Meine Position in Kurzform: Es ist unerheblich, ob der Mensch eine 'gefühlte' oder eine tatsächliche Freiheit besitzt. Es ist eindeutig der Mensch, der sich in Grenzen frei entscheidet und bewusst entsprechend handelt. Kein Zweiter oder Dritter handelt für ihn und schon gar nicht JHWH, der dreifaltige Gott oder Allah.

 

Zwei Positionen

Zwei Positionen stehen sich unvereinbar gegenüber (meine Formulierungen):

Die Hirnforscher behaupten, der Mensch besitzt keinen freien Willen. Er ist Illusion, so wie auch das ICH nur ein stabiles Konstrukt des menschlichen Gehirns ist. Das menschliche Gehirn analysiert mit den Informationen, die ihm die Sinne liefern, autonom seine Aussenwelt und trifft auf Grund dieser Analysen passgerechte Entscheidungen. Dem ICH werden diese Entscheidungen mitgeteilt, indem sie dem ICH bewusst werden. Danach vertritt das ICH diese Entscheidungen so, als hätte es sie selbst getroffen. Das ICH ist nicht, was es scheint: Der Mensch selbst. Das ICH fungiert als Schnittstelle des menschlichen Wahrnehmungssystems zu seiner Aussenwelt. Mit den Begriffen Seele und Geist können Kognitions- und Hirnforscher nichts anfangen, weil dafür im menschlichen Körper keine physische Entsprechung zu finden ist.

Das Wertesystem der westlichen Zivilisation und das der Christlichen Kirchen basiert auf der Auffassung, dass der Mensch einen freien Willen besitzt. Spätestens wenn er erwachsen ist, ist er sich seiner selbst bewusst. Das ICH ist der Beweis dafür und es repräsentiert den gesamten Menschen. Die Christen glauben zusätzlich, dass jeder Mensch eine unsterbliche Seele besitzt und dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Er besitzt Emotionen, aber Kraft seines Verstandes und seines Willens hat er sie unter Kontrolle. Seine Taten unterliegen seinem Willen. Deshalb kann er sich beispielsweise an die zehn Gebote halten, er muss es nur wollen. Und wenn er nicht will, dann kann er zur Einhaltung dieser Werte erzogen werden. Dass für die Seele im menschlichen Körper keine physische Entsprechung zu finden ist, wundert den Moraltheologen nicht, denn das ist ja gerade das Charakteristikum der Seele.

In der Endkonsequenz geht es hier um die Frage, ob der Mensch für seine Entscheidungen, Taten und sein Verhalten verantwortlich zu machen ist, oder nicht. Hat das Gehirn den Mord verübt und der Mensch hat passiv mitgemacht, oder war es der Mensch, der klare Motive besass, die im Endeffekt zu diesem Mord geführt haben? Wer hat die Tat geplant und entschieden, sie auszuführen? Oder anders gefragt: Wer agiert autonom, der Mensch oder sein Gehirn?

 

Vorbehalte

Beide Positionen sind aus meiner Sicht im Endeffekt Glaubenssätze.

Die Position der katholischen Kirche ist eine Glaubensfrage, das ist unstrittig. Das, was die Kirche behauptet, kann sie nicht beweisen. Die Annahme, dass es so ist, ist der Glaube. Man hat ihn, oder man glaubt etwas anderes. Deshalb können solche Begriffe wie Seele, Wille und Geist nicht hinterfragt werden. Die Kirche definiert nicht, was das ist, denn sie weiss es selbst nicht. Sie glaubt.

