ICH
oder mein Gehirn?
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Wer trifft die Entscheidungen ? DER SPIEGEL 52/2004 veröffentlichte ein Streitgespräch zur Hirnforschung über Zweifel am freien Willen (s. Weblink SPIEGEL-Artikel). Der Neurobiologe Gerhard Roth und der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff redeten aneinander vorbei. Roth brachte das Problem nicht klar auf den Punkt und Schockenhoff hatte es nicht nur nicht begriffen, er hatte auch zum Thema nichts zu sagen. Im Kern geht es um die Interpretation eines wissenschaftlich gesicherten Sachverhalts: Mehrere Hirnforscher haben durch klinische Experimente nachgewiesen, dass das Gehirn Entscheidungen produziert, bevor sie dem Menschen bewusst werden. Ist dem Menschen diese Entscheidung bewusst geworden, so ist er der Meinung, er hat diese Entscheidungen getroffen. Vorausgesetzt, diese Erkenntnis ist wissenschaftlich gesichert und damit eine unumstössliche Tatsache: Wie ist sie zu interpretieren? Wer trifft die Entscheidungen und wer ist damit auch für diese Entscheidungen verantwortlich? Das genau ist das Problem, das Hirnforscher seit mindestens 10 Jahren zur Diskussion stellen. Meine Position in Kurzform: Es ist unerheblich, ob der Mensch eine 'gefühlte' oder eine tatsächliche Freiheit besitzt. Es ist eindeutig der Mensch, der sich in Grenzen frei entscheidet und bewusst entsprechend handelt. Kein Zweiter oder Dritter handelt für ihn und schon gar nicht JHWH, der dreifaltige Gott oder Allah.
Zwei Positionen Zwei Positionen stehen sich unvereinbar gegenüber (meine Formulierungen): Die Hirnforscher behaupten, der Mensch besitzt keinen freien Willen. Er ist Illusion, so wie auch das ICH nur ein stabiles Konstrukt des menschlichen Gehirns ist. Das menschliche Gehirn analysiert mit den Informationen, die ihm die Sinne liefern, autonom seine Aussenwelt und trifft auf Grund dieser Analysen passgerechte Entscheidungen. Dem ICH werden diese Entscheidungen mitgeteilt, indem sie dem ICH bewusst werden. Danach vertritt das ICH diese Entscheidungen so, als hätte es sie selbst getroffen. Das ICH ist nicht, was es scheint: Der Mensch selbst. Das ICH fungiert als Schnittstelle des menschlichen Wahrnehmungssystems zu seiner Aussenwelt. Mit den Begriffen Seele und Geist können Kognitions- und Hirnforscher nichts anfangen, weil dafür im menschlichen Körper keine physische Entsprechung zu finden ist. Das Wertesystem der westlichen Zivilisation und das der Christlichen Kirchen basiert auf der Auffassung, dass der Mensch einen freien Willen besitzt. Spätestens wenn er erwachsen ist, ist er sich seiner selbst bewusst. Das ICH ist der Beweis dafür und es repräsentiert den gesamten Menschen. Die Christen glauben zusätzlich, dass jeder Mensch eine unsterbliche Seele besitzt und dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Er besitzt Emotionen, aber Kraft seines Verstandes und seines Willens hat er sie unter Kontrolle. Seine Taten unterliegen seinem Willen. Deshalb kann er sich beispielsweise an die zehn Gebote halten, er muss es nur wollen. Und wenn er nicht will, dann kann er zur Einhaltung dieser Werte erzogen werden. Dass für die Seele im menschlichen Körper keine physische Entsprechung zu finden ist, wundert den Moraltheologen nicht, denn das ist ja gerade das Charakteristikum der Seele. In der Endkonsequenz geht es hier um die Frage, ob der Mensch für seine Entscheidungen, Taten und sein Verhalten verantwortlich zu machen ist, oder nicht. Hat das Gehirn den Mord verübt und der Mensch hat passiv mitgemacht, oder war es der Mensch, der klare Motive besass, die im Endeffekt zu diesem Mord geführt haben? Wer hat die Tat geplant und entschieden, sie auszuführen? Oder anders gefragt: Wer agiert autonom, der Mensch oder sein Gehirn?
