Das
wissenschaftliche Weltbild
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Die Aufklärung Die Frage nach dem wissenschaftlichen Weltbild ist kein neuzeitliches Problem. Idealistische Philosophen des Zeitalters der Aufklärung (Immanuel Kant 1724-1804, Jean-Jacques Rousseau 1712-1778, Voltair 1697-1778, u.a.) stellten die Kraft der menschlichen Ratio in das Zentrum ihres Denkens und wandten sich gegen die mystisch-spekulativen Methoden und Anschauungen des Mittelalters. Überlieferte Werte, Institutionen, Konventionen und Normen wurden bewusst in Frage gestellt, um ihre rationale Legitimation zu überprüfen. Parallel, aber als Gegenpol dazu, sahen materialistische Philosophen (Denis Diderot 1713-1784, Paul-Henri Thiry d'Holbach 1723-1789, Julien Offray de la Mettrie 1709-1751, u.a.) die Materie als den Ursprung unserer Existenz an. Beide philosophischen Richtungen berufen sich auf griechische Philosophen der Antike, die solche Gedanken als erste ins Spiel gebracht haben (Platon 428-347 v.Chr., Aristoteles 384-322 v. Chr. u.a.). Die Sicht auf diese Welt wird nach den Grundsätzen der Aufklärung durch die Erkenntnisse der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, determiniert. Das wissenschaftliche Weltbild hat sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen ständig verändert, es ist im Detail strittig und immer im Wandel. Es gilt aber der entscheidende Grundsatz: Vernunft und Wissen vor Glaube. Weil der Gottesbeweis nicht geführt werden kann, ist im wissenschaftlichen Weltbild keinen Platz für Gott. Jede Art von Gott wird als das Produkt der menschlichen Vernunft angesehen. Atheismus und das wissenschaftliche Weltbild gehören notwendiger Weise zusammen und stehen konträr zu den mystisch-spekulativen Weltbildern der verschiedenen Religionen, aber auch zu idealistischen Vorstellungen.
Viele (Grund-) Fragen bleiben offen Das wissenschaftliche Weltbild ist unvollständig und es kann prinzipiell nie vollständig sein, weil die menschliche Erkenntnisfähigkeit begrenzt ist. Wir wissen heute viel darüber, wie gross das Universum ist, dass es aus Materie, Energie, Zeit, Raum und Information besteht und wie es sich seit dem Urknall entwickelt hat. Aber wir wissen beispielsweise nicht, was vor dem Urknall war und ob parallele Universen existieren. Wir wissen, wie sich das Leben evolutionär entwickelt hat, wir sind dabei den Gencode zu entschlüsseln und Gene zu manipulieren. Aber wir wissen nicht, wie Leben entstanden ist und ob andere Lebensformen existieren. Wir wissen viel, aber noch mehr Fragen sind offen. Wie und warum wurden die Naturkonstanten so gesetzt? Existieren Bereiche oder Umstände, in denen andere Naturgesetze herrschen? Was ist das Ganze und was ist ausserhalb von ihm? Läuft die Zeit immer mit gleicher Geschwindigkeit in eine Richtung? Was ist Information und wohin verschwinden Informationen? Wie entsteht Leben? Was ist die Realität? Auf viele solcher Fragen wird es nie eine Antwort geben können. Auch die von Engels postulierte 'Grundfrage der Philosophie' (die Frage nach der Existenz Gottes) muss heute relativiert werden. Zu dieser Grundfrage gehört für die Materialisten auch, dass die Welt erkennbar ist. Schon diese (digitale) Fragestellung ist irreführend. Es existiert nicht nur eine Grundfrage in der Philosophie, die möglichst noch mit einer Ja-Nein-Entscheidung zu beantworten ist. Neben der Materie existieren mindestens noch Energie, Zeit, Raum und Informationen. Ist beispielsweise die Frage, ob das die vollständigen Elemente des Ganzen sind, keine Grundfrage der Philosophie? Philosophen und Naturwissenschaftler können heute nicht einmal