Die Naturwissenschaft hält Erkenntnisse, die reproduzierbar sind, für objektiv wahr. In diesem Sinne operiert die Naturwissenschaft mit dem Begriff der Wahrheit. Ein Sachverhalt ist wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Angenommen, die Hirnforscher können tatsächlich beweisen, dass Entscheidungen vom Gehirn getroffen worden sind, bevor sie uns bewusst werden. Angenommen, das was Gehirnforscher für Entscheidungen geringer Komplexität nachgewiesen haben, gilt auch für komplexe Entscheidungen. Und auch angenommen, das ICH ist die Schnittstelle des Menschen zur Aussenwelt und sein freier Wille eine Illusion - dann kann trotzdem nicht mit absoluter Sicherheit davon ausgegangen werden, dass diese Erkenntnisse wahr sind. Einfach deshalb, weil der Mensch nicht in der Lage ist, absolute Wahrheiten zu erkennen. In diesem Sinne sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse letztlich auch Glaubenssätze. Aber weil sie beweisbar und reproduzierbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit im Gegensatz zu Postulaten des Glaubens grösser, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

 

Der Schwarm

Was heisst freier Wille? Sicher gibt es dafür verbale und operationale Definitionen, aber kann man damit effektiv die Ergebnisse der Hirnforschung konfrontieren? Für mich erscheint ein Vergleich des Gruppenverhaltens von Lebewesen mit dem von Menschengruppen effektiver. Die entscheidende Frage: Wo liegt der Unterschied und gibt es ihn überhaupt?

Es ist faszinierend, Fisch- oder Vogelschwärme zu beobachten. So ein Schwarm ist gleichzeitig eine Einheit und eine Vielheit von einzelnen Lebewesen. Die Einheit, der Schwarm, zeigt ein qualitativ anderes Verhalten, als das Einzelwesen. Wer steuert den Schwarm und warum bewegt er sich so, wie er sich bewegt? Das zu beantworten erscheint sehr schwierig, ist aber erstaunlich einfach: Die einzelnen Vögel müssen sich nur an ganz wenige Regeln halten, dann funktionieren sie in ihrer Gesamtheit perfekt als Schwarm: 1. Jeder fliegt dort hin, wo auch die Nachbarn hinfliegen. 2. Gleiche Geschwindigkeit einhalten. 3. Möglichst geringen Abstand halten, aber Kollisionen unbedingt vermeiden. In der Kurzfassung: Eine Menge von Lebewesen funktioniert als Schwarm, wenn jedes einzelne Wesen das macht, was seine Nachbarn auch tun. Die Bewegungen des Schwarmes sind rein zufällig und sie kommen durch die geringen Abweichungen der Einzelwesen von diesen Regeln zustande, die unvermeidlich sind. Was wie eine planvolle, zielgerichtete und harmonische Bewegung aussieht, ist ein Zufallsprodukt. Niemand steuert diesen Schwarm, seine Bewegung ist das Ergebnis der Aktionen aller einzelnen Lebewesen. (Das Gleiche gilt seltsamer Weise auch für die Entwicklung der gegenwärtigen Zivilisation! Ein Unbeteiligter aus dem All würde unsere Zivilisation so wahrnehmen, wie wir einen Vogelschwarm und einen Termitenbau beobachten.)

Vom Schwarmverhalten kann man generell auf das Verhalten von Lebewesen schliessen, denn alle höheren Lebewesen leben in einer sozialen Gemeinschaft. Der Schwarm entsteht durch ein spezielles Sozialverhalten:

Ameisen verhalten sich beispielsweise ähnlich wie ein Vogelschwarm, aber hier sind die Regeln schon komplexer und die Arbeitsteilung schafft innerhalb eines Ameisenstaates soziale Schichten, die auf unterschiedlichen Hierarchieebenen funktionieren und deren physisches Zusammenspiel durch strenge Regeln geordnet wird. Diese Regeln kann man in ihrer Gesamtheit auch als soziales Verhalten bezeichnen. Unter dieser Sicht gibt es grosse Ähnlichkeiten zwischen einem Ameisenstaat, einer Vogelkolonie, einem Rudel von Hyänen und der menschlichen Zivilisation.