Vorbehalte Beide Positionen sind aus meiner Sicht im Endeffekt Glaubenssätze. Die Position der katholischen Kirche ist eine Glaubensfrage, das ist unstrittig. Das, was die Kirche behauptet, kann sie nicht beweisen. Die Annahme, dass es so ist, ist der Glaube. Man hat ihn, oder man glaubt etwas anderes. Deshalb können solche Begriffe wie Seele, Wille und Geist nicht hinterfragt werden. Die Kirche definiert nicht, was das ist, denn sie weiss es selbst nicht. Sie glaubt. Die Naturwissenschaft hält Erkenntnisse, die reproduzierbar sind, für objektiv wahr. In diesem Sinne operiert die Naturwissenschaft mit dem Begriff der Wahrheit. Ein Sachverhalt ist wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Angenommen, die Hirnforscher können tatsächlich beweisen, dass Entscheidungen vom Gehirn getroffen worden sind, bevor sie uns bewusst werden. Angenommen, das was Gehirnforscher für Entscheidungen geringer Komplexität nachgewiesen haben, gilt auch für komplexe Entscheidungen. Und auch angenommen, das ICH ist die Schnittstelle des Menschen zur Aussenwelt und sein freier Wille eine Illusion - dann kann trotzdem nicht mit absoluter Sicherheit davon ausgegangen werden, dass diese Erkenntnisse wahr sind. Einfach deshalb, weil der Mensch nicht in der Lage ist, absolute Wahrheiten zu erkennen. In diesem Sinne sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse letztlich auch Glaubenssätze. Aber weil sie beweisbar und reproduzierbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit im Gegensatz zu Postulaten des Glaubens grösser, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
Der Schwarm Was heisst freier Wille? Sicher gibt es dafür verbale und operationale Definitionen, aber kann man damit effektiv die Ergebnisse der Hirnforschung konfrontieren? Für mich erscheint ein Vergleich des Gruppenverhaltens von Lebewesen mit dem von Menschengruppen effektiver. Die entscheidende Frage: Wo liegt der Unterschied und gibt es ihn überhaupt? Es ist faszinierend, Fisch- oder Vogelschwärme zu beobachten. So ein Schwarm ist gleichzeitig eine Einheit und eine Vielheit von einzelnen Lebewesen. Die Einheit, der Schwarm, zeigt ein qualitativ anderes Verhalten, als das Einzelwesen. Wer steuert den Schwarm und warum bewegt er sich so, wie er sich bewegt? Das zu beantworten erscheint sehr schwierig, ist aber erstaunlich einfach: Die einzelnen Vögel müssen sich nur an ganz wenige Regeln halten, dann funktionieren sie in ihrer Gesamtheit perfekt als Schwarm: 1. Jeder fliegt dort hin, wo auch die Nachbarn hinfliegen. 2. Gleiche Geschwindigkeit einhalten. 3. Möglichst geringen Abstand halten, aber Kollisionen unbedingt vermeiden. In der Kurzfassung: Eine Menge von Lebewesen funktioniert als Schwarm, wenn jedes einzelne Wesen das macht, was seine Nachbarn auch tun. Die Bewegungen des Schwarmes sind rein zufällig und sie kommen durch die geringen Abweichungen der Einzelwesen von diesen Regeln zustande, die unvermeidlich sind. Was wie eine planvolle, zielgerichtete und harmonische Bewegung aussieht, ist ein Zufallsprodukt. Niemand steuert diesen Schwarm, seine