sagen, was Information ist! Sollte man mit dem heutigen Stand der Wissenschaft die marxistische Grundfrage der Philosophie (die Frage nach der Existenz Gottes) möglichst kurz beantworten, so müsste man sagen: Weder noch! Zwar haben sich materialistische Vorstellungen durchgesetzt (Das Sein bestimmt das Bewusstsein - Nicht umgekehrt). Aber die viel zu selbstsicheren Marxisten haben der Menschheit mit dem Historischen Materialismus und dem realen Sozialismus epochale Irrtümer beschert. Auf der anderen Seite spricht nichts für die Ursprünglichkeit des Geistes und die Existenz eines wie auch immer gearteten Gottes, aber es spricht auch nichts dagegen. Solche Produkte des menschlichen Denkens sind Fiktionen, die sich einer rationalen Analyse entziehen. Kant hat die gleiche Überzeugung deutlich eleganter und diplomatischer ausgedrückt: Für ihn existierten zwei Welten. Das 'Ding an sich' und seine 'Erscheinung' (Wirkung). Menschen sind nur in der Welt der Erscheinungen zu Hause. Zur Welt der Dinge an sich haben sie keinen Zugang. Diese Welt bleibt der menschlichen Vernunft für immer verschlossen (deshalb auch 'Kritik der reinen Vernunft'). Menschen sind prinzipiell nicht in der Lage, die Dinge an sich zu erkennen (s.u.). Auf dieser Grundlage zog sich Kant auch sehr geschickt gegenüber Gott aus der Affäre: Ganz offenbar existiert Gott nicht in der uns zugängigen Welt der Erscheinungen. Er kann nur ein Ding an sich sein, oder sogar über den Dingen stehen. Damit aber ist er unserer Wahrnehmung entzogen und jeder Gottesbeweis ist prinzipiell unmöglich. Unhaltbar ist heute auch die wie ein Glaubenssatz vertretene Überzeugung der Marxisten, dass die Welt erkennbar sei. Dagegen stehen entscheidende Fakten: Die eingeschränkte Wahrnehmbarkeit des Menschen, seine Unfähigkeit, objektiv wahre Aussagen zu treffen und die im Vergleich zur Natur extrem begrenzte Zeit, die dem Menschen nur zur Verfügung steht. Erkennbarkeit der Welt bedeutet aus meiner Sicht mindestens, die Struktur der existenten Informationen zu kennen. Definiert man so die Erkennbarkeit der Welt wird klar, dass Menschen diese Welt nicht erkennen können. Das wissenschaftliche Weltbild muss deshalb immer unvollständig bleiben. Kant hat bereits vor 250 Jahren unser entscheidendes Handicap beschrieben: 'Da der Mensch nur Eindrücke von den Dingen hat, kann er nicht erkennen, wie sie an sich sind, d. h. unabhängig von seiner eigenen Sinneswahrnehmung und seiner Auffassung von Raum und Zeit. Damit erkennt er nur Erscheinungen des Dinges und nicht das Ding an sich.' In diesem Satz ist all unsere Beschränktheit zusammengefasst. Sie gilt aber nicht nur für die Dinge, sondern auch für die Produkte der menschlichen Vernunft, also auch für alle unsere Vorstellungen von Gott, von Seele, Erlösung und Unsterblichkeit. Es wird Menschen immer verwehrt bleiben, darüber Aussagen zu treffen, die wahr im Sinne der objektiven Realität sind.
Einsichten, Grundsätze und Gebote Im Weltbild der Naturwissenschaftler geht es ausschliesslich um die Natur. Je mehr naturwissenschaftliche Erkenntnisse, umso unbegreiflicher wird das Ganze. Komplexität und Ordnung sind so faszinierend an der Natur. Überall, wo man hinguckt: Komplexität und Ordnung, ob im Universum, in der Mathematik oder im Mikroskop. Was hat diese Ordnung geschaffen und so viel Intelligenz investiert?! Immer wieder schlägt Ordnung in Unordnung um (und umgekehrt!). Warum und wohin verschwindet die Information, die in der Ordnung existierte? Viel mehr Fragen, als Antworten. Uns bleiben nur Ehrfurcht und Demut gegenüber der Natur. Und es geht um die eigene Position: Was bin ICH gegenüber der Natur, was