Das Verhalten einer Menschengruppe unter steinzeitlichen Bedingungen ist durchaus mit dem eines Hyänenrudels vergleichbar. Es existiert nur zwei qualitative Unterschiede:
Die Regeln soziale Tiergemeinschaften sind in den Genen fixiert, Abweichungen von dieser instinktiven Steuerung sind praktisch nicht möglich. Bei einer menschlichen Gemeinschaft sind die Regeln nicht so starr, der Mensch ist Dank seiner Vernunft (in Grenzen!) lernfähig und flexibel, seine Handlungen unterliegen (teilweise!) seinem freien Willen. Sein Verhaltensrepertoire besitzt deshalb eine deutlich grössere Komplexität. Der einzelne Mensch besitzt mehr Freiheitsgrade in seinem arttypischen Verhalten.
Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raub, Kannibalismus und Inzest gehören offenbar auch zum arttypischen, menschlichen Verhalten. Das fördert nicht gerade das friedliche Zusammenleben. Mit seiner Imagination war der Mensch schon auf einer frühen Entwicklungsstufe in der Lage, Wertvorstellungen zu entwerfen, und sie mit Riten und Tabus in der Gemeinschaft als soziales Verhalten auch durchzusetzen. Das soziale Verhalten und die menschliche Kultur schränken den Verhaltensspielraum und den freien Willen des Menschen wieder ein.

 

Das Gehirn arbeitet autonom

Die Erkenntnisse der Gehirnforschung, dass das Gehirn auch ohne unser Bewusstsein sinnvoll und effektiv arbeitet, werden durch ganz simple Alltagsbeobachtungen gestützt. Nicht in jedem Fall sagt das ICH dem Gehirn, was es tun soll, das Gehirn arbeitet über weite Strecken autonom und im Unterbewusstsein. Danach teilt es dem ICH mit, was es für Erkenntnisse oder Entscheidungen produziert hat. Hier sind ein paar Beispiele dafür:

  • Es existieren heuristische Programme, mit denen komplexe Sachverhalte zu bewerten sind (Punktbewertungen u.a.). Wendet man sie an, stellt man am Ende fest, dass man das erreichte Ergebnis bereits weit vor Beginn der schematischen Bewertung erwartet hat. Das im Unterbewusstsein arbeitende Gehirn ist längst mit der Bewertung fertig, während das bewusste ICH noch über die Bewertungsmethodik nachdenkt.
  • Es ist methodisch völlig ungeklärt, wie Ideen entstehen. In einigen Fällen ist nachträglich (!) eine Kausalkette zu rekonstruieren. Meistens aber ist auch das nicht möglich, genau so wenig wie man Ideen auf Kommando oder durch methodisches Vorgehen 'produzieren' kann. Man kann nur das Umfeld stimulieren und dann muss man einfach darauf warten, dass das Gehirn einen Einfall hat ... in vielen Fällen wartet man darauf vergeblich.
  • Ich weiss nicht, wie Teile dieses Textes zustande gekommen sind. Mir wurde diktiert. So kann ich das Schreiben über weite Strecken nur beschreiben. Und diktieren kann mir - dem ICH - ja nur mein eigenes Gehirn. Mitten in der Nacht wurde ich zum Diktat an den Rechner gerufen und ich musste dieser Aufforderung folgen, wollte ich nicht Gefahr laufen, dass der gerade vom Gehirn ohne mein Zutun produzierte Gedanke (Das ICH ist nicht, was es scheint ...) wieder ins Nirwana entschwindet.

Die umstrittenen Erkenntnisse der Gehirnforschung sind also weder strittig noch spektakulär - sie decken sich mit alltäglichen Erfahrungen, die jeder machen kann.

 

Kein Lebewesen kann seine Schicht verlassen

Die Systematische Heuristik operiert mit dem Begriff der 'Schicht'. Die Null-Schicht ist die Ebene oder der Raum, in der der zu untersuchende Prozess abläuft. In Analogie dazu wird beim Konzept der Psychoheuristik die Null-Schicht als die Aktionsschicht des Subjekts bezeichnet, sein Aktionsradius. Das Subjekt agiert ausschliesslich in seiner Schicht (Thesen ab 103), durch Wechselwirkungen werden aber benachbarte Schichten beeinflusst. Neben, unter und über dem Aktionsradius des Subjekts existieren unendlich viele andere Schichten (= Subjekte) mit gleicher oder unterschiedlicher Komplexität: Plus Schicht: Höhere Komplexität, Minus Schicht: Geringere Komplexität.