Bewegung ist das Ergebnis der Aktionen aller einzelnen Lebewesen. (Das Gleiche gilt seltsamer Weise auch für die Entwicklung der gegenwärtigen Zivilisation! Ein Unbeteiligter aus dem All würde unsere Zivilisation so wahrnehmen, wie wir einen Vogelschwarm und einen Termitenbau beobachten.) Vom Schwarmverhalten kann man generell auf das Verhalten von Lebewesen schliessen, denn alle höheren Lebewesen leben in einer sozialen Gemeinschaft. Der Schwarm entsteht durch ein spezielles Sozialverhalten: Ameisen verhalten sich beispielsweise ähnlich wie ein Vogelschwarm, aber hier sind die Regeln schon komplexer und die Arbeitsteilung schafft innerhalb eines Ameisenstaates soziale Schichten, die auf unterschiedlichen Hierarchieebenen funktionieren und deren physisches Zusammenspiel durch strenge Regeln geordnet wird. Diese Regeln kann man in ihrer Gesamtheit auch als soziales Verhalten bezeichnen. Unter dieser Sicht gibt es grosse Ähnlichkeiten zwischen einem Ameisenstaat, einer Vogelkolonie, einem Rudel von Hyänen und der menschlichen Zivilisation. Das
Verhalten einer Menschengruppe unter steinzeitlichen Bedingungen ist
durchaus mit dem eines Hyänenrudels vergleichbar. Es existiert
nur zwei qualitative Unterschiede:
Das Gehirn arbeitet autonom Die Erkenntnisse der Gehirnforschung, dass das Gehirn auch ohne unser Bewusstsein sinnvoll und effektiv arbeitet, werden durch ganz simple Alltagsbeobachtungen gestützt. Nicht in jedem Fall sagt das ICH dem Gehirn, was es tun soll, das Gehirn arbeitet über weite Strecken autonom und im Unterbewusstsein. Danach teilt es dem ICH mit, was es für Erkenntnisse oder Entscheidungen produziert hat. Hier sind ein paar Beispiele dafür:
Die umstrittenen Erkenntnisse der Gehirnforschung sind also weder strittig noch spektakulär - sie decken sich mit alltäglichen Erfahrungen, die jeder machen kann.
Kein Lebewesen kann seine Schicht verlassen Die Systematische Heuristik operiert mit dem Begriff der 'Schicht'. Die Null-Schicht ist die Ebene oder der Raum, in der der zu untersuchende Prozess abläuft. In Analogie dazu wird beim Konzept der Psychoheuristik die Null-Schicht als die Aktionsschicht des Subjekts bezeichnet, sein Aktionsradius. Das Subjekt agiert ausschliesslich in seiner Schicht (Thesen ab 103), durch Wechselwirkungen werden aber benachbarte Schichten beeinflusst. Neben, unter und über dem Aktionsradius des Subjekts existieren unendlich viele andere Schichten (= Subjekte) mit gleicher oder unterschiedlicher Komplexität: Plus Schicht: Höhere Komplexität, Minus Schicht: Geringere Komplexität. Diese Sichtweise ist auch hier anwendbar: Ein Vogelschwarm agiert über uns in einer anderen Schicht. Beobachten wir eine Horde von Pavianen, so leben sie in einer völlig anderen Schicht als die Menschen, die vor ihrem Gehege stehen. Es gibt zwar Beziehungen zwischen den qualitativ unterschiedlichen und hierarchisch strukturierten Schichten (Beispiel: Der Mensch liefert Futter), aber mehr auch nicht. Es scheint ein (noch nicht formuliertes) Naturgesetz zu sein, dass kein Lebewesen seine Schicht verlassen kann.