kann ich bewirken, wie kann ich im Universum Spuren hinterlassen? Je länger man sich mit diesen Fragen beschäftigt, letztlich gelangt man zu der Einsicht, dass wir gegenüber der Natur NICHTS sind. Menschen stehen nicht ausserhalb der Natur. Menschen sind Bestandteil und Produkt der laufenden Evolution des Lebens. Menschen können in der Natur soviel bewirken, wie eine Ameise bewirken kann. Menschen sind nicht auserwählt, sie haben keine Botschaft, keine Mission. Wir wissen nicht, was wahr und richtig ist und was alles möglich oder unmöglich ist, denn mit Kant erkennt der Mensch nur Erscheinungen des Dinges und nicht das Ding an sich. Aber wir Menschen sind ständig in Gefahr, uns selber zu überschätzen. Diese Einsichten greifen tief in das tägliche Leben ein und sie bewirkt vor allen Dingen Toleranz und Friedfertigkeit. Es existiert NICHTS für das es sich lohnt zu missionieren, Gewalt einzusetzen und Kriege zu führen. Mit diesen Einsichten ist es auch möglich, aus dem heute mit den Wissenschaften erkennbarem Weltbild Grundsätze einer wissenschaftlichen Sicht auf die uns umgebende Welt abzuleiten. Das zu tun ist absolut nicht nur das Vorrecht von Religionen (Beispiele, ohne Klassifikation und Vollständigkeit):
Diese Grundsätze sind keine absoluten Wahrheiten, weil es die für Menschen nicht gibt. Insofern handelt es sich bei solchen Grundsätzen auch um 'Glaubenssätze', deren Qualität nicht besser ist als der Satz: 'Ich glaube an die Auferstehung Christi.' Durch wissenschaftliche Erkenntnisse wird nur die Wahrscheinlichkeit ihres Wahrheitsgehaltes grösser.
Mit dieser rationalen Sicht auf die Welt und mit Werten wie Toleranz, Friedfertigkeit, Ehrfurcht, Respekt und Demut kann man ohne Schwierigkeiten vernünftige Gebote für den Umgang der Menschen miteinander ableiten. Auch das ist kein Vorrecht von Religionen (Beispiele, ohne Klassifikation und Vollständigkeit):
*) Der Wahlspruch der Aufklärung: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!" (Kant) Interessant,
dass diese Gebote - die doch so vernünftig erscheinen -
Viele vernünftige Menschen haben
über solche Leitbilder nachgedacht.
Der 'aufgeklärte Staat' Wäre man in der Lage, einen 'aufgeklärten Staat' zu gründen, könnte man nach diesen Grundsätzen leben und solche vernünftigen Gebote auch umsetzen. Das ist die auf Wissenschaft und Vernunft basierende Gesellschaftsutopie. Schon die Philosophen im antiken Griechenland haben sich mit Grundsätzen und Regeln friedfertiger Staaten befasst. Auch in der Philosophie der Aufklärung besassen die Rechts- und Staatslehre sowie die allgemeinen Menschenrechte eine besondere Bedeutung. Diese Ideen haben die politische Wirklichkeit der letzten zweihundert Jahre entscheidend verändert. Über den aufgeklärten Absolutismus, die Französische Revolution und den Dialektischen Materialismus (Karl Marx 1818-1883, u.a.) hat die geistesgeschichtliche Epoche der Aufklärung zur rechtsstaatlichen Demokratie, zu Oligarchie und Plutokratie, zu diktatorischen Regimen (Nationalsozialismus) und sogar zu sozialistischen Staaten geführt. Der Pluralismus scheint das Optimum einer (unter günstigen Bedingungen) realisierbaren Staatsform zu sein. Der Sozialismus (mit seiner 'wissenschaftlichen Weltanschauung'), aber auch die Demokratie haben sich als labile Utopien erwiesen (Zusammenbruch des Sozialistischen Lagers, Pervertierung der Demokratie in den USA: Gewalttätiges 'Nation-Building' auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak). Die auf Gewalt basierende Diktatur (in vielfältig abgewandelter Ausführung) scheint die einzig stabile Staatsform zu sein, in der Menschen zusammen leben können.