Diese Sichtweise ist auch hier anwendbar: Ein Vogelschwarm agiert über uns in einer anderen Schicht. Beobachten wir eine Horde von Pavianen, so leben sie in einer völlig anderen Schicht als die Menschen, die vor ihrem Gehege stehen. Es gibt zwar Beziehungen zwischen den qualitativ unterschiedlichen und hierarchisch strukturierten Schichten (Beispiel: Der Mensch liefert Futter), aber mehr auch nicht. Es scheint ein (noch nicht formuliertes) Naturgesetz zu sein, dass kein Lebewesen seine Schicht verlassen kann.

 

Ein Beispiel

Ein Beispiel zeigt, wie diffizil die Diskussion um den freien Willen des Menschen ist. Wie bei der Diskussion um die Wahrheit (s.o.) verschwimmen die Konturen des Begriffs 'freier Wille' immer mehr, je mehr man sich darum bemüht, ihn in Worte zu fassen:

Ein Pavian würde nie auf die Idee kommen, sich wie eine Hyäne zu verhalten. Sein Instinkt lässt ihn auch nicht auf solche Ideen kommen. Er bleibt ganz selbstverständlich Pavian, er bleibt in seiner 'Schicht'. Ein Mensch aber kann mit seinem Verstand über seine 'Schicht' hinaus denken und sich beispielsweise entscheiden, wie ein Pavian zu leben. Eigentlich hat er auch jede Freiheit, das zu tun, soweit das physisch überhaupt möglich ist. Warum aber tut ein Mensch so etwas nicht, obwohl er objektiv völlig frei ist, so eine Entscheidung zu treffen und zu realisieren? Er verhält sich nicht wie ein Pavian, obwohl er die Freiheit hätte, es wenigstens zu versuchen, weil er ein Mensch ist und sich wie ein Mensch verhält. Auch der Mensch bleibt in seiner 'Schicht'. Die Prägung auf das artgerechte, menschliche Verhalten schränkt den freien Willen ein, ohne dass es uns bewusst ist.

Spannend wäre, einem einzelnen Vogel die Frage zu stellen, ob er bei seinen Flügen im Schwarm frei in seinen Entscheidungen ist. Ich nehme stark an, jeder Vogel würde behaupten, er sei völlig frei dorthin zu fliegen, wo er hinfliegen möchte. Genau das würde auch ein Mensch behaupten, wenn man ihn fragt, ob er einen freien Willen besitzt. Natürlich suggeriert ihm sein ICH, dass er völlig frei in seinen Entscheidungen ist. Die Grenzen, die selbstverständlich existieren, nimmt er überhaupt nicht mehr wahr. Es sind feste Settings, die das Gehirn nicht mehr in Frage stellt und die deshalb bei der Schnittstelle zur Aussenwelt, dem ICH, auch keine Rolle mehr spielen.

 

Thesen zum freien Willen des Menschen

Unter Bezug auf die Thesen zu schwierigen Fragen und die Überlegungen zum Begriff Denken
stelle ich folgendes fest:

  • Das soziale Verhalten ist typisch für alle höheren Tiere, der Schwarm ist nur ein exemplarisches Beispiel dafür.
  • Kein in einer sozialen Gemeinschaft lebendes Tier ist frei in seinen Entscheidungen. Es orientiert sich bei allen seinen Handlungen am Verhalten seiner Artgenossen.
  • Das Verhalten einer Gruppe von Menschen gleicht dem einer Gruppe von Tieren. Es gibt nur zwei qualitative Unterschiede: Erstens ist (natürlich auch) das menschliche Verhalten arttypisch und zweitens ist Dank der Vernunft die Komplexität des Repertoires der menschlichen Verhaltensmuster grösser.
  • Durch das grössere Repertoire der Verhaltensmuster besitzt der einzelne Mensch mehr Freiheitsgrade in seinem arttypischen Verhalten, als Tiere. Sein soziales Verhalten und die menschliche Kultur schränken aber den Verhaltensspielraum und den freien Willen wieder ein. Der Mensch besitzt - wenn auch vielfach eingeschränkt - also durchaus einen freien Willen.
  • Lebewesen sind in ihrer Schicht frei, können sie aber physisch nicht verlassen.
  • Es ist in den meisten Fällen nicht der bewusst denkende Mensch, sondern sein Gehirn, das mit den Sinnen und dem Wahrnehmungssystem die Aussenwelt analysiert, die Motorik steuert und auch passgerechte Entscheidungen trifft. Der Kognitionsforschung ist schon lange bekannt, dass die meisten der dazu notwendigen Prozesse dem Bewusstsein nicht zugängig sind.
  • Es gibt viele alltäglich Beispiele dafür, dass das Gehirn ohne das Bewusstsein sehr sinnvoll und effektiv arbeitet (s.o.).
  • Schnell sind die Grenzen der geistigen Leistungsfähigkeit erreicht, wenn man feststellen muss, dass das ICH sein Gehirn nicht zur Produktion von Ideen, Erkenntnissen oder Einsichten zwingen kann. Man kann nur auf den richtigen Einfall warten. Frustrierend.
  • Es scheint die Aufgabe des ICH zu sein, die Analysen und Entscheidungen des Gehirns gegenüber der Aussenwelt zu vertreten.
  • Das ICH ist ein Modell des Menschen. Es repräsentiert ihn, ist aber nicht der Mensch selbst.
  • Das ICH ist ein Konstrukt des Gehirns und es fungiert als Schnittstelle zwischen der (bewussten und der unbewussten) Innenwelt des Menschen und seiner Aussenwelt.
  • Solange der Mensch die von seinem Gehirn (vielleicht) autonom getroffene Entscheidung als seine eigenen vertritt und ganz bewusst im Sinne dieser Entscheidung handelt, ist es ohne Belang, ob es sich dabei um einen 'gefühlten' oder einen tatsächlichen freien Willen handelt.

 

Facit

Auch ohne die Erkenntnisse der Hirnforscher scheint klar zu sein, dass es absolut gesehen einen freien Willen nirgends im Tierreich und auch beim Menschen nicht gibt, denn jedes soziale Lebewesen orientiert sich bei all seinen Entscheidungen am Verhalten seiner Artgenossen. Der Mensch ist zusätzlich noch den kulturellen Werten seiner Gemeinschaft unterworfen, die sein Verhalten dominieren, prägen und ständig aktualisieren.

Innerhalb des artgerechten Verhaltens aber gibt es Spielraum. Er ist umso grösser, je komplexer das Verhaltensrepertoire ist. Dieser Spielraum ist besonders beim Menschen dem Verstand und dem freien Willen unterworfen. Es erscheint mir dabei unwesentlich, wer die Entscheidung primär trifft, den Spielraum auszunutzen, das Gehirn oder das ICH. Solange der Mensch die von seinem Gehirn (vielleicht) autonom getroffene Entscheidung als seine eigenen vertritt und ganz bewusst im Sinne dieser Entscheidung handelt, ist es ohne Belang, ob es sich dabei um einen 'gefühlten' oder einen tatsächlichen freien Willen handelt.

Weder individuell noch als Gesellschaft wissen wir etwas mit der (tatsächlichen oder 'gefühlten') Freiheit anzufangen, die wir objektiv und Kraft unserer Vernunft eigentlich besitzen. Wir sind gefangen in unserer 'Schicht', in einem Korsett von Konventionen, Tabus, Sitten, Traditionen, Rücksichtnahmen und Angewohnheiten. Dieser Aspekt scheint mir viel wesentlicher zu sein als die Frage, ob das Gehirn in vielen Fällen ohne das Bewusstsein Entscheidungen trifft.