Ein Beispiel Ein Beispiel zeigt, wie diffizil die Diskussion um den freien Willen des Menschen ist. Wie bei der Diskussion um die Wahrheit (s.o.) verschwimmen die Konturen des Begriffs 'freier Wille' immer mehr, je mehr man sich darum bemüht, ihn in Worte zu fassen: Ein Pavian würde nie auf die Idee kommen, sich wie eine Hyäne zu verhalten. Sein Instinkt lässt ihn auch nicht auf solche Ideen kommen. Er bleibt ganz selbstverständlich Pavian, er bleibt in seiner 'Schicht'. Ein Mensch aber kann mit seinem Verstand über seine 'Schicht' hinaus denken und sich beispielsweise entscheiden, wie ein Pavian zu leben. Eigentlich hat er auch jede Freiheit, das zu tun, soweit das physisch überhaupt möglich ist. Warum aber tut ein Mensch so etwas nicht, obwohl er objektiv völlig frei ist, so eine Entscheidung zu treffen und zu realisieren? Er verhält sich nicht wie ein Pavian, obwohl er die Freiheit hätte, es wenigstens zu versuchen, weil er ein Mensch ist und sich wie ein Mensch verhält. Auch der Mensch bleibt in seiner 'Schicht'. Die Prägung auf das artgerechte, menschliche Verhalten schränkt den freien Willen ein, ohne dass es uns bewusst ist. Spannend wäre, einem einzelnen Vogel die Frage zu stellen, ob er bei seinen Flügen im Schwarm frei in seinen Entscheidungen ist. Ich nehme stark an, jeder Vogel würde behaupten, er sei völlig frei dorthin zu fliegen, wo er hinfliegen möchte. Genau das würde auch ein Mensch behaupten, wenn man ihn fragt, ob er einen freien Willen besitzt. Natürlich suggeriert ihm sein ICH, dass er völlig frei in seinen Entscheidungen ist. Die Grenzen, die selbstverständlich existieren, nimmt er überhaupt nicht mehr wahr. Es sind feste Settings, die das Gehirn nicht mehr in Frage stellt und die deshalb bei der Schnittstelle zur Aussenwelt, dem ICH, auch keine Rolle mehr spielen.
Thesen zum freien Willen des Menschen Unter
Bezug auf die Thesen zu schwierigen
Fragen und die Überlegungen zum Begriff Denken
Facit Auch ohne die Erkenntnisse der Hirnforscher scheint klar zu sein, dass es absolut gesehen einen freien Willen nirgends im Tierreich und auch beim Menschen nicht gibt, denn jedes soziale Lebewesen orientiert sich bei all seinen Entscheidungen am Verhalten seiner Artgenossen. Der Mensch ist zusätzlich noch den kulturellen Werten seiner Gemeinschaft unterworfen, die sein Verhalten dominieren, prägen und ständig aktualisieren. Innerhalb des artgerechten Verhaltens aber gibt es Spielraum. Er ist umso grösser, je komplexer das Verhaltensrepertoire ist. Dieser Spielraum ist besonders beim Menschen dem Verstand und dem freien Willen unterworfen. Es erscheint mir dabei unwesentlich, wer die Entscheidung primär trifft, den Spielraum auszunutzen, das Gehirn oder das ICH. Solange der Mensch die von seinem Gehirn (vielleicht) autonom getroffene Entscheidung als seine eigenen vertritt und ganz bewusst im Sinne dieser Entscheidung handelt, ist es ohne Belang, ob es sich dabei um einen 'gefühlten' oder einen tatsächlichen freien Willen handelt. Weder individuell noch als Gesellschaft wissen wir etwas mit der (tatsächlichen oder 'gefühlten') Freiheit anzufangen, die wir objektiv und Kraft unserer Vernunft eigentlich besitzen. Wir sind gefangen in unserer 'Schicht', in einem Korsett von Konventionen, Tabus, Sitten, Traditionen, Rücksichtnahmen und Angewohnheiten. Dieser Aspekt scheint mir viel wesentlicher zu sein als die Frage, ob das Gehirn in vielen Fällen ohne das Bewusstsein Entscheidungen trifft.
Weblinks und Bücher Gerhard
Roth Gerhard
Roth SPIEGEL-Artikel
SPIEGEL-Dossier
Hirnforschung www.fluisken.de
Freier Wille www.forum-grenzfragen.de
Gerhard
Roth www.aurora-magazin.at Rudolf
Sponsel Stefan
Schleim Michael
Pauen Hrsg.
v. Christian Geyer
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Jürgen Albrecht, 06. Januar 2005
Puerto Galera, Philippines
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Jürgen Albrecht, 27. Mai und 07. August 2008