Religionen sind effektiver Religion gehört zu den frühesten Kulturleistungen der Menschen. Damit schafft sich der Mensch hoch effektive Verfahren für die (scheinbare) Lösung existentieller Probleme: Eine mythische Story, Glaubenssätze, Wertvorstellungen, Tabus und Rituale bilden ein geschlossenes Denkgebäude, das als Weltbild fungiert. Religion gibt auf schwierigste Fragen einfache Antworten: Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Jenseits, nach Wertmassstäben und Verhaltensnormen. Aber auch in jeder Notlage ist eine Religion Stütze, bietet Trost und Geborgenheit. Entscheidende Stärke aller Religionen ist das Tabu, sie mit Vernunft zu hinterfragen. Mit diesem genialen Axiom können sich die Gläubigen dauerhaft in eine andere, heile Welt versetzen. Nur so kann sich auch ein Aussenstehender in religiöse Glaubenssätze, Tabus und Riten einfühlen (Beispiel s.u.). Besonders effektiv sind Religionen, die sich auf personifizierte Götter berufen. Aus zwei Gründen eignen sie sich hervorragen dazu, existentiellen Fragen zu beantworten: Erstens wird keine Bildung vorausgesetzt. Auch Analphabeten können glauben, gerade sie. Je weniger Fragen der Verstand stellt, umso besser gelingt es zu glauben. Zweitens kann man jede Verantwortung für das eigene Handeln, einschliesslich aller Konsequenzen daraus, diesem personifizierten Gott zuschieben. Unmündigkeit und Hörigkeit scheinen elementarem menschlichen Verhalten wesentlich mehr entgegen zu kommen, als selbständiges, vorausschauendes Handeln und die Übernahme von Verantwortung. Das Sündenbock-Prinzip ist ein exemplarisches Beispiel dafür: Ich war es nicht. Es sind immer die anderen gewesen. Der Atheismus und die wissenschaftliche Sicht auf die Welt bedeutet im Endeffekt genau die Umkehrung der religiösen Vorstellungen: ICH anstelle von GOTT. 'Ich Dich ehren? Wofür ...?!' (Goethe). ICH bin für mein gesamtes Leben verantwortlich. Es existiert niemand, auf den ich diese Verantwortung abladen kann. Nur ich bin verantwortlich für alles, was ich beeinflussen kann. Keiner tut etwas für mich, wenn ich es nicht alleine tue. Niemand behütet mich, wenn ich mich nicht selber schütze. Alles hat keinen Sinn, wenn ich meinem Tun keinen Sinn gebe. Niemand hält mich auf, wenn ich mein Ziel nicht aus dem Auge lasse. Niemand treibt mich an, wenn mein eigener Antrieb erlahmt. Der Extremfall: Ich bin das Universum. Wenn ich das Universum nicht mehr denke, existiert es nicht mehr. Neben so viel Eigenverantwortung und der grenzenlosen Freiheit der Vernunft ist auch noch die Tatsache zu verkraften, dass das ICH genau so ein Konstrukt des menschlichen Wahrnehmungssystems ist, wie jede Vorstellung von Gott es ist. Es ist deutlich schwerer, mit diesem rationalen Weltbild zu leben, als mit einer Religion. Auf einen personifizierten Gott kann man alles abwälzen, hier muss man alles alleine tun. Man muss mindestens 25 Jahre seinen Verstand qualifizieren, um endlich die Grundzüge des wissenschaftlichen Bildes von dieser Welt zu sehen. Auf der anderen Seite braucht man nur zu glauben und je weniger man denkt, desto einfacher ist der Glaube an einen guten Gott. Sehr interessant ist die Frage, warum das wissenschaftliche Weltbild trotz des in den letzten zwei Jahrhunderten deutlich gewachsenen Bildungsniveaus, den Religionen nie wirklich Konkurrenz machen konnte. Die Antwort ist eindeutig: Menschen stehen ihren animalischen Vorfahren näher, als sie ahnen. Sie werden viel mehr von Emotionen als von ihrer Vernunft dominiert. Das Mystische, Unerklärbare, Geheimnisvolle fasziniert Menschen deutlich mehr, als die naturwissenschaftliche Realität. Ausserdem: Es ist nicht des Menschen Natur, geistig zu arbeiten (Johannes Müller). Es ist aber offenbar auch nicht seine Natur, an sich selber zu arbeiten, um seinen Verstand zu qualifizieren: Menschen müssen unter Druck gesetzt werden, damit sie etwas für ihre und die Bildung ihrer Kinder tun. Bildung ist anstrengend, aber sie hebt das Weltbild auf eine höhere, friedlichere Stufe.
Aktualisiert: Tawala, 08.04.03, 12.04.03, 23.04.03; Berlin, 28.07.03, 14.11.03, 16.11.04, Tabinay, 31.01.05, Berlin, 11.05.13
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Jürgen Albrecht, Tawala, 30. März 2003
Ein klassischer Glaubenssatz
Die
vielen Fragen beispielsweise zu diesem Glaubenssatz und Ritus
sind verbotene Fragen.
Man stellt sie einfach nicht.