 

Weblinks und Bücher

Gerhard Roth
Wie das Gehirn die Seele macht
Vortrag am 22. April 2001

Gerhard Roth
Persönliche Entscheidung und Verhalten
Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern
(2007) Klett-Cotta Verlag, 348 Seiten
ISBN 978-3608944907

SPIEGEL-Artikel
Das Hirn trickst das Ich aus, ein Streitgespräch zwischen Roth und Schockenhoff
Kostenpflichtig

SPIEGEL-Dossier Hirnforschung
Gibt es einen freien Willen?
Kostenpflichtig

www.fluisken.de
Thesen zu Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit
FaM 1997

Freier Wille
Wikipedia: Umfangreicher Artikel, viele Literaturstellen und Links

www.forum-grenzfragen.de
Hirn als Paralleluniversum
Wolf Singer und Gerhard Roth verteidigen ihre Neuro-Thesen (2004)

Gerhard Roth
Die Pseudoherrschaft des Ich
Beschränkte Beeinflussbarkeit und Entscheidungsfreiheit von Individuen

www.aurora-magazin.at
Bewußtsein und der freie Wille
Beiträge zur philosophischen Diskussion des "Selbst"

Rudolf Sponsel
Willensfreiheit - Pro und Contra
Bericht und Kritik vom Symposium turmdersinne 2004
Freier Wille - frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit

Stefan Schleim
Ist der Mensch ein Automat?
Probleme mit der Willensfreiheit bei Hirnforschern und Philosophen

Michael Pauen
Illusion Freiheit
Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung
(2004) S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
ISBN 3100619102

Hrsg. v. Christian Geyer
Hirnforschung und Willensfreiheit
Zur Deutung der neuesten Experimente
(2004) SUHRKAMP, 295 S.
Edition Suhrkamp Nr. 2387
ISBN 3518123874

 

Jürgen Albrecht, 06. Januar 2005
Puerto Galera, Philippines

 

   

Nachtrag
Freier Wille und Verantwortlichkeit

Der freie Wille etwas zu tun, schliesst die Verantwortung für dieses Tun ein. Auf diesem Grundsatz beruht das Rechtssystem der westlichen Zivilisation. Es ist aus dem Rechtsverständnis der Antike bis in unsere heutige Zeit gewachsen. Mit der Frage nach dem freien Willen des Menschen wird auch seine Verantwortung in Frage gestellt. Wer keinen freien Willen besitzt, kann auch nicht für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Die entsprechenden Präzedenzfälle gibt es schon lange: Der Mörder, Vergewaltiger oder Kinderschänder, dem "Unzurechnungsfähigkeit" bescheinigt wird, geht im Prinzip straffrei aus. Er ist nicht schuldfähig, weil er nicht erkennt, dass seine Tat gegen geltende Gesetze verstösst. Ein solcher Täter ist durch sein unberechenbares Verhalten eine Gefahr für die Gesellschaft und wird deshalb in einer geschlossenen, psychiatrischen Anstalt weggesperrt.

Muss diese Rechtsnorm unter dem Einfluss der Ergebnisse der Hirnforschung geändert werden?

Kein freier Wille - also auch keine Verantwortung. Das wäre die Konsequenz, würde man einem angeblich unpersönlichen Gehirn Wille und Verantwortung zuweisen. De facto aber kann man das Gehirn und das ICH, das es repräsentiert, nicht trennen. Deshalb existiert de jure auch kein unpersönliches Gehirn. Solange ein Mensch zu der von ihm getroffenen Entscheidung steht, ist es ohne Belang, ob sie aus einem 'gefühlten' oder einem tatsächlich freien Willen resultiert. Eine solche Entscheidung schliesst auch die damit verbundene Verantwortung ein. Bei tatsächlicher Unzurechnungsfähigkeit ändert sich nichts gegenüber der aktuellen Rechtsprechung.

Zufällig ist heute Pfingstsonntag und die Kirche feiert die Ausgiessung des Heiligen Geistes auf die Apostel. Aus dem Radio ertönt der stark formalisierte Singsang einer katholischen Liturgie ... Auch die katholische Kirche verhält sich in der Frage der Verantwortung pragmatisch: Viel eher als ein Atheist könnte sich doch ein katholischer Mörder darauf berufen, als ein Werkzeug Gottes gehandelt zu haben. Wer eine solche Aussage gegenüber den medizinischen Gutachtern glaubhaft vertritt, landet in der Psychiatrie. Kein Kardinal und auch kein Gott stehen ihm bei.

Tatsächlich aber ist die Sachlage komplexer und damit komplizierter: Die Sichtweise, dass das ICH nur die Schnittstelle des autonomen Gehirns zur Aussenwelt darstellt, kommt der Realität näher als die Behauptung, man könne das ICH und das Gehirn nicht trennen. Was aber, wen das ICH zwar den Menschen repräsentiert, aber nicht der Mensch selber ist? Dann leben wir in einer Welt natürlicher Automaten. Das muss nicht vollständigen, starren Determinismus bedeuten. Auch ohne Determinismus kann kein Lebewesen seine Schicht verlassen. Auch das Verhalten technischer Automaten (Roboter) ist zunehmend variabel programmierbar und es kann vielfältige Wahlmöglichkeiten, also Freiheiten und einen grossen Aktionsradius beinhalten. Diese naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt zeigt uns aber, dass wir wahrscheinlich die potentiellen Möglichkeiten des Menschen ständig überschätzen. Wir postulieren Ethik, Moral und die persönliche Verantwortung, damit die Sozialsysteme unserer Zivilisation funktionieren. Und die christlichen Kirchen überhöhen den Menschen als 'Krone der Schöpfung' aus dem gleichen Grunde.

Welche Konsequenzen hätte es, würde man dem Menschen die Verantwortung für sein Tun absprechen? Die gegenwärtige Zivilisation würde zusammenbrechen, weil entscheidend wichtige Verhaltensweisen nicht mehr Konsens wären. Raub, Mord, Vergewaltigung, alle Verbrechen würden zur Norm erhoben. Eine solche Gesellschaft aber wäre in der jetzigen Form nicht mehr lebensfähig. Die Gesellschaft würde sich grundlegend verändern. Daraus ist zu schliessen: Das gegenwärtige Rechtssystem ist ganz offensichtlich kein formales, juristisches Konstrukt, sondern Ausdruck des "natürlichen" Verhaltensrepertoires, mit dem diese Zivilisation (gerade so ...) existieren kann. Geringste Änderungen bringen das Kartenhaus zum Einsturz. Faszinierend!

 

Universum und Erde

 

 

Aus anderer Perspektive

Aus einer anderen Perspektive aber werden all diese Überlegungen auf den Kopf gestellt:

Ein Gedankenexperiment: Was sieht ein "neutraler Beobachter", der die Erde vom Universum aus mit einer grösseren Zeitkonstante beobachtet? Könnte er von den Werken der Species Mensch auf intelligentes Verhalten schliessen? Dieser Beobachter würde im Zeitraffer als charakteristisch feststellen, dass die neue Species auch qualitativ neue Verfahren benutzt, um Recourcen auszubeuten und die Erde für ihre Zwecke zu verändern. Bei diesen Veränderungen ist aber kein qualitativ anderes Ziel zu erkennen, als bei den Lebewesen, die bisher auf der Erde aktiv waren und sind: Fortpflanzung, Reviersicherung und Machtstreben. Neu beim Streben nach Macht ist nur das Eigentum. Die Entwicklung der Menschheit verläuft so, wie sich ein Vogelschwarm taumelnd am Himmel bewegt. Keine Spur von gezieltem, intelligentem Wachstum. Nur die Evolution des Lebens auf der Erde verläuft auf ein klar erkennbares Ziel zu: Maximale Komplexität und minimale Entropie. Warum? Das ist die Frage nach dem Ursprung der Strukturen des Universums und des Lebens.

Betrachtet man einen einzelnen Menschen, so kann und muss man ihm einen freien Willen und Verantwortung zuschreiben. Fragt man danach aber aus der Perspektive der Menschheit, so ist weder ein freier Wille noch Verantwortung auszumachen. Das Ergebnis des Handelns der Menschheit ist ein Zufallsprodukt. Die Entwicklung dieser Zivilisation unterliegt keinem steuernden Willen. Die Menschheit entwickelt sich genau so, wie sich eine Flechte auf einem Felsen oder eine Vogelkolonie auf einer arktischen Insel entwickelt. Sie wird nur gesteuert von den sich ständig verändernden (rückgekoppelten) Umständen. Nichts ist zu sehen von den ästhetischen Gedankengebäuden virtueller Welten, die sich nur dem Menschen dank seines Verstandes erschliessen und die Komplexität des Ganzen erahnen lassen. Von freiem Willen, bewusster Sinngebung oder Verantwortung der Menschheit ist schon aus mässiger Entfernung nichts mehr wahrzunehmen. Das riesige Feld rationaler Möglichkeiten wird verschenkt, von Emotionen und Gewalt überrollt. Allerdings ohne Konsequenz, denn es ist (wie bei den Flechten ...) keine Institution erkennbar, vor der sich die Menschheit für ihre Handlungen zu verantworten hätte.

 

 

Überlegungen zu natürlichen Automaten ...

... führen zu der Erkenntnis, dass jeder Mensch zwar einen freien Willen besitzt, aber er ist gewaltig eingeschränkt:

  • Seine Beschränkungen (Wahrnehmungsvermögen, Verhaltensrepertoire, definierte Schicht, interne Informationsverarbeitung) machen Menschen zu natürlichen Automaten.
  • Der Menschen ist sich nicht bewusst, dass sein ICH nur ein Konstrukt seines Gehirns ist, eine Fiktion.
  • Das ICH fungiert als Schnittstelle zwischen der Innen- und der Aussenwelt des Menschen
    (bewusste und unbewusste Innenwelt).
  • Der Mensch wird von seinen Emotionen beherrscht,
    gegen die Wille, Verstand und Bewusstsein kaum Einfluss besitzen.
  • Seinen Basic Instincts ist der Mensch fast hilflos ausgeliefert.
  • Es ist nicht des Menschen Natur, im Normalfall seinen Verstand zu gebrauchen.
  • Den Alltag bewältigt der Mensch mit Routinen und ohne Denken.
  • Sein Denken kann der Mensch zwar stimulieren, aber er kann sein Gehirn nicht zwingen,
    Ideen, Erkenntnissen oder Einsichten zu produzieren.
  • Das Verhalten des Menschen ist in seinen Genen fixiert (Gang, Sprache, Charakter)
    und durch Erfahrungen in den ersten Lebensjahren geprägt.
  • Der Mensch kann sich von diesem Verhalten (seiner Persönlichkeit, seiner Schicht)
    lebenslang nicht mehr lösen.
  • Die gesamte Steuerung elementarer Körperfunktionen verläuft autonom
    und ist dem menschlichen Willen nicht unterworfen.
  • Ethik und Moral sind nicht angeboren, das Sozialverhalten wird kulturell vermittelt.
    In Krisensituationen reduziert sich das Verhalten sehr schnell nur noch auf den Überlebenswillen.

Der Mensch kann entscheiden, aus einer verqualmten Kneipe an die frische Luft zu gehen. Trotz bestem Willen aber kann er das atmen nicht einstellen ... nicht einmal das Rauchen! Dieses Beispiel beschreibt das Dilemma unseres freien Willens. Lässt man das eigene Leben Revue passieren und fragt sich, wie man sich für seine erste Liebe, den Beruf, den Wohnort und für oder gegen die Gründung einer Familie entschieden hat, wird man feststellen: Der Zufall hat viel mehr gewürfelt, als dass wir selber eine zielgerichtete Entscheidung getroffen und sie dann auch in die Tat umgesetzt haben. Die meisten Menschen treiben weitgehend willenlos durch ihr Leben und bestaunen begeistert oder frustriert die Ereignisse, die an ihnen vorbeiziehen ... Mehr ...

 

 

Jürgen Albrecht, 27. Mai und 07. August 2008

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